Am 1. März
1984 verkündete der National Coal Board (NCB) ein
umfangreiches Zechenschließungsprogramm für Großbritannien.
Allein im laufenden Jahr sollten zwanzig Zechen geschlossen
und insgesamt 20.000 Bergleute entlassen werden.
[1]
Zwölf Tage
später begann der nationale Streik der Gewerkschaft NUM
(National Union of Mineworkers), um die Pläne der staatlichen
Kohlebehörde zu verhindern. Die über drei Wochen andauernden
Auseinandersetzungen um die Kokerei Orgreave (bei Sheffield)
im Juni 1984 bildeten dabei einen Höhepunkt des einjährigen
britischen Bergarbeiterstreiks, der im März 1985 mit einer
vollständigen Niederlage der NUM endete.
Aber es ging
nicht „nur“ um einen gewerkschaftlichen Kampf zum Erhalt der
Arbeitsplätze. Der gesamte Lebenszusammenhang der Bergleute und
ihrer Familien, das Überleben der Bergarbeiterkommunen standen
zur Disposition. Die Deindustrialisierungspolitik der
Tory-Regierung, die keinen organisierten und sozial akzeptablen
Strukturwandel in den betroffenen Regionen versuchte, setzte
darauf, dass mit der Industrie auch die politische Opposition
verschwinden würde. Der „miners’ strike“ war also auch ein
politischer Kampf gegen den Versuch Thatchers, ihr neoliberales
Manifest gegen die bestehenden gesellschaftlichen Widerstände
durchzusetzen. Die Premierministerin führte einen „Klassenkampf
von oben“, dabei musste sie die stärkste Kraft der britischen
Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung – die Streikbereitschaft und
-fähigkeit der in der NUM organisierten Bergarbeiter – brechen.
Der politische Kampf der NUM und ihrer Sympathisanten ist
insofern nicht von den rein gewerkschaftlichen Zielen zu
trennen.
In den 1970er Jahren hatten eine
Reihe von siegreichen regionalen und nationalen Arbeitskämpfen
zu einem Machtzuwachs der NUM geführt und sie zur Speerspitze
der Gewerkschaftsführung gemacht. Nach ihrem Regierungsantritt
1979 sagten die Konservativen den Gewerkschaften deshalb offen
den Kampf an: Die antigewerkschaftliche Gesetzgebung wurde
forciert, der Polizeiapparat militarisiert, der
Inlandsgeheimdienst MI 5 zur Informationsbeschaffung auf die
Gewerkschaftsführer angesetzt, der Propagandaapparat in Bewegung
gesetzt. [2] Der Bergarbeiterstreik zeigte in seinem Verlauf
deutlich die Grenzen des bürgerlich-liberalen Rechtsstaats auf.
Dazu gehörte, dass Thatcher den Streik mit dem Falklandkrieg von
1982 verglich und die widerständigen Bergarbeiter als „Feind im
Innern“ bezeichnete, der schwieriger zu bekämpfen und
gefährlicher für die Freiheit sei als der Kriegsgegner im
Südatlantik.
Die Taktik des „mass picketing“
und der Einsatz von „flying pickets“ – d.h. von Streikposten,
die auch Betriebe blockierten, die nicht an dem Streik direkt
beteiligt waren – und die damit in Verbindung gebrachten
Gewaltausbrüche an den Zechentoren wirkten sich letztlich
verheerend auf das Bild der NUM in der Öffentlichkeit aus. Denn
die sollte jeden Abend den Eindruck gewinnen,
bürgerkriegsähnliche Zustände hätten das Land eingeholt. Ganz im
Sinne der Premierministerin, die unermüdlich in ihren Reden
betonte, dass die Demokratie gegen einen ungesetzlich agierenden
und auf den Sturz der Regierung abzielenden Gewerkschaftsführer
(Arthur Scargill) zu verteidigen sei und dass sich die „rule of
law“ gegen die „rule of mob“ zu behaupten hätte. Die permanente
Rede von der „Gewalttätigkeit des Mobs“ verfehlte ihre Wirkung
in der Öffentlichkeit nicht. Die Kriminalisierung der
streikenden Bergarbeiter, ihre Identifizierung als Staatsfeinde
schufen die Akzeptanz für den unerbittlichen Polizeieinsatz auch
in Orgreave.
Die Kokerei in Orgreave, nur
wenige Kilometer von der NUM-Zentrale in Sheffield entfernt,
produzierte Koks für ein Stahlwerk der staatlichen Gesellschaft
British Steel. Der Versuch von über 6.000 aus allen
Landesteilen zusammengetrommelten Bergarbeitern, die Anlage
durch ihre massenhafte Anwesenheit zu blockieren und zeitweilig
stillzulegen, scheiterte letztlich jedoch. Es gelang nicht, den
Betrieb mit der Strategie des „mass picketing“ entscheidend zu
stören und die Kokstransporte durch Lastwagen zu behindern.
Ins kollektive Gedächtnis der
Streikenden und ihrer Sympathisanten eingeschrieben haben sich
dabei vor allem die gewalttätigen Zusammenstöße zwischen der
Polizei und den Bergarbeitern am 18. Juni. Die Ereignisse sind
auf einer Vielzahl von Fotos und Videofilmen dokumentiert. Ein
symbolträchtiges Foto wurde später zu einer Ikone der so
genannten Schlacht von Orgreave und damit berühmt. [3] Denn es
zeigt, wie ein berittener Polizist in Kampfmontur eine junge
Frau mit seinem Schlagstock attackiert – eine Frau, die in einer
Hand eine Kamera hält und mit der anderen Hilfe für einen
Verletzten heranwinken will. Es handelte sich um Leslie Bolton,
Mitglied der Bürgerrechtsorganisation Police Watch und
von Women Against Pit Closures, die die Vorgänge vor den
Toren der Kokerei dokumentieren und das Verhalten der Polizei
kritisch beobachten wollte. Der Vorfall steht exemplarisch für
die brutale Polizeistrategie im Verlaufe des gesamten Streiks,
aber auch für die Voreingenommenheit der Medien, die maßgeblich
dafür sorgten, dass die öffentliche Meinung gegen die
Bergarbeiter Stellung bezog.
Die zahlenmäßig in gleicher Stärke
wie die „flying pickets“ aufgebotenen Polizisten – viele
für die Aufstandsbekämpfung trainiert und entsprechend
ausgestattet – gingen mit außergewöhnlicher und bis dahin nur im
Rahmen der „riots“ von 1981 in Brixton (London) und Toxteth
(Liverpool) bekannten Härte vor. Dazu gehörten das
furchteinflößende rhythmisches Trommeln mit Schlagstöcken auf
Tausenden von Polizeischilden oder frontale Reiterattacken auf
schutzlose Menschenmengen. Sogar Schäferhunde wurden auf die
Bergleute gehetzt. Die Bilder blutüberströmter Gesichter sind
gut dokumentiert.
Die Ereignisse führten jedoch
keineswegs dazu, dass sich an den folgenden Tagen das Fernsehen
und die Presse über die Polizeiwillkür entsetzten. Vielmehr
wurden die Gewalttätigkeiten einseitig den Streikenden
angelastet. Die BBC beispielsweise vermittelte einen völlig
falschen Eindruck von den Ereignissen des Tages. Zwar wurden in
ihrer Hauptnachrichtensendung Reiterattacken der Polizei und
Steine werfende Streikende gezeigt, jedoch so, dass der Eindruck
entstand, die Gewalt wäre von den Bergleuten ausgegangen – was
nach Augenzeugen nachweislich nicht der Fall war. [4] Der
SPIEGEL schlug in die gleiche Kerbe: „Die Kumpel bauten
Barrikaden, zündeten Autos an und benutzten Telegraphenmasten
als Rammböcke. Angreifer warfen Flaschen, Ziegelsteine und mit
Nägeln gespickte Kartoffeln. Die Verteidiger wehrten sich mit
Knüppelschlägen und schickten Berittene nach vorn.“ [5] Auch der
fotografisch dokumentierte Brutaloeinsatz des berittenen
Polizisten auf Leslie Bolton interessierte die britische Presse
nicht. Das Foto wurde nur von einer überregionalen Zeitung
publiziert (von 17 damals erscheinenden landesweiten Blättern).
Mit ihrer Voreingenommenheit
lenkten die Medien damit zum einen von den Zielen der
Bergarbeiter ab, zum anderen von dem systematischen
strategischen Vorgehen der seit Jahren auf derartige Einsätze
vorbereiteten Polizeikräfte. Die Streikenden wurden mit einer
massiven ideologische Ablehnungsfront konfrontiert, was auf
Dauer auf sie desillusionierend wirkte. Hinzu kam, dass große
Teile der britischen Arbeiterschaft sich zunehmend von den
„miners“ distanzierten. [6] Nachdem am 3. März 1985 der Streik
ohne Vereinbarung mit dem NCB abgebrochen worden war, kehrten
viele Bergleute besiegt aber nicht gebrochen mit Blaskapellen
und Gewerkschaftsfahnen zurück in die Zechen. Blasmusik und
Freudengesänge ertönten auch im April 2013 in vielen ehemaligen
„mining communities“ – als sarkastische Reaktion auf die
Nachricht vom Tod Margaret Thatchers und in Erinnerung an den
traumatisch erlebten Krieg der damaligen Regierung gegen die
Bergarbeiter und ihre Angehörigen in den 1980er Jahren.
Anmerkungen:
[1] Am Anfang des Streiks
beschäftigte das NCB 208.000 Bergleute, von denen 184.000 der
NUM angehörten. Innerhalb der nächsten zehn Jahre waren bereits
90 Prozent der Jobs verloren. 2010 gab es noch etwa 5.700
Bergarbeiter, davon waren 1.600 Mitglieder der NUM, 1.000 in der
Konkurrenzgewerkschaft UDM. (vgl. Andy Smith,
No such thing as society. A history of Britain in the 1980s,
London, 2011, S. 169f.). Nach offiziellen Angaben der
staatlichen „Coal Authority“ arbeiteten Ende März 2013 genau
5.444 in den verbliebenen 45 Zechen (9,8 Prozent weniger als im
Vorjahr); vgl. The Coal Authority, Annual Reports and Accounts
2012-2013, July 2013, S. 86.
[2] David Peace beschreibt in
seinem Roman „GB84“ (original 2004, dt. 2014) ein Land in einem
einjährigen Ausnahmezustand, geprägt vor allem von illegalen
Aktionen der Regierungskräfte (Täuschungsversuche, Einsatz von
Spionen, Abhören von Telefonen, Bestechung williger
Streikbrecher etc.).
[3]
http://www.bbc.co.uk
[4] vgl.
Francis Beckett/David Hencke, Marching to the Fault Line: The
Miners’ Strike and the Battle for Industrial Britain, London,
2009, S. 99.
[5] DER SPIEGEL 29/1984,
16.07.1984, S. 72.
[6] Vor allem wegen der angeblich
fehlenden Legalität des Streiks, denn eine Urabstimmung war
unterblieben. Bei einer Streikbeteiligung von 80 Prozent der
Mitglieder kann jedoch von fehlender Legitimität nicht
gesprochen werden.
Editorische
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