"Wahl" in Algerien
Am 17. April 14 wurde ein bereits scheintoter Präsident „wiedergewählt“, obwohl sein Haltbarkeitsdatum längst überschritten war. Ganz demokratisch ging es dabei zu, natürlich.

von Bernard Schmid

5/6-2014

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Diktatur bedeutet: Halt's Maul! Demokratie hingegen bedeutet: Jaja, red' du nur...“ Dieser Ausspruch des französischen Komikers Michel Colucci alias „Coluche“ ist längst zum Klassiker geworden. Das algerische „Modell“ der letzten fünfzehn bis zwanzig Jahre lässt sich als eine Art Kombination aus beiden Regimeformen bezeichnen. Seine Regierung ist in vielerlei Hinsicht eine astreine Diktatur, doch sofern soziale oder politische Akteure sie nicht in ihrer Existenz zu bedrohen scheinen, gilt weitgehende Meinungsäußerungsfreiheit. Nach dem Motto: Redet Ihr nur, es wird sich doch nichts ändern, und kommt also auch nicht darauf an.

In der ersten Hälfte der 2000er Jahre begannen etwa algerische Karikaturisten in Zeitungen wie Le Matin und Liberté den damaligen und jetzigen Staatspräsidenten ‘Abdel‘aziz Boutefliqa (korrekte Transkription aus dem Arabischen, oder aber eingedeutscht: Abdelaziz Boutelika) unter dem Spitznamen „Attika“ darzustellen. Dies war der Name Athens in der Antike, und die Bezugnahme auf die griechische Hauptstadt diente lediglich als vornehme Umschreibung dafür, dass der Mann angeblich schwul sei. Die Anspielung wurde sicherlich durch einen Großteil der Bevölkerung nicht verstanden, durch die Zeitung lesenden Eliten und die Insider des Regierungssystems aber durchaus. Zudem enthielt sie eine Falschbehauptung. Bouteflika (Boutefliqa) war in seinen Amtsjahren als junger Außenminister zwischen 1963 und 1979 als Frauenheld und Playboy berüchtigt. Zwar heiratete er erst spät und geheim, im Jahr 1990, aber der Grund dafür lag sicherlich nicht in seiner behaupteten Homosexualität.

Kaum ein arabischer Staatschef würde sich ausgerechnet diese Unterstellung in den Medien „seines“ Landes bieten lassen, ohne dass die Verantwortlichen der entsprechenden Presseorgane mindestens für längere Zeit aus der Öffentlichkeit verschwinden würden. In Algerien dagegen konnten einige Zeitungen sich solches herausnehmen, und kaum einer der Pressemacher wurde dafür ernsthaft belangt. Jedenfalls mit Ausnahme des Herausgeber von Le Matin, Mohammed Benchichou, der 2004 unter dem Vorwand eines angeblichen Finanzskandals zu zwei Jahren Haft verurteilt wurde. Er hatte allerdings nicht nur seine Zeitung publiziert, sondern zudem ein Buch unter dem Titel „Bouteflika, ein algerischer Schwindel“, das hauptsächlich aus persönlichen Angriffen unter der Gürtellinie bestand: Bouteflika sei homosexuell, habe eine gestörte Mutterbeziehung und Ähnliches. Unterhalb dieser Schwelle war sehr vieles möglich.

Ebenso, wie es offenkundig möglich ist, dass in diesen Tagen ein sterbenskranker Bouteflika (Boutefliqa) für eine vierte Amtszeit „wiedergewählt“ wurde - mit einem offiziellen Wahlergebnis von 81,5 Prozent, das ungefähr so plausibel und glaubwürdig ist wie die Behauptung, die Erde sei eine flache Scheibe und die Sterne seien am Firmament festgeklebt. Die Wahlbeteiligung betrug dabei offiziell 51,7 Prozent, jedoch nur 37 Prozent in der Hauptstadt Algier. Dies mag halbwegs plausibel sein: Wer in Zukunft etwa soziale Hilfszahlungen beim Rathaus oder andere Beihilfen beantragen möchte, sollte tunlichst einen Stempel im Ausweis nachweisen können, der die Wahlteilnahme belegt…

Oh Geist, bist Du unter uns…?

In diesem Jahr zeichneten die Karikaturisten, wie der Starzeichner Ali Dilem, Bouteflika stets nur im Rollstuhl und kurz vor dem Ableben. Das war nicht einmal über die Wirklichkeit hinaus zugespitzt: Der 77jährige wurde am vergangenen Donnerstag tatsächlich im Rollstuhl an die Wahlurne geschoben. Zuvor hatte er sich im Wahlkampf kein einziges Mal mündlich zu Wort gemeldet, und seine Wahlkampagne hatte ein Stab von Beratern und Mitarbeitern, angeführt von seinem früheren Premierminister Abdelmalek Sellal (inzwischen wurde er nach der Präsidentschaftswahl erneut auf diesen Posten ernannt), meistens in seiner Abwesenheit betrieben. Beim Großteil seiner eigenen Wahlveranstaltungen war Bouteflika nur als Fotographie anwesend.

In den letzten anderthalb Jahren hat das Staatsoberhaupt überhaupt nur zwei mal in der Öffentlichkeit den Mund aufgemacht. Aller Wahrscheinlichkeit hat nach der Präsident im April 2013 einen Hirnschlag erlitten. Daraufhin verbrachte er achtzig Tage in einem Pariser Armeekrankenhaus, und im Januar dieses Jahres wurde er dort für kürzere Dauer erneut eingeliefert. Dieser Aufenthalt ist im Übrigen ein trauriges Symbol für sein Land. Nicht nur, weil Algerien von 1954 bis 1962 unter riesigen Opfern in einem Befreiungskrieg – der Frankreichs blutigsten Kolonialkrieg überhaupt darstellte - das Joch der Pariser Regierung abschütteln konnte, die das nordafrikanische Land bis dahin als Siedlungskolonie behandelte. Sondern auch, weil Algerien in der staatssozialistischen Phase in den sechziger und siebziger Jahren ein tatsächlich relativ vorbildhaftes und für alle Einwohnerinnen kostenloses Gesundheitssystem aufbauen konnte. Davon sind heute nur noch Ruinen übrig. Zwar scheiterte der Versuch, die Krankenversorgung direkt kostenpflichtig zu machen, im Jahr 2002: Die Verweigerung der Einlieferung eines verletzten Fußballfans ins örtliche Krankenhaus von Ain Fekroun, wegen Geldmangels, löste damals äußerst heftige Riots aus. Seitdem gingen die Behörden andere Wege: Die ärztliche Behandlung bleibt theoretisch weitgehend kostenlos. Aber Patienten oder ihre Familien werden gebeten, für Nahrung im Krankenhaus, Verbandsmaterial und andere Nebenkosten selbst aufzukommen. Dass aber ein amtierender Präsident dem Gesundheitssystem seines eigenes Landes - das immerhin noch renommierte Spezialisten wie etwa kompetente Krebsärzte beschäftigt - dermaßen misstraut, dass er sich in der Hauptstadt der ehemaligen Kolonialmacht behandeln lässt, spricht Bände. Zumal die politische Führungsschicht des Landes, deren harter Kern seit den fünfziger Jahren und den damaligen Leitungsstrukturen der Befreiungsbewegung nicht ausgewechselt wurde, sich gerne auf ihre Legitimation durch den antikolonialen Kampf beruft. Um, wenn es nur möglich wäre, gerne bis ans Ende der Ewigkeit an der Macht zu bleiben.

Gerontokratie: auf algerisch – anders als die sowjetische Ausgabe

Das algerische System wird mitunter mit dem sowjetischen verglichen. Aber der Vergleich hinkt an mehreren Stellen. In der UdSSR gab die regierende Einheitspartei die politisch oder ideologisch motivierten Impulse, die sowohl der Militärapparat als auch die ökonomische Maschinerie umzusetzen hatten. Die Produktionsverhältnisse waren von einer zentralstaatlichen und, aufgrund von Bürokratisierung und Entmündigung der Produzierenden, ineffizienten Planwirtschaft geprägt.

In Algerien dagegen herrscht weniger eine plan- als eine planlose Wirtschaft. Die Staatseinnahmen hängen zum absolut überwiegenden Teil an der Ausfuhr zweier Rohstoffe, Erdöl und Gas. Und sie werden genau so lange sprudeln, bis die Reserven zur Neige gehen oder ihr Weltmarktpreis verfällt. Danach wird eine gigantische Katastrophe einsetzen, zumal die Einnahmen des Rentierstaats heute überwiegend für Importe ausgegeben werden – bis auf eine eiserne Reserve, die auf die hohe Kante gelegt wird. Die Devisenreserven des Staates betragen heute rund 200 Milliarden Dollar, aber angesichts der totalen Importabhängigkeit des Landes bei quasi allen Bedarfsgütern wären sie binnen weniger Jahre restlos aufgebraucht, würden die Öl- und Gaseinnahmen absinken.

Unter dem staatssozialistischen Präsidenten Houari Boumedienne (1965-1978) waren die Exporterlöse benutzt worden, um eine Strategie der Import-Substitution durch den Aufbau einer inländischen Produktion zu verfolgen. Die Gesamtstrategie scheiterte in den späten siebziger Jahren aus mehreren Gründen, darunter den örtlichen Verhältnissen unangemessenen Weichenstellungen, Technologiediktaten europäischer Konzerne bei der Auswahl der eingeführten Anlagen und grassierender Korruption. Heute dagegen gibt es seitens der Machthaber nicht einmal einen hauchdünnen Ansatz strategischer Überlegungen zu dem Problem. Algerien war die Kornkammer des Römischen Reiches, produzierte schon vor Jahrhunderten Zitrusfrüche und andere Nahrungsmittel. Heute liegt die Landwirtschaft darnieder, die Orangen kommen aus Alicante in Spanien, und selbst die Gebetsteppiche für praktizierende Muslime stammen mittlerweile aus China.

Im Unterschied zu den Ländern des sowjetischen Blocks regiert auch nicht wirklich eine „führende Partei“. Nicht nur, weil es ein Mehrparteiensystem gibt, in dem allerdings die Nationale Befreiungsfront (FLN) seit 2007 wieder eine hegemoniale Stellung einnehmt, die sie zuvor zehn Jahre lang verloren hatte. Fünf der sechs Kandidaten für die algerische Präsidentschaftswahl kamen aus den Reihen dieser früheren Einheitspartei von 1962 bis 1989.

Unter ihnen Bouteflika (Boutefliqa) selbst – zu dessen Wiederwahl formell insgesamt 26 politische Parteien und Parteichen aufriefen -, sein einziger ernstzunehmender Rivale und Ex-Premierminister ‘Ali Benflis sowie drei weitgehend bedeutungslose Sparringspartner. Die sechste Bewerberin war die angebliche „Trotzkistin“ Louisa Hanoune vom PT („Werktätigenpartei“), in Wirklichkeit eine Linksnationalistin, die viel gegen das westliche Kapital, den IWF oder die USA wettert und sich mitunter mit Hugo Chavez vergleicht, aber die einheimischen Eliten kaum bis gar nicht kritisiert. Im Wahlkampf drückte sie ihre Bewunderung für Bouteflika aus, und sie kandidierte auch nicht wirklich gegen ihn, sondern eher neben und mit ihm. – Mehrere Oppositionsparteien, darunter sämtliche islamistischen Formationen (inklusive der legalen und bis 2012 sogar jahrelang mitregierenden Parteien wie MSP-Hamas), riefen seit längerem zum Wahlboykott auf.

Exlurs: Konkurrenzkandidat’Ali Benflis

Benflis, dem dieses Mal offiziell gut 12 Prozent der Stimmen zugesprochen wurden (12,18 %; bei seinem ersten Versuch anlässlich der Präsidentschaftswahl vom 08. April 2004 waren es offiziell nur 6,42 Prozent gewesen), erkennt das Ergebnis allerdings nicht: Er spricht von Wahlbetrug, wofür er auch einige gute Argumente anzuführen hat. Das Wähler/innen/verzeichnis war ausgesprochen undurchsichtig und intransparent, mancherorts stimmten auch die Toten mit – sicherlich für ihren scheintoten Quasi-Schicksalsgenossen Bouteflika (Boutefliqa) -, es existierten einige fiktive Wahlbüros. Laut den Wahlbeobachter/inne/n der Benflis-Wahlkampagne sollen beispielsweise 19 von insgesamt 35 wandernden Stimmbüros in der Wüstenstadt Adrar fiktiv gewesen sein. Und selbst bei günstigen Voraussetzungen wäre es den Wahlbeobachter/inne/n der meisten Kandidaten (mit Ausnahme Bouteflikas natürlich, der den Staatsapparat hinter sich wusste) schwierig gewesen, den Wahlvorgang flächendeckend-überall zu kontrollieren, aufgrund der außerordentlich hohen Anzahl von Wahlbüros: 60.000 auf einem Staatsgebiet, das ungefähr vier mal so groß ausfällt wie das französische. Wahlbeobachter/inne/n aus dem Lager von ‘Ali Benflis wurde in Algier, Batna oder Aïn Defla der Zugang zu Stimmbüros verwehrt, in Sétif und Tizi Ouzou und anderswo wurden nicht verschlossene Urnen vorgefunden (in die man also in unbeobachteten Momenten etwas hineinlegen konnte), in Algier und Batna wurden Autos mit Stimmzetteln ausschließlich für Abdelaziz Bouteflika an Bord gesichtet…

Und nun will ’Ali Benflis künftig eine eigene Partei gründen. Revolutionär ist er keiner: Zu seinem Wahlprogramm zählte auch die Privatisierung von Staatsunternehmen, weil sie ineffizient seien (gut, ausgesprochen ineffizient sind sie im aktuellen Zustand mitunter tatsächlich…), mitsamt der Entlassung von „überproportional vorhandenem Personal“.

Zurück zum FLN:

Dennoch – trotz der erneut dominierenden Stellung ihrer Partei - haben die FLN-Parteistrukturen kaum einen Einfluss auf die politischen Entscheidungen. Sehr im Unterschied etwa zu jenen der KPdSU von dereinst. Regiert wird in einem kleinen Führungszirkel der oligarchischen Führungsschichten, dem der Familienclan Bouteflikas – an herausragender Stelle steht sein Bruder Said -, hochrangige Militärs, aber auch private Wirtschaftsführer angehören. Letztere haben allerdings für Algeriens Ressourcen eine weitgehend parasitäre Stellung: Diese Wirtschaftsmagnaten akkumulieren kein Kapital im Land, sondern sind fast ausschließlich im Erdölsektor sowie im Import-Export-Sektor tätig, verprassen die Ressourcen des Landes für Einfuhren und legen ihr Geld oft im europäischen Ausland an.

Furcht vor Umwälzungsgefahr

Diese Kreise hatten aufgrund der Ereignisse in der geographischen Umgebung seit Anfang 2011 – insbesondere Tunesien, Libyen und Ägypten – zunehmend Furcht vor einer Wiederholung ähnlicher Entwicklung auch in ihrem Land bekommen. Auf den „Arabischen Frühling“ reagiert die Führungsschicht, indem sie ihn ausschließlich als Komplott einer schlecht definierten „ausländischen Hand“ darstellt. Und obwohl die algerische Machtstruktur kaum mit dem syrischen Folterregime zu vergleichen ist, sind Algeriens Regierung sowie die ägyptische Militärdiktatur heute die wichtigsten Unterstützer des Assad-Regimes gegen die vermeintliche „von außen gesteuerte Destabilisierung in Syrien und der Region“. Dazu gehört auch ein äußerst harscher Umgang mit den syrischen Flüchtlingen, die im Januar und Februar 2014 mehrfach zwischen Algerien und dem Nachbarland Marokko hin- und hergeschoben wurden. Am Montag, den 21. April 14 erklärte FLN-Parteichef Ahmed Saadani zu Protesten gegen die mutmaßlich manipulierte Wahl: „Wer den Arabischen Frühling in unserem Land importieren möchte, kennt Algerien schlecht!“

Diese Furcht ist es, die das Führungssystem lähmt. Ein Teil der regierenden Elite hatte sich in den ersten Jahreswochen aus Gründen der Staatsräson dafür ausgesprochen, auf eine „Wiederwahl“ Bouteflikas zu verzichten und stattdessen auf Ali Benflis als Sachwalter einer Kontinuität des Systems zu setzen. Mitte Februar 2014 kam es deswegen sogar zu einem offenen Streit zwischen Armeegenerälen und der Führung des DRS (Abteilung für Nachrichtenwesen und Sicherheit), der mächtigen politischen Polizei. FLN-Chef Ahmad Saadani, welcher Bouteflika unterstützt, kofferte damals ebenfalls offen gegen die Machtfülle des DRS, das anscheinend aus Gründen der Staatsraison einer erneuten Kandidatur des alternden Präsidenten nicht gar so zugeneigt schien (vgl. auch http://www.lemonde.fr/afrique/article/2014/02/12/crise-ouverte-a-la-tete-de-l-armee-algerienne_4364923_3212.html ).

Der in Lyon lehrende, algerischstämmige Politikwissenschaftler Lahouari Addi glaubte sogar, in Wirklichkeit sei Benflis „der Kandidat des Systems“, und Bouteflikas Kandidatur diene nur zur Ablenkung davon. Doch die panische Furcht vor jeglicher Änderung hat die Oberhand behalten. Sie führte nun dazu, dass eine lebende Leiche weiterhin im Präsidentenpalast von E-Mouaradia sitzt. „Nicht einmal in Ägypten kommen sie auf die Idee, Mumien zu wählen“, höhnt die algerische Straße dazu.

Im Land herrscht ansonsten aber durchaus keine Friedhofsruhe. Am Sonntag, den 19. April zündeten protestierende Arbeitslose den Gouverneurssitz in Ouragla, im Süden Algeriens, an und setzten ihn in Brand.

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.