Ex-Depp des Monats: Pierre Piccinin

von Bernard Schmid

5/6-12

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Belgien-Syrien: Wie ein (im buchstäblicher Sinne beider Worte:) nützlicher Idiot des syrischen Folterregimes sich inzwischen eines Anderen besonnen hat. Oder: Wer nicht verstehen wollte, musste fühlen...

Hinterher ist man immer klüger. Am eigenen Leib spüren, dass seine bisherigen Thesen eher ziemlich abwegig waren, musste der belgische Lehrer für Geschichte und Politik Pierre Piccinin. Bis vor kurzem war er eine der lautstärksten Stimmen, die nach dem Ausbruch der Rebellion in Syrien im März 2011 noch eine Lanze für das Regime Bascher Al-Assads brachen. Und dies im eher „linken“ Milieu.

Die Massenproteste und Aufstände seien hauptsächlich auf eine gemischt imperialistisch-islamistische Verschwörung gegen ein „laizistisches Regime“ zurückzuführen, behauptete er. Im Juli 2011 fuhr er etwa mit einer offiziellen Erlaubnis nah Syrien. Es sei beachtet: (1.) Der Mann spricht kein Arabisch; (2.) Er war noch nie zuvor, vor Ausbruch des Bürgerkriegs, in Syrien gewesen; und (3.) Er lehnte es ab, vor Antritt seiner Reise jeglichen Kontakt mit der syrischen Opposition zu knüpfen, um „ohne Vorurteile“ dorthin zu fahren. Sic.

Und so brach unser Don Quichotte in ein Land mitten im Bürgerkrieg auf. Und berichtete: „Das Bild Syriens, das in den westlichen Medien geboten wird – das Bild eines Landes im Chaos, in dem regelmäßig Riesendemonstrationen mit mehreren Hunderttausend Menschen stattfinden – entspricht in keiner Weise der beobachtbaren Realität vor Ort. Der demokratische Protest der Anfänge, der schon damals eine Minderheit bildete (...) beschränkt sich heute auf einige periphere Viertel mancher Großstädte, wo sich sporadisch ein paar Hundert, manchmal ein paar Tausend, Menschen versammeln. (...) Diese Demonstrationen haben kaum Folgen für das Regime.“ Stattdessen gebe es auf Seiten der Regierungsgegner hauptsächlich „Islamisten“, „bewaffnete Banden“, „Stadtguerilla“ probende Terroristen. Aber auch diese könnten dem Staat letztendlich nicht gefährlich werden.

In Belgien zurück, publizierte Piccinin u.a. bei Investig’Action, einem Medium des so genannten „Journalisten“ Michel Collon. Letzterer ist eines Zeichens einer der Chefideologen der „Partei der Arbeit Belgiens“ (PTB). Er publiziert Bücher, in denen die Verbrechen des Genossen Josef Stalin als antikommunistische Lügen widerlegt werden. (Vorsicht Satire!; das Ganze ist bei diesen Leuten aber ziemlich ernsthaft gemeint.) Und verteidigt sämtliche Regimes, wenn sie nur Probleme mit den USA haben. Unter ihnen das syrische.

Piccinin wetterte gegen die böse regimefeindliche Propaganda und wollte auch sonst Einiges besser wissen als andere Quellen. So behauptete er entgegen allen anderen Publikationen, er habe entdeckt, dass die Turkomanen – türkischsprachige Einwohner Syriens – nicht, wie die gängige Annahme lautet, weniger als ein Prozent der Bevölkerung ausmachten. Sie seien vielmehr „3,5 bis 6 Millionen“ und damit „15 bis 20 Prozent der Gesamtbevölkerung“. Das war nicht nur mathematisch ein wenig schief, Picinin stand auch sonst mit seiner Behauptung allein auf weiter Flur.

Im Dezember 2011 fuhr Piccinin zum zweiten Mal nach Syrien, dieses Mal mit einer offiziellen Einladung des syrischen „Informations-“, d.h. Propagandaministeriums. Dies allein müsste einen abschrecken lassen.

Am 15. Mai dieses Jahres nun fuhr der gute Mann zum dritten Mal mit einem offiziellen Visum nach Syrien. Doch diese Reise war die Reise zu viel. Dieses Mal wurde der belgische Oberstufenlehrer in Tall Kalakh in der Nähe der libanesishen Grenze an einer Straßensperre verhaftet. Am 17. Mai 12. Zuvor hatte er Rebellen der Freien Syrischen Armee getroffen. Er wurde in ein Auto der „Sicherheits“dienste eingeladen und in ein Gefängnis in Homs verfrachtet.

Dort musste er gar unerquickliche, und von ihm vielleicht unerwartete, Beobachtungen machen. „Am Anfang waren da eine Reihe von Leuten, die im Gang ausgestreckt waren. Anfänglich schlossen sie“ – die Wärter der Haftanstalt – „die Türen, aber dann achteten sie gar nicht mehr auf mich. Die Leute kamen tot vom Verhör zurück. Ich dachte mir, dass sie mich nicht wieder freilassen, nachdem ich das gesehen habe, dass es aus sei für mich. Die Leute sind im Gang festgebunden, dann kommt die Folter mit Elektrizität, man schlägt sie tot. Die Leute starben im Flur. Es war Folter am Fließband.“

Piccinin wird in der Nacht zum 19. Mai 12 zusammengeschlagen, anscheinend auch mit Strom gefoltert, doch in den folgenden Tagen nach Damaskus und am 22. Mai in eine Zelle am Flughafen verlegt. Am 23.05.12 wurde er aus dem Land abgeschoben. Wie er selbst berichtet, hatten zuvor seine Leidensgenossen im Gefängnis von Homs Geld für ihn gesammelt, um bei einem korrupten Wächter ein Telefon zu besorgen – dieses erlaubt ihm, die belgische Botschaft einzuschalten. Dadurch wurde er möglicherweise gerettet. Er darf ausreisen, nachdem er Aussagen über Bilder der Rebellen auf seinem USB-Stick getätigt hat.

Bei seiner Rückkehr erzählt Piccinin von seinen Beobachtungen beim belgischen Fernsehsender RTBF und in der Zeitung La Libre. Scheinbar weise geworden, räumt er bezüglich seiner bisherigen Positionen ein: „Ich glaube, dass ich mich geirrt habe. Man muss, vor allem in einem Fall wie diesem, seine Fehler anerkennen können.“

Auf dass all die Idioten auf der Linken, die noch an die Mär vom guten-laizistische-und- quasi-progressiven Regime glauben oder aber moralpazifistisch von der Notwendigkeit von „Verhandlungen“ zwischen Opposition und Regime – statt seines Sturzes durch die syrischen Massen - daher schwafeln, es sich gesagt sein lassen. (Was gibt es eigentlich mit einem folternden Faschisten zu verhandeln, abgesehen vielleicht von den Modalitäten seiner Bestattung, über die man meinetwegen reden mag?)

Problematische neue Lösung – nach dem alten Mist von gestern

Auf einem anderen Blatt steht, was der geläuterte Piccinin inzwischen als Lösungsansatz zum Besten gibt: Er tritt nämlich inzwischen auch für eine militärische Intervention in Syrien ein. Aber ist das wirklich die taugliche Lösung? Stimmt es, dass er nach seinem (buchstäblichen) Damaskus-Erlebnis sozusagen vom Saulus zum Paulus wurde – oder führte er uns lediglich vom Regen in die Traufe? Immerhin scheint festzustehen, dass Piccinin selbst seine Position derart um 180 Grad gewandelt hat, um „ein Versprechen gegenüber meinen Zellengenossen zu erfüllen“, die mit ihm inhaftiert waren, mit ihm litten und ihm allem Anschein nach aus dem Gröbsten herausgeholfen haben. Um ihn „in Europa berichten zu lassen, was uns widerfährt“. So weit ist das durchaus nicht unsympathisch – besser jedenfalls als seine vormalige besserwisserische, arrogante Haltung gegenüber syrischen Oppositionellen und seine Kumpanei mit ihrer Folterern.

Nur bedeutet dies noch nicht, dass eine militärische Intervention (durch wen?, in wessen Interesse?) deswegen unbedingt eine gute, oder auch nur eine nicht gar so schlechte, Lösung sen muss. Um keinerlei Missverständnis aufkommen zu lassen: Weggucken und komplizenhaftes Schweigen über ein Regime, das massenhaft Menschen zu Tode foltert, ist erst recht keine gute Lösung. Würde die Linke weltweit über einen halbwegs handlungsfähigen, und wenigstens über ein paar Machtmittel verfügenden, internationalen Zusammenschluss verfügen – diese revolutionäre Internationale müsste handeln. Jenseits der Interessen imperialistischer Staaten ebenso wie jenseits der Interessen des Folterregimes, bzw für dessen aktive Zerschlagung. Sei es durch Waffenlieferungen an Rebellen (optimalerweise nicht an die radikal-islamistischen Gruppen, die dort ebenfalls aktiv sind und die ihren Krieg gegen das Regime als einen solchen der Rechtgläubigen gegen „Alawiten = Schiiten“ auffassen), sei es durch Entsendung internationaler Brigaden.

Über solche Möglichkeiten verfügen wir derzeit nicht. Aber nutzen wir wenigsten die vorhandenen Möglichkeiten zur Unterstützung einer Opposition (nein, nicht der sunnitischen Glaubensfanatiker), die es gibt – von der Lieferung von Medikamenten über jene von SIM-Karten bis hin zur Veröffentlichung von Informationen. Unterstützen wir die Kampagne ,Adopt a revolution’! Und fahren wir jenen über das aufgerissene Maul, die heute reden wie gestern noch Pierre Piccinin.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Text vom Autor für diese Ausgabe.