Beschreibung eines Kampfes
Brief eines Grundsicherungsempfängers an die zuständige Bezirksverordnetenversammlung im Großraum Berlin

5/6-2014

trend
onlinezeitung

Vorbemerkung: Der nachstehende Brief wurde anonymisiert und satztechnisch für das Internet aufbereitet. Der Wortlaut entspricht 100% dem Originaltext, der uns vorliegt. Nicht mitveröffentlicht sind die Anlagen des Briefes. Wir haben im Header die gleiche Grafik benutzt, wie sie bei der Presseerklärung zu einer Entschädigungsinitiative  verwendet wurde, um unsere LeserInnenschaft zu sensibilisieren, auf die inneren Zusammenhänge zwischen der Presseerklärung und diesen skandalösen Vorkommnissen zu achten. / red. trend

Herrn X
Bezirksverordnetenvorsteher
BEZIRKSAMT XYZ VON BERLIN
Büro der Bezirksverordnetenversammlung
Bezirksamt XYZ von Berlin
BVV-Büro

Berlin 2. Mai 2014

Petition

 

Sehr geehrter Herr X,

in Vorbereitung der unmittelbar bevorstehenden Sitzung des Ausschusses für Eingaben und Beschwerden der Bezirksverordnetenversammlung des Stadtbezirkes XY von Berlin sende ich Ihnen zur Komplettierung Ihres Informationsstandes das Schreiben der Gruppenleiterin Frau Y vom Sozialamt vom 02. 05. 2014 zu. Die behördlich gestützten Angriffe der Sachbearbeiterin Frau Z vom Sozialamt gegen mich, einen Grundsicherungsempfänger, haben, wie Sie jetzt wissen bzw. wenigstens ahnen, an dramatischer Schärfe zugenommen, die in unserer Zivilisation eigentlich unvorstellbar ist. Sie strebt, wie ich mehrfach erfahren musste, den totalen sozialen Aufrieb desjenigen an, der es wagt, den ihm zustehenden Sozialschutz mit rechtsstaatlichen Mitteln zu verteidigen, und es obendrein auch noch wagt, sich auf seinen Status als Angehöriger einer von den Nazideutschen verfolgten deutsch-jüdischen Familie zu berufen: willkürliche Kürzung der Grundsicherung, Nichtüberweisung bewilligter Gelder, Schikanen bei der Antragsstellung, Verschleppung der Bewilligung der mir nach dem Sozialrecht zustehenden Leistungen, Boykott von Zusatzanträgen, um Anschaffungskosten von Arbeitsmitteln zwecks zusätzlicher Erwerbstätigkeit decken zu können, Verschleppung von Widersprüchen, verächtlicher Umgang mit einem Bürger, der auf Grundsicherung angewiesen ist, Unterstellung von falschen Angaben über den Familienstand, permanente ungünstige Auslegung der Rechtsvorschriften, Nichtanerkennung meiner journalistisch aufbereiteten Forschungstätigkeit über die Quellen des deutschen Faschismus und die Aufarbeitung des zerstörten deutsch-jüdischen Kulturerbes infolge der Nazibarbarei, die Behandlung meiner Person nach dem Asylbewerberleistungsgesetz als Strafe dafür, dass ich als Exilgeborener im rettenden Exilland Großbritannien geboren wurde und nicht, wie sie es offenbar rückwirkend wünschen, im Reich, das mich vernichtet hätte, weil ich Jude bin, der rechtswidrige Versuch zur Einführung einer Residenzpflicht für meine Person, die Verweigerung von Arbeit zur Kooperation zwischen Amt und Bürger usw. usf.

Nun, nicht trotz, nein, wegen eines offenbar nie die Kulmination erreichenden und eines an Schärfe und erbitterter Entgegensetzung unaufhaltsam zunehmenden Konfliktes zwischen dem Grundsicherungsamt und einem Grundsicherungsempfänger für einen Augenblick dieser feindlich gesonnenen Entfesselung aller menschlichen Wesenskräfte und außergewöhnlichen Mittelwahl in der Verfechtung von Zielen einmal innezuhalten, eine Art inneren Waffenstillstand zuzulassen, sich zu sammeln und gründlich zu reflektieren, scheint, was mich anbetrifft, dringend geboten zu sein, wobei ich entschieden darauf wert lege festzuhalten, dass dieser Sozialkrieg mir von dem Grundsicherungsamt aufgezwungen wird und ich lediglich einen Verteidigungskrieg führe, um meine Existenz sicherzustellen, und dies ganz im Sinne des in der Bundesrepublik Deutschland anerkannten Bedarfsdeckungsprinzips für sozial Bedürftige, das auf zwei verfassungsmäßig geschützten Fundamenten ruht: Sicherstellung der nackten Existenz und Sicherstellung der Befriedigung der soziokulturellen Bedürfnisse, zwei einander ergänzende Aspekte zum Schutze der staatlich garantierten Sozialsicherheit, die Prof. Dr. Ernst Kistler, Direktor des Internationalen Instituts für Empirische Sozialökonomie in Stadtbergen bei Augsburg, bekannt als Sozialpolitiker und Armutsforscher, sowie Prof. Dr. Gerhard Bäcker, Senior Fellow im Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg, bekannt als Armutsforscher und Theoretiker des Wohlfahrtsstaates in der Bundesrepublik Deutschland, als geltende Rechtsnormen für die Bestimmung des Bedarfsdeckungsprinzip im Sinne des SGB wie folgt als rechtsverbindlich herausgestellt haben:

1. Die Leistungshöhe orientiert sich an dem Ziel, ein menschenwürdiges Leben sicherzustellen. Gesichert werden soll also mehr als das reine (physische) Existenzminimum, sondern ein soziokulturelles Existenzminimum, das sich am allgemeinen Lebensstandard und Einkommensniveau, bemisst.

2. Zum notwendigen Lebensunterhalt zählt der Bedarf an Ernährung, Kleidung Hausrat, Möbeln langlebigen Gebrauchsgütern, Unterkunft einschließlich Heizung. Dazu zählen aber auch Aufwendungen für die Teilnahme am sozialen, kulturellen und politischen Leben.

Die Verteidigung von menschlicher Existenz, basiert durch dieses SGB-gestützte Bedarfsdeckungsprinzip, ist der Dreh- und Angelpunkt der hier zu führenden sozialrechtlichen Auseinandersetzungen. Das Sozialamt will die Reduktion der Grundsicherung auf das rein physische Existenzminimum, was rechtswidrig ist, doch ich, sein juristischer Gegner, souveräner Staatsbürger, will die uneingeschränkte Anwendung des vom Gesetzgeber im SGB formulierten Bedarfsdeckungsprinzips unter Einschluss des soziokulturellen Existenzminimums. Dieser Kampf soll mit einem juristischen Sieg einer der beiden Konfliktpartner enden. So will es unser zivilisiertes Rechtssystem.

Allein: Wir sollen weiterkämpfen, immer weiter, mit allen Mitteln, bis ans Ende unserer Tage und noch darüber hinaus, ohne Frage, dazu kenne ich die zu allem entschlossen entfesselte Sozialamtskämpferin seit etwa einem halben Dezennium nur zu gut, eine, wie ich sie staunend erleben durfte, seltsam antediluvianisch agierende Zeitgenossin aus versunkenen Menschentagen frühgermanischer Zeitalter, Repräsentantin einer „unsinnigen Berserkerwut“, wovor der deutsch-jüdische Dichter und Essayist Heinrich Heine schon raunend zu warnen wusste, als er uns mit prophetischem Ernst offenbarte, dass der „Naturphilosoph dadurch furchtbar sein (wird), dass er mit den ursprünglichen Gewalten der Natur in Verbindung tritt, dass er die dämonischen Kräfte des altgermanischen Pantheismus beschwören kann, und dass in ihm jene Kampflust erwacht, die wir bei den alten Deutschen finden, und die nicht kämpft, um zu zerstören, noch um zu siegen, sondern bloß um zu kämpfen.“ 1) Und ich sehe die entfesselte Sozialamtskämpferin mit einer schaurigen Machete mit Totenkopf im Mythengetümmel eines undurchdringlichen Rechtsgestrüpps auf Geäst und Wurzelwerk blindlings einschlagen, nur höre ich statt eines Pfeifens und Krachens ein wie aus weiter Ferne immer näher rückendes Gedröhne von Marschschritten, begleitet von rhythmischem Klatschen und Johlen.

Was ist in dieser beklemmenden Situation zu tun? Nicht weiter untätig herumstehen und sich von diesen furchteinflößenden Einschlägen imponieren oder gar bannen zu lassen, sondern graben wie der öffentliche Beter Heine. Was liegt unter der Decke dieser Auseinandersetzung? Unter diesem archaischen Mythengetümmel? Übrigens auch unter der Rechtsgelehrsamkeit, die ich im Gegensatz zu diesem grausigen Hauen und Stechen immer wieder ins Feld zu führen bestrebt bin? Als intersubjektiv überprüfbarer Maßstab gesellschaftlich normierten Handelns?

Wenn wir nämlich die erste Schicht dieses Kampfes mit unserem analytischen Blick durchstoßen, stoßen wir auf geistig befreiende Weise auf Mächte, die ganz unabhängig vom Wollen, Wünschen und Sagen der beteiligten Personen sich gleichsam mit objektiver Unduldsamkeit die Bahn brechen und sich ganz frei zu entfalten verstehen, sozusagen hinter dem Rücken der Subjekte dieses Konfliktes. „Beschreibung eines Kampfes“ nennt der große deutsch-jüdische Erzähler Franz Kafka eine seiner großartigen Schöpfungen, und sie beginnt mit den ebenso verwirrenden wie gelassenen Gedichtzeilen:

„Und die Menschen gehn in Kleidern
schwankend auf dem Kies spazieren
unter diesem großen Himmel,
der von Hügeln in der Ferne
sich zu fernen Hügeln breitet.“ 2)

Lassen Sie mich bitte, sehr geehrter Herr X, diese Zeilen den folgenden Betrachtungen zur objektiven Natur des vorliegenden Kampfes voranstellen. Sie sind so vielseitig auslegbar, ich weiß, aber sie drücken doch zugleich mit einer erstaunlichen Präzision eine Invarianz menschlichen und irdischen Verhaltens aus, die uns vorbildlich erscheinen dürfte, uns aufzumachen, nach den Invarianten dieses Kampfes, der uns fest im Griff hält, zu suchen, einmal loszulassen, uns die Freiheit zu nehmen, uns schier konfliktungebunden denkend aufzumachen in die Weiten, die der wundersame Kafka vor uns ausbreitet.

Und in diesen Weiten gilt nicht mehr die einengende Sicht auf den Einsatz, den jeder Sozialkämpfer wagt, auf die Kosten-Nutzen-Rechnung hinsichtlich des zu erwartenden Sieges und auf die damit verbundene Risiko-Abschätzung, sondern einzig und allein das Auffinden von allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten, denen wir, ohne es zu wissen, in unseren sozialen Interaktionen unweigerlich gehorchen.

Drei objektiv wirkende Kollisionen schälen sich nach meinen ersten Grabungen heraus, die mir bedeutsam sind, die unser subjektives Handeln bestimmen, steuern und kontrollieren. Die wie objektive Mächte wirken, denen wir subjektiv ausgeliefert sind, ohne ändernd eingreifen zu können, ohne sie manipulieren zu können. Es kommt nur darauf an, sie zu erkennen. Eine Aufforderung, alle sinnlos-seligen Allmachtphantasien fallen zu lassen. Das wäre die Freiheit,  die uns tatsächlich zu Schöpfern der gesellschaftlichen Wirklichkeit machte. Eine Betrachtung, die uns, den beiden Konfliktpartnern, den Frieden brächte und uns wahrhaft gleich machte – im Sinne der Ideale der bürgerlichen Emanzipationsbewegung.

1.

Es stehen sich erstens folgende gesellschaftliche Mächte antagonistisch gegenüber: der starre, unbewegliche Apparat der sozialen Sicherheit versus Lebenstätigkeit der Menschen oder, um es kurz und bündig zu sagen, Staat versus Natur.

Im Wohlfahrtsbericht 2012 der Liga der Freien Wohlfahrtspflege in Sachsen – übertitelt mit den programmatischen Kampfbegriffen „Selbstbestimmt – Würdevoll – Aktiv altern“ – heißt es: „Der demographische Wandel ist längst Realität. Mitte des 21. Jahrhunderts wird es weltweit mehr Menschen über 50 als unter 15 Jahren geben. Ältere Menschen werden eine wichtigere Rolle als jemals zuvor in der Geschichte spielen. Bisher tradierte Altersbilder der Generation 65 plus müssen in der Gesellschaft überdacht werden. Nicht die Ruhephase nach einem arbeitsreichen Leben mit fortschreitender Pflegebedürftigkeit steht im Mittelpunkt des Selbstverständnisses der Generation 65 plus, sondern vielmehr die Mitgestaltung der Gesellschaft und eine aktive Freizeitgestaltung.“ Die landläufige Vorstellung, unser Leben verliefe nach der eindimensionalen Reihung Arbeitsbürger – Rentenbürger – Pflegebürger, nach Art einer feudalistischen Ständegesellschaft neobiologistischen Typs, mag ideologiebildend sein für eine Wirklichkeit, die tagtäglich durch machtvolle Widersprüche durchlöchert wird, bleibt aber im Grunde folgenlos. Ideologiekitt. Verkleisterung der sozial-ökonomischen Widersprüche im technischen Zeitalter warenproduzierender Gesellschaften und Verkennung des Existenzproblematik der menschlichen Persönlichkeit. Die erste objektive Kollision, derer wir hier ansichtig werden, hat der Sozialwissenschaftler Daniel Eichler in dem Standardwerk „Armut, Gerechtigkeit und soziale Grundsicherung“ folgendermaßen auf den Punkt wissenschaftlicher Widerspruchsbetrachtung gebracht: „Der starke demografische Wandel und die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse machten eine durchgreifende Reform des gesamten Apparats der sozialen Sicherung nötig, so Mitschke. Die Sozialsicherheit dürfe zukünftig nicht mehr primär durch Kopplung an den Status als Arbeitnehmer gewährleistet werden.“ 3)

Jenseits dieser Kollision herrscht der Begriff der Lebenstätigkeit, nicht mehr der Begriff der Arbeit. Dies ist bereits vor Jahren und Jahrzehnten seitens der Philosophie, der katholischen Soziallehre und der Sozialwissenschaften erkannt und beharrlich herausgearbeitet worden. In meinem Essay „Befreiung von der Arbeit“, der vor einem knappen Dezennium in der Zeitschrift „Utopie kreativ“ erschienen ist 4), habe ich beispielsweise versucht, diese kaum zu erahnende Transformation von der Dominanz qua Produktion zur Dominanz qua Lebenstätigkeit anhand eines von den Deutschen bis heute nicht verstandenen Epochenwerkes ihres Nationaldichters Johann Wolfgang von Goethe, nämlich des Briefromans „Die Leiden des jungen Werthers“, exemplarisch darzustellen.

2.

Es stehen sich zweitens folgende gesellschaftliche Mächte antagonistisch gegenüber: das geistige Lebensprinzip Brüderlichkeit versus das geistige Lebensprinzip Freiheit oder, um es kurz und bündig zu sagen, Sozialismus versus Individualismus.

Am Schluss seines nicht hoch genug einzuschätzenden Werkes über den Zusammenhang von Armut, Gerechtigkeit und sozialer Grundsicherung gelangt Daniel Eichler unter der Kapitelüberschrift „Vorschlag für ein gerechtes Reformmodell zur Vermeidung von Einkommensarmut“ zu einer geradezu revolutionären Feststellung: „Um die bürgerlichen Ideale Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu verwirklichen, müssen Grundlagen für ihre Wirksamkeit geschaffen werden. Formale Freiheit (Selbsteigentum, freie Lebensplanung etc.) und Gleichheit vor dem Gesetz machen nur einen Teil eines liberalen, gerechten Gesellschaftsmodells aus. Brüderlichkeit als Solidarität fordert Unterstützung dort, wo nicht gleichermaßen von einer freien Gesellschaftsordnung profitiert werden kann. Gerechtigkeit als gerechte Güterproduktion und –verteilung muss mindestens die unverschuldeten ungleichen Fähigkeiten der Menschen, Freiheit, Gleichheit und Wohlstand zu erlangen, berücksichtigen. Dazu gehört die unbedingte Ausstattung mit Grundgütern und die zusätzliche Unterstützung mit Gütern dort, wo die Normalität kein Maßstab für Lebensqualität ist. Das Recht auf Selbsteigentum und die Brüderlichkeit scheinen in gewisser Hinsicht unvereinbar. Wo das eine Prinzip das unveräußerbare Eigentum am eigenen Körper und der cigenen Person sowie auf die Früchte aller Produkte der Eigenleistung verlangt, fordert das andere Veräußerung und Teilhabe aller an allem und stellt in Frage, ob es überhaupt ein Recht auf die Früchte der ‚eigenen‘ Arbeit geben kann.“ 5)

3.

Es stehen sich drittens folgende gesellschaftliche Mächte antagonistisch gegenüber: das Fortwirken der Quellen des Faschismus in unserer Gesellschaft versus Anstrengungen zum Versiegen der Quellen des Faschismus in unserer Gesellschaft oder, um es kurz und bündig zu sagen, politische Bewusstlosigkeit (Unreife) versus politische Bewusstheit (Reife).

Solange es einen deutschen Staatsverband gibt, wird diese Kollision zu den grundlegenden Determinanten des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen hierzulande gehören. Der fundamentale Beweis für dieses konstituierende Prinzip eines jeden deutschen Staates bildet der Artikel 139 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Er lautet: „Die zur ,Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus‘ erlassenen Rechtsvorschriften werden von den Bestimmungen dieses Grundgesetzes nicht berührt.“ Deswegen heißt dieser Artikel auch ausdrücklich Befreiungsgesetz. Und deshalb kann die Selbstbefreiung hierbei nur bedeuten, den Geltungsbereich der politischen Reife und Bewusstheit gegenüber dem der politischen Unreife und Bewusstlosigkeit schrittweise zu vergrößern. In diese objektive Kollision gehört auch die gegenwärtige Abwesenheit eines Gesetzes zur Anerkennung und Entschädigung für die Zweite Generation der Opfer des deutschen Faschismus, zu der ich gehöre, Ausdruck von politischer Unreife, nimmt man etwa die niederländischen Regelungen hierzu als Maßstab.

Resümee

Was meine Sozialsicherheit angeht, so stürzt mich die noch schwach entfaltete Ausprägung dieser Kollisionen in bodenlose Aporien. Ich falle in die Grundsicherung, weil ein solches Entschädigungsgesetz noch nicht existiert. Und es gibt immer noch nicht ein solches Entschädigungsgesetz, weil der augenblickliche Stand der Entwicklung der Kollision zwischen dem Fortwirken der Quellen des Faschismus in unserer Gesellschaft und den Anstrengungen zum Versiegen der Quellen des Faschismus in unserer Gesellschaft noch ein zu niedriges Niveau aufweist. Man ermesse die Frage des Niveaus unvoreingenommen an der Aussage, die der Bundespräsident Joachim Gauck während einer Gedenkstunde zu Ehren der Opfer des Faschismus vom 4. März 2014 in Berlin getätigt hat: „Deutschland ist der Konfrontation mit den Opfern nationalsozialistischer Vernichtungspolitik in der Nachkriegsära weitgehend ausgewichen. Westdeutschland wollte vergessen, Schuld verdrängen, die Vergangenheit unter den Aufbauleistungen des Wirtschaftswunders begraben. Viele, die im NS-Regime Verantwortung getragen hatten, gingen straffrei aus, die meisten Widerstandskämpfer hingegen galten als Vaterlandsverräter. Und für die Opfer der deutschen Grausamkeiten fehlte damals das Mitgefühl.“

Und insofern stehe ich völlig unverschuldet vor dem Berg unerledigter Aufgaben der Deutschen. Und unschuldig bin ich an meiner Lage ebenfalls im Sinne der Feldbeschreibung, die Daniel Eichler bezüglich der zweiten objektiv wirkenden Kollision zwischen dem Lebensprinzip Sozialismus und dem Lebensprinzip Individualismus gibt. Sie sei hier noch einmal widerholt: „Gerechtigkeit als gerechte Güterproduktion und –verteilung muss mindestens die unverschuldeten ungleichen Fähigkeiten der Menschen, Freiheit, Gleichheit und Wohlstand zu erlangen, berücksichtigen. Dazu gehört die unbedingte Ausstattung mit Grundgütern und die zusätzliche Unterstützung mit Gütern dort, wo die Normalität kein Maßstab für Lebensqualität ist.“ Für einen Angehörigen der Zweiten Generation der Naziverfolgten ist die Normalität des Normaldeutschen kein Maßstab zur Erlangung der Güter des Lebens. Wir Kinder der Opfer des Faschismus litten und leiden an den unverschuldeten ungleichen Fähigkeiten der Menschen, Freiheit, Gleichheit und Wohlstand zu erlangen. Es ist politische Unreife der Nachkommen der deutschen NS-Täter-und-Mitläufer-Generation, diese fundamentale, sozialwissenschaftlich und psychologisch längst attestierte Behinderung uns nicht per Gesetz zuzugestehen.

Als ein im Verfolgungszeitraum zwischen 1933 und 1945 im Exil meiner deutsch-jüdischen Eltern geborener Europäer bin ich unverschuldet hineingeraten in die spezifisch deutsche Situation. Ich habe sie mir nicht ausgesucht. Als Europäer bin ich nicht verantwortlich für die gegenwärtige deutsche Situation und deren historische Ursachen. Und der Ausweg? Es gibt keinen Ausweg aus diesem Bündel von Dilemmata. O doch! hallt es mir wie aus einer halbdunkel erleuchteten Gegenwelt entgegen. „Diese so rasch entstandene Weite meiner Aussicht erschreckte mich. Dachte nach, warum ich hergekommen war in dieses Land, dessen Wege ich nicht kannte. Es schien mir, als hätte ich im Traume mich her verirrt und begriffe das Schreckliche meiner Lage erst im Erwachen“, heißt es in der „Beschreibung eines Kampfes.“ 6)

Was aber ist das Schreckliche meiner Lage? Das, denke ich, herauszufinden, ist einzig und allein meine unerledigte Aufgabe.

Wichtig war mir, sehr geehrter Herr X, deutlich gemacht zu haben, dass das eingangs beschriebene dramatische Konfliktgeschehen nur vor dem Hintergrund objektiv waltender Strukturen wirklichkeitsadäquat abgebildet werden kann. Wir befinden uns in einem grundlegenden Umbruchprozess, dessen Folgen wir noch gar nicht ermessen können, und u. a. die hier kurz skizzierten drei grundlegenden Kollisionen tragen diesen grundlegenden Umbruchprozess.

Ich füge diesem Schreiben das Schreiben vom 02. 05. 2014 an das Sozialamt mit meiner Stellungnahme zu zwei unerledigten Widersprüchen und vier unerledigten Anträgen bei. Dieses Schreiben spiegelt den aktuellen Stand der vom Sozialamt unerledigten Aufgaben im vorliegenden Konfliktfall wider. Ich bitte um Einbeziehung dieses Schreibens in die demokratische Petitionsdebatte. Ich wünsche der Sitzung des Ausschusses für Eingaben und Beschwerden der Bezirksverordnetenversammlung des Stadtbezirkes Steglitz-Zehlendorf von Berlin den vollen Erfolg entsprechend der inzwischen hoffentlich gewonnenen Reife der Bewusstheit über die brennenden Probleme und Konflikte in dieser Stadt, aus der – daran ist immer wieder zu erinnern, denn nicht zuletzt dies gehört zum tieferen Ursachengefüge heutiger Konflikte – meine Mutter im Jahr des Unheils, im Jahre 1933, vor den fanatisierten Deutschen fliehen musste, um ihr Leben zu retten.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Antonín Dick

 

1) Heinrich Heine: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in: Heines Werke in fünf Bänden, Volksverlag Weimar, 1957, fünfter Band, Seite 145

2) Franz Kafka: Beschreibung eines Kampfes, in: Franz Kafka: Sämtliche Erzählungen. Frankfurt am Main, 1980, Seite 19

3) Daniel Eichler: Armut, Gerechtigkeit und soziale Grundsicherung. Einführung in eine komplexe Problematik. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2001, Seite 165

4) Antonín Dick: Befreiung von der Arbeit, in: UTOPIE kreativ, Heft 183, Januar 2006, Seite 73-76

5) Daniel Eichler, ebenda, Seite 205

6) Franz Kafka, ebenda, Seite 209

Anlage:

Schreiben vom 02. 05. 2014 an die Gruppenleiterin (4 Blätter)

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Editorische Hinweise

Wir erhielten das Schreiben mit der Bitte um Veröffentlichng vom Autor.

An Tage des Erscheinens dieser Onlineausgabe des TREND am 5. Mai 2014 tagt der hier eingangs genannte
Ausschuss für Eingaben und Beschwerden der Bezirksverordnetenversammlung. Das Schreiben wird dem Auschuss dann vorliegen. Über entsprechende Reaktionen zu den hier angesprochenen Sachverhalten werden wir berichten.