Drei Plakat-Beschreibungen
Beobachtungen anlässlich der Europawahl


von Matze Schmidt, Mai 2014

5/6-2014

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Ein Kopf ist kein Kopf, er ist im Bild das verfielfältigte Bild eines Kopfes. Der Buchstabe auf dem Plakat ist aber ein Buchstabe, und seine Funktion, Symbol zu sein, ist von Bildelementen unterscheidbar. Ein mitten auf den Kopf des Politikers gesprühter Wirbel nimmt die Form des "Eierkopfs" auf und verstärkt das Ei.

Das Plakat ist eine Plakatwand -- etwa 3 Meter 50 breit mal 2 Meter 50 hoch. Zwei Drittel sind helles Blau, ein sehr ordentliches und sauberes Himmelblau. Der Verlauf von Dunkel nach Hell geht von Außen nach innen! In dessen Mitte ist eine Textaussage gesetzt. Der Spruch geht über die ganze linke Hälfte. Ein "Europa usw.", sehr groß "Chancen", mit einem Punkt am Ende der Zeile, als handele es sich um einen ganzen Satz, und so weiter, und "Arbeitslosigkeit". Das dunkle Herrenanzugsakko erscheint massiv und größer als der Körper darin. Der Körper ist nicht zu sehen, die Hände sind nicht zu sehen. Das Gesicht ist ebenfalls nicht zu sehen. Das Sakko mit dem Körper zeigt eine Ponderation, ein statisches Wiegen, eine Pose. Wie man sie von Statuen her kennt. Darum ist die Schulter etwas geneigt. Die Arme sind etwas ausladend gehalten. Der Mann ist beweglich aber solide, bewusst, anpackend. Der schwarz gesprühte kreisförmige Wirbel bedeckt das Gesicht. Man entschied sich gegen den kindlichen Protest "aufgemalter Bart" (der porträtierte Poser ist bereits bärtig) und für eine Zerstörung des öffentlichen Gesichts. Eine Entstellung. Etwas scheinbar Gesichertes wird von seinem Platz weg gestellt, zugleich wird etwas weggenommen. Die Nase ist noch erkennbar, die Brille, die Glatze, Haar, der Bart, Ohren. Der Mund nicht, die Augen nicht. Das Gesicht bleibt bekannt, mit der Beschmutzung wird Image weggenommen, von ihm abgegangen. Der Körper des Politikers ist als Bild gerahmt in die Inszenierung, er ist der Inhalt dieser Mise en Scène. Da aber der Kopf des Politikers seinen Körper selbst professionell in Szene setzen lässt, ist er Auftraggeber der Mise en Scène. Der Politiker steht satt, wie freigestellt vor einem nichtneutralen Hintergrund, denn Blau ist nicht bloß blau, sondern Ruhe und Besonnenheit. Rechts noch ein unscharf gehaltenes Gebäude vielleicht. Der Mann steht nicht im Nirgendwo, aber überall, wo es nach Parlament aussieht. Die Entstellung nimmt das alles weg. Verbotene Vermummung? Das polizeilich gespeicherte Gesicht darf Antlitz, Angesicht, Fassade und das Anblickende sein. Das repräsentative Gesicht symbolisiert die und symbolisiert für (allgemein) "politische Macht", oder genauer Regierung. Die abzugebende Stimme einer angeblichen Wahl ist unsichtbar. Die Augenstellung des Politikers sieht nur so aus, als sähen seine Augen dich an.

Rebellen re-bellieren, schlagen also zurück. Im Prinzip Schach würden sie immer den zweiten Zug machen. Sprühen bleibt lokal begrenzt ist aber publikatorisch nur quantitativ unterlegen.

Wo eigentlich zu lesen sein sollte, wo das Kreuz am 25. Mai zu machen sei, klebt, von irgendjemandem angebracht. eine qualitativ sehr gute Reproduktion von Vermeers Ölgemälde "Magd mit dem Milchkrug". Dieser Titel ist bereits die geschichtsbereinigte Variante. "The Milkmaid" (dt. Die Milchmagd) und in der Verkleinerungs- und Verniedlichungsform "Het Melkmeisje" (dt. Das Milchmägdelein oder Milchmädchen) weisen Verbrämungen auf.

Vermeer war hochbezahlter Maler des so genannten Goldenen Zeitalters der Niederlande. Er stellte intime Ansichten des Haushalts, realistisch-illusionistische, kleinformatige Bilder im Auftrag her. Das Mägdelein ist Dienstmagd und dient reinlich und adrett und dabei bodenständig den Herrschaften für Lohn. Das Goldene Zeitalter begann im 17. Jahrhundert für die Niederlande, im Bündnis mit England nach einem langen Krieg gegen das imperiale und kolonialistische Spanien. Die Niederlande, selbst imperialistisch, wurden darauf zum vielleicht frühesten kapitalistischen Land mit einem ausgebauten Handels- und Bankensystem, einer Seefahrt auf höchstem Niveau, hohem Import und Export. Eine Handelsgroßmacht, Kapital anhäufende Bürger, ein von den Schranken des mit dem Bürgertum rivalisierenden Feudalismus befreites Kapital.

Die privilegierte Dienstmagd im Haus ist nicht mit der Milchmagd zu verwechseln, die die Kühe melkt. Die Dienstmagd kocht, gewissenhaft, hat direkten Umgang mit den Herrschaften. Sie ist die brave Sozialdemokratie im goldenen Rahmen, ein Bild von Zuverlässigkeit für den Herren. Mit sich zufrieden, alles gewonnen. Die Tugend im Haushalt gießt bedacht die Milch in die Schale. Respekt und Achtung vor dem Reichtum und der calvinistisch fügsamen Arbeit in eigenem Interesse, in der Küche als Knast mit gelegentlichem Ausgang und Kost, Lohn und Logis. Alles ist Perle und alles perlt. Ein festgehaltener und darum kostbarer Augenblick, der hier bezahlt wird. Arbeitsporn. Eine Lust an der akkuraten Arbeit der Frau, ohne sie tun zu müssen. Arbeit wird hier mehrfach angeeignet: Als konkrete Arbeit vor dem Bild, als inszenierte im Bild und im Blick darauf, und schließlich als in der Betrachtung respektierte Arbeit überhaupt. Die sofort romantisiert wird, weil malerisch in sich gekehrte Sorgfalt akzentuiert wird und nicht, immanent im Bild selbst, der Widerspruch in der Inbesitznahme dieser Sorgfalt durch den Bürger. Es ist der Realismus des Kaufmanns, der dargestellt wird. Die Malerei scheint klar und ungetrübt zu schildern, was an sorgfältiger Tätigkeit zu sehen sei. Dem bürgerlichen Voyeur wird vom ebenso sorgfältigen Maler dieser Begriff der schaffenden Arbeit, des Händefleißes verschafft. Geile aber gesittet, protestantisch. Von Kauf und Verkauf keine Spur. Nur der Dienst, das Mädchen, das Eigentum, das Objekt, die Domestikation, das Licht.

Der Spuki mit der Magd kommentiert ein Plakat. Darauf ist ein gefilterter Blick auf das Tempelhofer Feld zu sehen. Der ehemalige Flugplatz wird als Asphaltbrache gezeigt. Die ehemalige Startbahn ist graurot, der Himmel darüber blau. Himmelblau, wie immer das gute Blau, ein Reiz fürs Auge: Die Freizeit, das Wochenende, die Reproduktion der Arbeitskräfte. Aus dem weißen Rahmen heraus zielt, an einer extra dafür geöffneten Stelle, ein stilisierter Flugdrachen nach oben rechts, bildet aber mit dem Rahmen weiter einen rechten Winkel. Alles in Grenzen im Rahmen.

Ein Foto ist gefiltert worden. Der rote Anteil im Graurot macht den Boden zu einer wie kontaminierten, trüben Einöde, ohne Menschen, mit einem Alarm belegt. Das ist der "STILLSTAND". Wo der Himmel ist, da ist "GESTALTEN", dazwischen steht ein "STATT". Unten kein Stillstehen, das Blaue vom Himmel kommt vielleicht nach unten. Bezeichnet wird über darübergelegte Farbfilter; die Farben sagen etwas aus. Der Aufbau ist aber insgesamt problematisch. Er folgt einer konstrastreichen Signalgebung mit den beiden Primärfarben, die in der altbekannten Logik solcher Layouts positiv besetzt sind. Blau fürs konservativ Erhaltende, Rot fürs fortschrittlich Verändernde (für eine Farbe zeigende Heraldik taugen diese Farbkontraste kaum mehr, weil sie von fast allen parlamentaristischen Parteien verwendet werden). Wobei der Blickfang schnell kippt. Als Filter auf fotografischer Grundlage fungieren die Farben bezeichnend (konservativ und fortschrittlich) und doch auch das verwendete Foto sichtbar optisch verändernd (Kontamination). Der Rotfilter ist offensichtlich. Optik technisch und Optik inhaltlich fallen zusammen. Fortschrittliches Rot wirkt am Boden aus Grau seltsam schaurig. Eine unbeschleunigte Startbahn in weitwinkeliger Großaufnahme wirkt wie eine unbebaute Riesenfläche, die so dystopisch trist und leer nicht mehr gewollt ist. Im Umkehrschluss bietet diese Partei Belebung und Bebauung als Formel gegen die Leere.

Unterschwellig bleibt die Startbahn ein ambivalentes Element wobei das Motiv in seiner Bild-Rede seinen eigenen Hintergrund preisgibt: Die Startbahn soll als frei gestaltbares Relikt erhalten bleiben, ist für den Flugverkehr schon lange gesperrt, steht jedoch als Sinnbild für irgendwie behinderten Start und Aufstieg, Fortkommen und Abflug. Mit diesem nostalgischen Rest wird das freie Feld umgedeutet zum ungenutzten Raum. Keine Fahrradfahrer, keine Spaziergänger, niemand. Dem Farbton in der Mitte zwischen Blau und Rot mag man in seiner Sättigung und Helligkeit nicht ganz trauen, dort gibt es keinen echten Übergang, aber auch keine Grenze.

Der Friede im Haus, den der Hausherr mit der Magd an ihrem Bild, das er sich von ihr machen lässt, projiziert, wäre der gewünschte. Am Kommentar der Magd kann am Plakat herausgearbeitet werden, dass man diesen Frieden arbeitsseliger Ruhe für ein Wachstum gerne hätte. Im Gegensatz zum schrecklichen Trübsinn des Flugfelds steht das färbende Wort vom Gestalten. Für Verwerter in Wahrheit eine Baulücke.

Diese Montage stellt kein aggressives Ad-Busting dar, bei dem die Entscheidung gegen den Konsumartikel schon vor dem Eingriff ins Bild gefallen ist. Der vorliegende Bild- und Textgegenstand des Plakats wird hier nicht wesentlich verändert. Es wird per Bild im Bild und per Gegenüberstellung der Bildinhalte angezeigt, was der Gegenstand der Platzierung des Plakats seiner Tendenz nach auch noch sein könnte. Ersichtlich ist die Darbietung falscher Tatsachen. Die Leere auf dem Platz gibt es so nicht, gegenteilige Parteientwürfe sind damit überflüssig.

Als Verfremdung wird der interpretatorische Spielraum des Widersprüchlichen mit dem Zusatz auf dem Gegebenen zunächst aufgeschlossen. Nicht was das Plakat zeigt, ist, sondern was es selbst nicht zeigt bietet Diskussion. Antidialektische Adbuster attackieren zerstörend die Repräsentanz terroristischen Konsums und haben persönlich nichts gegen Kapitalismus. Sie wollen kulturell blockieren und sich und andere aufständisch am Zeichen allein von den Widersprüchen falscher Gebrauchswerte befreien. Dabei schließen sie oft Bilder zu einer neuen Aussage ab. Demonstrierte Attacke, so rudimentär Farbbeutelspritzer auch sind, greift aber nicht immer pauschal an, sie greift bestimmte Aussagen an.

Weiße T-Shirts, unbezeichnet, unbefleckt, gelten als wiederholte Ikonen der "vor-artikulationsfähigen", passiven Rebellion. Die Rebellion ist passiv, weil sie keine spezifisch gerichtete Äußerung macht oder diese an sich selbst in ihrer Bedeutung nicht erkennt. Die weißen T-Shirts treten nicht nur singulär an Schauspielern und an Models auf, sie werden auch in Gruppen von Jugendlichkeit sichtbar. Dort werden sie genutzt um distinkt zu werden, um unterscheidbar nach außen und innerhalb der Gruppe gleich zu sein. Das Tragen dieser Uniform ist ein gesellschaftlicher Akt der Selbstzuordnung. Der weiße Block ist er Block der Konsumentinnen, die nie auf kritischen Demonstrationen zu sehen sind. Weiß als Symbolfarbe wäre damit unbewusst. Es symbolisiert zuviel an esoterischer Post-Apo-Übereinstimmung, aber zuwenig, ja gar keine Dreckigkeit, sondern Reinheit. Die Jeans-weißes-T-Shirt-Kombination ist figurativ nachgerade die Kopplung von Dreck = Arbeit und Sauberkeit = Wohlanstand oder die Verwohlanständigung des vormals proletisch Dreckigen.

Das Model im weißen T-Shirt, das solitärste Individuum ohne erkennbare Individualität, weil nur ideales Modell, bietet, übermenschlich groß, keinen Appell. Es bietet Skulptur, halb stehend, halb gehend. Frei und gestellt. Die restproletarische Geste genügt für die Aufmerksamkeit nach Muster, aber nicht mehr für etwas, was Style im Kontext überschreiten könnte -- nichts Authentisches bleibt. Oder: Das Authentische ist eine Erfindung des entfremdeten Gebildeten. Nur mit dem Rest einer Kleiderordnung, die industriell massenhaft entstand, wird noch gearbeitet. Blue Jeans waren Arbeiterhosen, T-Shirts waren unvorzeigbare Unterwäsche. Die Transformation von der praktischen Bekleidung zur Mode, der Kennzeichnung des Ichs, von der sozialen Eingruppierung landloser Lohnabhängiger zum Scheinbürger, kommt zu keinem anderen Ergebnis als den Gestus, einen ganzen Komplex aus Aussagen und Haltung. Und dieser ist der mimiklose, gemeinsamste Nenner, die Ausstattung mittiger, urbaner Citoyens. Als gäbe es nur diesen Typ und dieses Terrain, als gäbe es nur diese Ware und sonst keine, deren Gebrauchswert, nämlich fremdes Eigenbild (imago) zu sein, am eigenen Körper verwirklichbar wäre. Als würde das skulpturalisierte Model von der Litfaßsäule im Käufer menschgeworden herabsteigen können.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.