„Algerien
ist ein seltsames Land, in dem man eine Jahreszeit glatt
überspringt“, lästern viele Algerier. Gemeint
ist der so genannte Arabische Frühling, den man in dem
nordafrikanischen Land gewissermaßen ausgeklammert habe.
Einige Tage nach der Parlamentswahl
vom 10. Mai 2012, deren Ergebnisse offiziell schon am
Tag darauf bekannt gegeben wurden - früher musste man
darauf oft eine satte Woche warten -, geben manche
Algerier/innen sich immer noch erstaunt. In ihren Augen
hätte es dieses Mal aber wirklich einen
Regierungswechsel geben können.
Parteien, die wie En-Nahdha
oder der marokkanische PJD oft als moderat islamistische
Kräfte bezeichnet werden, hatten Ende Oktober 11 und
Ende November 11 erst die Wahlen in Tunesien und danach
jene in Marokko und Ägypten gewonnen. Vergleichbar
ausgerichtete politische Kräfte in Algerien erhofften
sich davon nun einen „Ansteckungs-“ oder
Nachahmungseffekt, und rechneten daraufhin fest mit
ihrem eigenen Wahlsieg. Allerdings wurde nichts daraus.
Im Januar d.J. hatte die seit 1999 in
allen algerischen Regierungskabinetten vertretene Partei
MSP-Hamas, die den Muslimbrüdern in Ägypten nahe steht,
überraschend das als Alliance présidentielle
bezeichnete Regierungsbündnis verlassen. Allerdings
nicht vollständig: Ihre vier Minister blieben alle auch
weiterhin in ihren Ämtern. Unter ihnen der Bau- und
Infrastrukturminister Amar Ghoul. Ein bartloser
Softcore-Islamist, dem besonders oft Beteiligung an den
äußerst verbreiteten Korruptionspraktiken nachgesagt
wird. Sein Job war in den letzten Jahren ein besonders
exponierter, denn öffentliche Bauaufträge im
Infrastrukturbereich gab und gibt es zuhauf. Dank eines
seit 2007 mehr oder minder hoch stehenden Rohölpreises
sitzt die Staatsmacht auf prall gefüllten Geldkoffern
und hat derzeit 200 Millionen Dollar Devisenreserven bei
der Weltbank liegen. Seine früher erdrückenden
Auslandsschulden dagegen hat der algerische
Zentralstaat, zum Teil sogar vor der Frist, inzwischen
abbezahlt. Der Erdölpreis machte es möglich. Aber mehr
noch als die Golfmonarchien, deren einseitige
Abhängigkeit von der Ölrente sprichwörtlich ist, bleibt
er auf Gedeih und Verderb von diesem Rohstofferlös
abhängig. Wehe dem Land an dem Tag, an dem Erdöl- und
Erdpreis abstürzen oder die Welt gar zur Nutzung anderer
Treib- und Heizstoffe übergehen sollte.
„Die
Regierung verteilt zwar hin und wieder Fische, aber
Angeln dürfen wir nicht selbst, wir sind total
entmündig“, kommentiert dies ein junger
Arbeitsloser im westalgerischen Oran. Dort hat die
Regierung in den letzten Jahren riesige Neubaukomplexe
in der Nähe zwischen dem Flughafen As-Senia und der
Altstadt lanciert. Viele halbfertige Hochhausbauten
sieht man von der Stadtautobahn aus. Aber wie man als
Erwerbsloser dort regelmäßig eine Miete bezahlen solle,
fragt sich der junge Mann.
Auch in Luxus wurde eifrig
investiert: Dort, wo die Straße von der Ebene hinter der
Küste zum Meer hin abzufallen beginnt, wurde etwa ein
gigantischer Hotelneubau hingestellt. Eine Übernachtung
kostet mindestens 100 Euro, knapp so viel wie ein
algerischer Mindestlohn im Monat beträgt, und ein
Abendessen kostet umgerechnet 33 Euro. Nordine arbeitet
dort als Angestellter. Für ihn handelt es sich um eine
Lebensperspektive, während viele seiner Kollegen
nebenher studieren und dabei von einem Leben in Europa
träumen. „Monatlich verdiene ich hier rund 270
Euro“, erzählt aber, „aber eine
Anderthalb- bis Zweizimmerwohnung in der Stadt kostet
allein 200 Euro. Da ich keine Familie habe, wohne ich
mit meiner Schwester zusammen, die ein
Kosmetikunternehmen betreibt. Allein zu wohne wäre mir
finanziell unmöglich.“ Und verheiratet ist er
nicht: „Uh, schwierig! Die Frauen sind heute
derart selbstbewusst und wählerisch geworden... Mein
Bruder war verheiratet, aber seine Frau hat sich
scheiden lassen. Ein anderer Bruder heiratete, aber drei
Monate dem Eheschluss mit einer scheinbar streng
muslimischen Freund stellte sich heraus, dass sie seit
langem einen Freund hatte und mit diesem auch weiterhin
eine Beziehung unterhielt...“
Nordine geht es aber materiell noch
relativ gut dabei, er hat einen Job im Spitzensegment
erwischt. Über die Wahlen zu diskutieren, hat er keine
Lust. Ebenso wenig wie Mohammed, der Juraprofessor: Auch
er versprach sich von vornherein nichts von ihnen.
„Nur wenn das ganze System gehen würde, dann könnte
sich vielleicht etwas ändern. Manche hoffen darauf. Aber
andere haben Angst davor: Wir hatten die 1990er Jahre,
den Bürgerkrieg, den Terrorismus. Viele wollen in erster
Linie, dass sich das um keinen Preis wiederholt. Wir
sind ein Volk, das Veränderungen immer in gewaltsamen
Brüchen erlebt hat. Heute fürchten sich viele Menschen
davor.“
Darauf baute auch das
Regierungslager, das Warnungen vor Chaos mit Versuchen,
sich sozialen Frieden zu erkaufen – in vielen Bereichen
des öffentlichen Dienstes wurden im Jahr 2011 die Löhne
stark erhöht – und Verschwörungswarnungen verknüpft.
Algerische regierungsnahe Nationalisten und
Repräsentanten der Regierung verteidigten die Regimes in
Libyen, unter dem gestürzten Muammar al-Qadahfi
(eingedeutscht Gaddafi), und aktuell in Syrien bis zur
letzten Minute. Obwohl diese von ihrer politischen Natur
her nicht direkt mit der algerischen Oligarchie
vergleichbar waren oder sind, wurde es so dargestellt,
als seien die drei Ländern in ähnlicher Weise Opfer von
Destabilisierungsversuchen von außen. Nicht zuletzt
hängte sich Premierminister Ahmed Ouyahia (RND) aus dem
Fenster, um im Zuge dieser Kampagne eine NATO-Bedrohung
für Algerien auszumalen.
Eine Mischung
aus Traumatisierung durch den Bürgerkrieg zwischen
Staatsmacht und radikalen Islamiten (1992-1998),
Propaganda und Geldausschütten durch die Staatsmacht tat
anscheinend ihre Wirkung. Die langjährige Einheitspartei
– seit der Unabhängigkeit1962 bis zur Revolte und der
erzwungenen Demokratisierung in der kurzen
Periode1988/89 -, der FLN oder die „Nationale
Befreiungsfront“, gewann allein 220 von insgesamt 462
Sitzen im algerischen Parlament. So viele Sitze hatte
die Partei seit der Einführung des Mehrparteiensystems
1989 nie mehr alleine erzielt. Eine Abspaltung vom FLN,
der 1997/98 zur Unterstützung der damaligen
Armeeregierung aufgebaute RND (Nationale demokratische
Sammlung), erlangte weitere 68 Mandate.
Islamisten
landen nur auf dem dritten Platz
Die Islamisten wurden nur Dritte.
Drei Parteien, die führende unter ihnen war die bisher
mitregierende MPS-Hamas, hatten sich zur „Grünen
Allianz“ zusammengeschlossen. Vollmundig hatten ihre
Vertreter verkündet, bereits ihre Regierung
zusammengestellt zu haben. Daraus wird nun nichts, ihre
Vereinigung erhielt insgesamt 48 Sitze. Lediglich in der
Hauptstadt Algier, wo eine eigene politische Dynamik
herrscht, lag die „Grüne Allianz“ dennoch vor den
anderen Parteien. Ausschließlich dort glich ihr
Abschneiden einem Erfolg.
Einige ihrer Repräsentanten geben
sich zerknirscht. Andere sprechen schon mal von
angeblichem Wahlbetrug. Offener prangert ihn noch der
FJD – die „Front für Gerechtigkeit und Entwicklung“ –
an. Es handelt sich um eine weitere islamistische Partei
unter Abdallah Djaballah, einem Prediger, der schon
mehrere Parteien gründete wie En-Nahdha
(Wiedergeburt) und Al-Islah (Die Reform).
Aus beiden Parteien flog er hinaus, beide Formationen
haben sich jeweils sich der „Grünen Allianz“
angeschlossen. Seine neue Organisation, der FJD, erhielt
bei dieser Wahl 7 Sitze.
Djaballah, der
sich nicht so gut wie seine ehemaligen Weggefährten ins
Establishment einzupassen vermochte, sprach vergangene
Woche von Wahlmanipulation und davon, dass nun nur eine
„tunesische Lösung“ – also Revolution – übrig bleibe,
was im Munde des sittenkonservativen Ideologen
allerdings merkwürdig klingt.
Dass Wahlbetrug
für die Ergebnisse verantwortlich sei, ist jedoch
unwahrscheinlich. Dass die Wahlbeobachter aus der EU
erklärten, die Urnengänge seien weitgehend reibungslos
(und die USA ihnen Transparenz bescheinigten), ohne
Zwischenfälle und transparent verlaufen, mag noch nicht
unbedingt eine sichere Garantie dafür sein – die
Europäische Union segnete etwa in mit Frankreich
„befreundeten“ afrikanischen Diktaturen auch schon sehr
zweifelhafte Wahlen ab. Tatsächlich deutet aber nichts
darauf hin, dass massiver Wahlbetrug die Gesamttendenz
der Ergebnisse verzerrt hätte. Daran hatte auch das
Regime dieses Mal ein geringes Interesse: Eine stärkere
Rolle legalistisch ausgerichteter islamistischer
Parteien wäre ihm vielleicht sogar entgegen gekommen, um
gesellschaftlichen Unmut besser zu kanalisieren. In
seiner Ansprache, die Staatspräsident Abdelaziz
Bouteflika am 08. Mai 2012 zum Jahrestag des
französischen Kolonialmassakers vom 08.05. 1945 in Sétif
hielt, betonte der seit 1999 amtierende Staatschef
mehrfach, es sei in der Politik Zeit für eine „Ablösung“
durch eine „neue Generation“. Dabei wich er wiederholt
von seinem schriftlichen Redemanuskript ab. Der selbst
aus dem FLN kommende Präsident scheint es ernst damit zu
meinen, dass das Regime sich bis zu einem gewissen Grad
politisch öffnen müsste, statt die alte Garde immer
wieder zu bestätigen. Auch um seines eigenen politischen
Überlebens willen.
Am Rande mag es auch Manipulationen
gegeben haben, den Ausgang der Wahl insgesamt erklären
sie aber auf keinen Fall. Wahr ist vielmehr, dass ihr
langjähriges Mitregieren die zur Wahl angetretenen
islamistischen Formationen selbst diskreditiert hat:
Außer Sprüchen über „Moralisierung“ haben sie den
Algeriern im Alltagsleben schlichtweg nichts gebracht.
Jene, die wählen gehen, ziehen da lieber gleich die
Hauptfraktionen des Establishments vor, die haben
wenigstens vielleicht etwas zu Verteilen anzubieten. Und
ferner taten die Parteien des Establishments –
insbesondere der FLN - das Ihre, um den islamistischen
Parteien das Wasser abzugraben, indem man einen Teil
ihres Diskurses übernahm. Auf dem Listenplatz 4 beim FLN
in der Hauptstadt Algier kandidierte Asma Benkada, eine
Ex-Ehefrau des in Qatar lebenden und aus Ägypten
stammenden berüchtigten islamisch-reaktionären Predigers
Yussuf Al-Qaradawi.
Allerdings ist
ein Teil derer, die in den frühen neunziger Jahren für
die radikalen Islamisten der „Islamischen
Rettungspartei“ (FIS) stimmten, wohl gar nicht wählen
gegangen. Der FIS ließ
sich nicht in das Regierungsgeschäft einbinden: Sein
Chefideologe Ali Belhadj war ein Salafist, auch wenn es
diese Bezeichnung zur Abgrenzung von anderen
islamistischen Richtungen vor 20 Jahren noch nicht
gegeben hat und die verschiedenen Unterströmungen des
politischen Islam sich damals noch nicht aufgetrennt
hatten. Belhadj zählt heute offen zu dieser Strömung.
Der harte Kern seiner Anhänger, die es nach wie vor
gibt, ging ebenso wenig wählen wie viele Bürger, die aus
anderen Gründen den Urnen fern blieben – insgesamt gaben
nach offiziellen Zahlen 57,1 Prozent nicht ihre Stimme
ab. Andere waren gar nicht erst in die Wählerlisten
eingetragen.
Das
Mehrheitswahlrecht in Algerien, das die Besonderheit
aufweist, dass die Stimmen kleinerer Parteien ohne Sitze
der jeweils stärksten Kraft rechnerisch zugeschlagen
werden, kam dem FLN stark zugute. Doch die führende
Partei sollte ihren Rückhalt auch wieder nicht
überschätzen: Das nordafrikanische Land hat 35 Millionen
Einwohner/innen, von ihnen insgesamt 21 Millionen im
wahlfähigen Alter. Unter ihnen stimmten alles in allem
1,3 Millionen für den FLN und 520.000 für den RND.
Zusammenschluss der unabhängigen Gewerkschaften
Viele Menschen erhoffen sich von
Wahlen und Politik überhaupt nichts. Andere suchen
Lösungen eher anderswo: in allgegenwärtigen, aber
örtlich begrenzten Riots etwa oder in sozialen
Bewegungen. Die „autonomen Gewerkschaften“, jene also,
die außerhalb des offiziellen und seit der
Unabhängigkeit 1962 staatsnahen Dachverbands UGTA
stehen, schlossen sich soeben (am 01. 05. 2012)
offiziell zu einem eigenen Gewerkschaftsdachverband
zusammen. Seit nunmehr drei Wochen sind
Justizbedienstete im Hungerstreik für ihre
Beschäftigtenrechte. Es gibt in Algerien nicht nur die
Wahl zwischen FLN und Islamisten mit oder ohne Bart.
Kurz vor dem fünfzigsten Jahrestag der Unabhängigkeit,
der am 5. Juli dieses Jahres begangen wird, gibt es
andere Quellen der Inspiration.
Editorische Hinweise
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