Hinterher ist man immer klüger. Am
eigenen Leib spüren, dass seine bisherigen Thesen eher
ziemlich abwegig waren, musste der belgische Lehrer für
Geschichte und Politik Pierre Piccinin. Bis vor kurzem
war er eine der lautstärksten Stimmen, die nach dem
Ausbruch der Rebellion in Syrien im März 2011 noch eine
Lanze für das Regime Bascher Al-Assads brachen. Und dies
im eher „linken“ Milieu.
Die Massenproteste und Aufstände
seien hauptsächlich auf eine gemischt
imperialistisch-islamistische Verschwörung gegen ein
„laizistisches Regime“ zurückzuführen, behauptete er. Im
Juli 2011 fuhr er etwa mit einer offiziellen Erlaubnis
nah Syrien. Es sei beachtet: (1.) Der Mann spricht kein
Arabisch; (2.) Er war noch nie zuvor, vor Ausbruch des
Bürgerkriegs, in Syrien gewesen; und (3.) Er lehnte es
ab, vor Antritt seiner Reise jeglichen Kontakt mit der
syrischen Opposition zu knüpfen, um „ohne Vorurteile“
dorthin zu fahren. Sic.
Und so brach unser Don Quichotte in
ein Land mitten im Bürgerkrieg auf. Und berichtete:
„Das Bild Syriens, das in den westlichen Medien
geboten wird – das Bild eines Landes im Chaos, in dem
regelmäßig Riesendemonstrationen mit mehreren
Hunderttausend Menschen stattfinden – entspricht in
keiner Weise der beobachtbaren Realität vor Ort. Der
demokratische Protest der Anfänge, der schon damals eine
Minderheit bildete (...) beschränkt sich heute auf
einige periphere Viertel mancher Großstädte,
wo sich sporadisch ein paar Hundert, manchmal ein paar
Tausend, Menschen versammeln. (...) Diese
Demonstrationen haben kaum Folgen für das Regime.“
Stattdessen gebe es auf Seiten der Regierungsgegner
hauptsächlich „Islamisten“, „bewaffnete Banden“,
„Stadtguerilla“ probende Terroristen. Aber auch diese
könnten dem Staat letztendlich nicht gefährlich werden.
In Belgien zurück, publizierte
Piccinin u.a. bei Investig’Action, einem
Medium des so genannten „Journalisten“ Michel Collon.
Letzterer ist eines Zeichens einer der Chefideologen der
„Partei der Arbeit Belgiens“ (PTB). Er publiziert
Bücher, in denen die Verbrechen des Genossen Josef
Stalin als antikommunistische Lügen widerlegt werden.
(Vorsicht Satire!; das Ganze ist bei diesen Leuten aber
ziemlich ernsthaft gemeint.) Und verteidigt sämtliche
Regimes, wenn sie nur Probleme mit den USA haben. Unter
ihnen das syrische.
Piccinin
wetterte gegen die böse regimefeindliche Propaganda und
wollte auch sonst Einiges besser wissen als andere
Quellen. So behauptete er entgegen allen anderen
Publikationen, er habe entdeckt, dass die Turkomanen –
türkischsprachige Einwohner Syriens – nicht, wie die
gängige Annahme lautet, weniger als ein Prozent der
Bevölkerung ausmachten. Sie seien vielmehr „3,5 bis 6
Millionen“ und damit „15 bis 20 Prozent der
Gesamtbevölkerung“. Das war nicht nur mathematisch ein
wenig schief, Picinin stand auch sonst mit seiner
Behauptung allein auf weiter Flur.
Im Dezember 2011
fuhr Piccinin zum zweiten Mal nach Syrien, dieses Mal
mit einer offiziellen Einladung des syrischen
„Informations-“, d.h. Propagandaministeriums. Dies
allein müsste einen abschrecken lassen.
Am 15. Mai dieses Jahres nun fuhr der
gute Mann zum dritten Mal mit einem offiziellen Visum
nach Syrien. Doch diese Reise war die Reise zu viel.
Dieses Mal wurde der belgische Oberstufenlehrer in Tall
Kalakh in der Nähe der libanesishen Grenze an einer Straßensperre
verhaftet. Am 17. Mai 12. Zuvor hatte er Rebellen der
Freien Syrischen Armee getroffen. Er wurde in ein Auto
der „Sicherheits“dienste eingeladen und in ein Gefängnis
in Homs verfrachtet.
Dort musste er gar unerquickliche,
und von ihm vielleicht unerwartete, Beobachtungen
machen. „Am Anfang waren da eine Reihe von Leuten,
die im Gang ausgestreckt waren. Anfänglich schlossen
sie“ – die Wärter der Haftanstalt – „die
Türen, aber dann achteten sie gar nicht mehr auf mich.
Die Leute kamen tot vom Verhör zurück. Ich dachte mir,
dass sie mich nicht wieder freilassen, nachdem ich das
gesehen habe, dass es aus sei für mich. Die Leute sind
im Gang festgebunden, dann kommt die Folter mit
Elektrizität, man schlägt sie tot. Die Leute starben im
Flur. Es war Folter am Fließband.“
Piccinin wird in
der Nacht zum 19. Mai 12 zusammengeschlagen, anscheinend
auch mit Strom gefoltert, doch in den folgenden Tagen
nach Damaskus und am 22. Mai in eine Zelle am Flughafen
verlegt. Am 23.05.12 wurde er aus dem Land abgeschoben.
Wie er selbst berichtet, hatten zuvor seine
Leidensgenossen im Gefängnis von Homs Geld für ihn
gesammelt, um bei einem korrupten Wächter ein Telefon zu
besorgen – dieses erlaubt ihm, die belgische Botschaft
einzuschalten. Dadurch wurde er möglicherweise gerettet.
Er darf ausreisen, nachdem er Aussagen über Bilder der
Rebellen auf seinem USB-Stick getätigt hat.
Bei seiner Rückkehr erzählt Piccinin
von seinen Beobachtungen beim belgischen Fernsehsender
RTBF und in der Zeitung La Libre.
Scheinbar weise geworden, räumt er bezüglich seiner
bisherigen Positionen ein: „Ich glaube, dass ich
mich geirrt habe. Man muss, vor allem in einem Fall wie
diesem, seine Fehler anerkennen können.“
Auf dass all die
Idioten auf der Linken, die noch an die Mär vom
guten-laizistische-und- quasi-progressiven Regime
glauben oder aber moralpazifistisch von der
Notwendigkeit von „Verhandlungen“ zwischen Opposition
und Regime – statt seines Sturzes durch die syrischen
Massen - daher schwafeln, es sich gesagt sein lassen.
(Was gibt es eigentlich mit einem folternden Faschisten
zu verhandeln, abgesehen vielleicht von den Modalitäten
seiner Bestattung, über die man meinetwegen reden mag?)
Problematische neue Lösung – nach dem alten Mist von
gestern
Auf einem anderen Blatt steht, was
der geläuterte Piccinin inzwischen als Lösungsansatz zum
Besten gibt: Er tritt nämlich inzwischen auch für eine
militärische Intervention in Syrien ein. Aber ist das
wirklich die taugliche Lösung? Stimmt es, dass er nach
seinem (buchstäblichen) Damaskus-Erlebnis sozusagen vom
Saulus zum Paulus wurde – oder führte er uns lediglich
vom Regen in die Traufe? Immerhin scheint festzustehen,
dass Piccinin selbst seine Position derart um 180 Grad
gewandelt hat, um „ein Versprechen gegenüber
meinen Zellengenossen zu erfüllen“, die mit ihm
inhaftiert waren, mit ihm litten und ihm allem Anschein
nach aus dem Gröbsten herausgeholfen haben. Um ihn
„in Europa berichten zu lassen, was uns widerfährt“.
So weit ist das durchaus nicht unsympathisch –
besser jedenfalls als seine vormalige besserwisserische,
arrogante Haltung gegenüber syrischen Oppositionellen
und seine Kumpanei mit ihrer Folterern.
Nur bedeutet
dies noch nicht, dass eine militärische Intervention
(durch wen?, in wessen Interesse?) deswegen unbedingt
eine gute, oder auch nur eine nicht gar so schlechte,
Lösung sen muss. Um keinerlei Missverständnis aufkommen
zu lassen: Weggucken und komplizenhaftes Schweigen über
ein Regime, das massenhaft Menschen zu Tode foltert, ist
erst recht keine gute Lösung. Würde die Linke weltweit
über einen halbwegs handlungsfähigen, und wenigstens
über ein paar Machtmittel verfügenden, internationalen
Zusammenschluss verfügen – diese revolutionäre
Internationale müsste handeln. Jenseits der Interessen
imperialistischer Staaten ebenso wie jenseits der
Interessen des Folterregimes, bzw für dessen aktive
Zerschlagung. Sei es durch Waffenlieferungen an Rebellen
(optimalerweise nicht an die radikal-islamistischen
Gruppen, die dort ebenfalls aktiv sind und die ihren
Krieg gegen das Regime als einen solchen der
Rechtgläubigen gegen „Alawiten = Schiiten“ auffassen),
sei es durch Entsendung internationaler Brigaden.
Über solche Möglichkeiten verfügen
wir derzeit nicht. Aber nutzen wir wenigsten die
vorhandenen Möglichkeiten zur Unterstützung einer
Opposition (nein, nicht der sunnitischen
Glaubensfanatiker), die es gibt – von der Lieferung von
Medikamenten über jene von SIM-Karten bis hin zur
Veröffentlichung von Informationen. Unterstützen wir die
Kampagne ,Adopt a revolution’! Und fahren
wir jenen über das aufgerissene Maul, die heute reden
wie gestern noch Pierre Piccinin.
Editorische Hinweise
Wir erhielten den Text vom Autor für
diese Ausgabe.