Konvertiten
Französische Jihadisten in Syrien

von Bernard Schmid

5/6-2014

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Seine Eltern glaubten, er sei in Thailand unterwegs. Das Negativste, was man in einem solchen Fall normalerweise befürchten könnte, wäre eine Teilnahme am Sextourismus. Doch die Nachrichten, die von dem 30jährigen Nicolas Bons kamen, waren noch schlimmer. Im Januar dieses Jahres erhielt seine Familie in Toulouse die Benachrichtigung, er sei in Syrien gestorben, im „Djihad“. Ende Dezember 2013 hatte er an einer Selbstmordoperation unweit der Stadt Homs teilgenommen.

Im März 2013 war er dorthin aufgebrochen, er reiste über Spanien und die Türkei. Auch sein 22jähriger Bruder Jean-Daniel, der genau wie er selbst zum Islam salafistischer Prägung konvertiert war, fiel vor einigen Monaten in Syrien im Kampf., Anfang August 2013 in der Nähe von Aleppo.

Die Mutter der beiden Konvertiten, Dominique Bons, gründete daraufhin eine Initiative unter dem Namen Syrien ne bouge… agissons. Die Bezeichnung beruht auf einem Wortspiel. Das erste Wort bedeutet „Syrer“, aber ohne die Vorsilbe „Sy“ bedeutet der Satz soviel wie: „Wenn sich nichts ändert, lasst uns handeln!“ Am 09. April 14 nahmen die Vereinsgründerin, andere Eltern und Betroffene an einer Protestkundgebung vor Regierungsgebäuden in Paris teil, die an führender Stelle von der Anthropologin Dounia Bouzar organisiert worden. Dieses frühere Mitglied im Repräsentativrat französischer Muslime (CFCM) leitet ein Zentrum, das gegen fundamentalistische Strömungen und „Sektenphänomene im Zusammenhang mit dem Islam“ kämpft. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer protestierten gegen die „Untätigkeit der Regierung“, angesichts der Notwendigkeit, gegen die Indoktrinierung von jungen Menschen – seien es Sprösslinge aus muslimischen Familien oder frisch Konvertierte – vorzugehen.

Franzosen unter den Kombattanten

Am vorletzten Wochenende im April d.J. begannen die Dinge, in Fluss zu kommen. Am (Oster-)Sonntag, den 20. April 14 trafen vier französische Journalisten, die zehn Monate lang von Jihadisten in Syrien als Geiseln festgehalten worden waren, am Militärflughafen von Villacoublay westlich von Paris ein. Edouard Elias, Didier François, Nicolas Henin und Pierre Torres berichteten gegenüber der Presse, aber auch bei einem Debriefing an einem geheim gehaltenen Ort mit dem Auslandsgeheimdienst DGSE über ihre Erfahrungen in der Gefangenschaft und mit ihren Geiselnehmern. Ein Satz weckte dabei besondere Aufmerksamkeit in den Medien: „Einige unsere Wächter sprachen fließend Französisch.“ Es besteht der starke Verdacht, wie Außenminister Laurent Fabius zu Anfang der Woche vom 21./22. April bestätigte, dass sich unter den Geiselnehmern entweder französische oder belgische Staatsbürger befanden.

Ungefähr 250 Belgier traten die Reise in den „Jihad“ in Syrien an, je ein Selbstmordattentat in Syrien und im Irak wurden von belgischen Staatsbürgern verübt. Die Anzahl der Franzosen dort wird, je nach Quelle, auf zwischen 200 und 700 beziffert. Insgesamt sollen derzeit rund zehn Prozent der Kombattanten auf syrischem Boden, die gegen das Baath-Regime und seine Truppen kämpfen, ausländische Jihadisten sein. Die amtierenden Machthaber begünstigten oftmals ihre Einreise, da Baschar Al-Assad und sein Regime zu Propagandazwecken gerne behaupten, sie kämpften an der Spitze eines vorgeblich säkularen Regimes gegen eine ausschließlich islamistische Bedrohung. Aber auch hier variieren die Zahlen. Das International Centre for the study of radicalisation (ICSR) spricht von 3.000 bis 11.000 Kämpfern, darunter ihm zufolge siebzig Prozent aus arabischen Ländern und 18 Prozent aus EU-Staaten.

Aus der Europäischen Union reisten demnach von 2011 bis 2013 insgesamt zwischen 400 und 2000 Kombattanten nach Syrien. Einige kämpfen für zwei Al-Qaida nahe stehende Gruppen, die sich mittlerweile gegenseitig bekämpfen, bis hin zum Einsatz von Selbstmordattentätern gegen die jeweilige Rivalengruppe: die Al Nosra-Front und der „Islamische Staat im Irak und der Levante“ (ISIL). Erstere wirft der Letztgenannten vor, durch ihr grausames Vorgehen auch gegen Zivilisten der Sache des Kampfs gegen den Hauptfeind zu schaden. In den Reihen von ISIL befindet sich auch der deutsche Rapper Denis Mamadou Couspert alias „Deso Dogg“, dessen Tod vergangene Woche vermeldet, danach jedoch als „Personenverwechslung“ dementiert wurde. (Hätte die Nachricht zugetroffen, dann wäre „Deso Dogg“ übrigens bei heftigen Kämpfen zu Tode gekommen, welche sich die Jihadisten untereinander lieferten – tatsächlich kamen rund fünfzehn Menschen bei einem Selbstmordattentat, das zwei Anhänger der „Al Nosra-Front“ gegen die Gruppierung ISIL ausführten, zu Tode. Sowohl Al-Nosra als auch ISIL sind jedoch bei dem Netzwerk Al-Qaida angegliedert, streiten sich aber über die richtige Strategie, u.a. über das zulässige oder „erforderliche“ Ausmaß von ideologisch motiviertem Druck respektive ideologisch motivierten Übergriffen auf die Zivilbevölkerung: Sind diese durch die richtige islamistische „Sache“ gerechtfertigt, oder aber wirken sie schädlich im Kampf gegen den „Hauptfeind“, das Al Assad-Regime?)

Ende 2013 hatte der „Koordinator für die Antiterrorpolizei“ auf EU-Ebene, Gilles de Kercove, das Phänomen der Rekrutierung europäischer oder in Europa wohnender Jihad-Williger für den Kampf in Syrien und der Ausreisen in Richtung Mittlerer Osten untersucht. Damals stieß er jedoch seitens der EU-Institutionen und bei den Mitgliedsstaaten eher auf relatives Desinteresse. In der Folgezeit übte jedoch die US-Administration erheblichen Druck auf die EU aus: Dem Vernehmen nach machte diese sich Sorgen, dass angeblich Rückkehrer aus Syrien auf ihrem Boden Anschläge verüben könnten. (Vgl. http://www.lemonde.fr/)

Katalog der Regierung

Durch die alarmierenden aktuellen Meldungen unter Druck gesetzt, verkündete die franzôsische Regierung am Mittwoch, den 23. April 14 ein Maßnahmenbündel. In Wirklichkeit war es allerdings bereits seit Januar 2014 unter dem damaligen Innen- und jetzigen Premierminister Manuel Valls ausgearbeitet worden. Sein Amtsnachfolger im Ministerium, Bernard Cazeneuve, kündigte unter insgesamt zwanzig Beschlüssen einen Gesetzentwurf an, dem zufolge Eltern bei einem Verdacht auf jihadistische Indoktrinierung die Behörden warnen und eine richterliche Verfügung gegen ihre Ausreise erwirken können. Bis zum Jahresende 2012 benötigten Minderjährige für viele Länder eine Ausreisegenehmigung. Doch diese Maßnahme, die vorwiegend der Vorbeugung von Kindesentführungen durch ausländische Elternteile diente, wurde per Gesetz abgeschafft sowie durch – vorübergehende oder dauerhafte – Ausreiseverbote für Minderjährige auf richterliche Anordnung ersetzt. Im Gespräch befindet sich nun eine Wiederherstellung der alten Regelung. Doch letztgenannte Idee wurde vorerst durch die Regierung verworfen, die stattdessen eher auf gezielte Reiseverhinderungen setzt. Allerdings wird weder die alte noch die künftige neue Regel alle Reisepläne von Jihad-Lehrlingen für Syrien verhindern können: Viele von ihnen reisen mit dem Bus nach Istanbul oder fliegen nach Israel und reisen über Jordanien weiter, scheinbar harmlose Reiseziele.

Daneben sollen jihadistische Webseiten, auf denen oft explizit der „Märtyrertod“ in Syrien gepriesen wird, verstärkter Überwachung unterliegen; 95 Prozent der „Jihad“-Anwärter sollen sich über das Internet radikalisiert haben. Und Psychologinnen, Mitarbeiter im Schulwesen und andere Betreuer sollen eingesetzt werden, wenn die Eltern eine Hotline anrufen, wo man vor sektenhafter und/oder jihadistischer Indoktrinierung warnen kann. Generell soll möglichsgt viel über die Familien, vor allem jedoch über deren weibliche Mitglieder, auf potenzielle Jihad-Aspiranten eingewirkt werden.

Am Mittwoch, den 30. April traf Cazeneuve in London mit seinen belgischen, deutschen und britischen Amtskollegen zusammen und tauschte Erfahrungen aus. In Großbritannien wurde seit 2013 durch die Behörden ein in gewisser Weise innovatives Experiment durchgeführt. Dabei wurde eine Spezialeinheit aktiv, die nicht versucht, die Reise von Aspiranten nach Syrien zu verhindern. Vielmehr werden diese – mittels einer Kampagne unter dem Titel Do it, but do it right - darin unterstützt, in das Land zu reisen, dessen Regime unter anderem in vielen Moscheen als aktuelle Verkörperung des Reichs des Bösen beschrieben wird. Wofür die Folterdiktatur sehr geeignete Angriffsflächen bietet, wobei sich aber eine konfessionelle Komponenten aufgrund des Gegensatzes von Sunniten und regierenden Alawiten darunter mischt. Allerdings soll dabei gewährleistet werden, dass die Syrien-Reisenden sich nicht den Jihadisten anschließen, sondern eher Kriegsopfer betreuenden NGOs, mit denen die britischen Behörden extra spezielle Kontakte aufgebaut haben.

In Teilen der französischen Rechtsopposition schwelgt man unterdessen lieber in Repressionsfantasien. Ein Abgeordneter des Front National (FN) in der Nationalversammlung, der Anwalt Gilbert Collard, will nach Syrien Ausgereiste an der Wiedereinreise nach Frankreich hindern, und der Vizechef seiner Partei – Florian Philippot – will ihnen die französische Staatsbürgerschaft entziehen. Dies würde die Betreffenden, auch wenn sie ihren Trip als schweren Irrtum bereuen sollten, in ihrer einmal getroffenen Entscheidung auf Dauer einschließen. Dominique Bons hingegen findet umgekehrt, dass die derzeitigen Regierungspläne den Schwerpunkt zu sehr auf die Tätigkeit von Überwachungs- und Repressionsorganen legen. In ihren Worten sind die jungen Leute oftmals „auch selbst Opfer“, wie bei vielen Sektenphänomenen.

AKTUELLER Nachtrag:
Am 1. Mai 14 wurde ein 37jähriger algerischer Staatsbürger, der seit 1980 im Raum Albertville (Savoyen) wohnhaft war, aus Frankreich abgeschoben. Ihm wurde durch die französischen Behörden vorgeworfen, Nachwuchs für den jihadistischen Kampf in Syrien zu rekrutieren; seine Familie dementiert diese Vorwürfe allerdings. Der Mann war zuvor, Mitte März 14, in einem Bus in der Türkei durch die dortigen Behörden aufgegriffen und an ihre französischen Amtskollegen überstellt worden. Ihm wird zur Last gelegt, Jihad-Rekruten zu den Kämpfern von ISIL zu befördern; er war in Begleitung von fünf potenziellen Rekruten festgenommen worden. Zwei seiner engeren Bekannten waren ihrerseits im Februar 2011 wegen Rekrutierens von Jihad-Freiwilligen für Afghanistan verurteilt worden.
Am Vortag – Mittwoch, den 30. April 14 – hatte Innenminister Bernard Cazeneuve in der französischen Nationalversammlung erläutert, seinen Zahlen zufolge befänden sich zur Zeit 285 französische Staatsbürger als Kombattanten auf syrischem Boden, und 120 befänden sich „im Transit“ (also auf dem Weg dorthin über Drittländer). Dies entspräche einer Zunahme um 75 % gegenüber einem Vergleichszeitraum im Vorjahr. In den drei Jahren des syrischen Bürgerkriegs, seit März 2011, seien insgesamt 25 französische Jihadisten dort zu Tode gekommen. Aus Belgien werden ähnliche Zahlen – zwanzig gefallene belgische Staatsbürger, rund 200 sich in Syrien aufhaltende belgische Jihadisten (viele davon bei ISIL oder in den Reihen der Al Nosra-Front).

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.