Der Britische Bergarbeiterstreik vor 30 Jahren
Erinnerung an die „Schlacht von Orgreave“ am 18. Juni 1984

von Joachim Maiworm

5/6-2014

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Am 1. März 1984 verkündete der National Coal Board (NCB) ein umfangreiches Zechenschließungsprogramm für Großbritannien. Allein im laufenden Jahr sollten zwanzig Zechen geschlossen und insgesamt 20.000 Bergleute entlassen werden. [1]

Zwölf Tage später begann der nationale Streik der Gewerkschaft NUM (National Union of Mineworkers), um die Pläne der staatlichen Kohlebehörde zu verhindern. Die über drei Wochen andauernden Auseinandersetzungen um die Kokerei Orgreave (bei Sheffield) im Juni 1984 bildeten dabei einen Höhepunkt des einjährigen britischen Bergarbeiterstreiks, der im März 1985 mit einer vollständigen Niederlage der NUM endete.

Aber es ging nicht „nur“ um einen gewerkschaftlichen Kampf zum Erhalt der Arbeitsplätze. Der gesamte Lebenszusammenhang der Bergleute und ihrer Familien, das Überleben der Bergarbeiterkommunen standen zur Disposition. Die Deindustrialisierungspolitik der Tory-Regierung, die keinen organisierten und sozial akzeptablen Strukturwandel in den betroffenen Regionen versuchte, setzte darauf, dass mit der Industrie auch die politische Opposition verschwinden würde. Der „miners’ strike“ war also auch ein politischer Kampf gegen den Versuch Thatchers, ihr neoliberales Manifest gegen die bestehenden gesellschaftlichen Widerstände durchzusetzen. Die Premierministerin führte einen „Klassenkampf von oben“, dabei musste sie die stärkste Kraft der britischen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung – die Streikbereitschaft und -fähigkeit der in der NUM organisierten Bergarbeiter – brechen. Der politische Kampf der NUM und ihrer Sympathisanten ist insofern nicht von den rein gewerkschaftlichen Zielen zu trennen.

In den 1970er Jahren hatten eine Reihe von siegreichen regionalen und nationalen Arbeitskämpfen zu einem Machtzuwachs der NUM geführt und sie zur Speerspitze der Gewerkschaftsführung gemacht. Nach ihrem Regierungsantritt 1979 sagten die Konservativen den Gewerkschaften deshalb offen den Kampf an: Die antigewerkschaftliche Gesetzgebung wurde forciert, der Polizeiapparat militarisiert, der Inlandsgeheimdienst MI 5 zur Informationsbeschaffung auf die Gewerkschaftsführer angesetzt, der Propagandaapparat in Bewegung gesetzt. [2] Der Bergarbeiterstreik zeigte in seinem Verlauf deutlich die Grenzen des bürgerlich-liberalen Rechtsstaats auf. Dazu gehörte, dass Thatcher den Streik mit dem Falklandkrieg von 1982 verglich und die widerständigen Bergarbeiter als „Feind im Innern“ bezeichnete, der schwieriger zu bekämpfen und gefährlicher für die Freiheit sei als der Kriegsgegner im Südatlantik.

Die Taktik des „mass picketing“ und der Einsatz von „flying pickets“ – d.h. von Streikposten, die auch Betriebe blockierten, die nicht an dem Streik direkt beteiligt waren – und die damit in Verbindung gebrachten Gewaltausbrüche an den Zechentoren wirkten sich letztlich verheerend auf das Bild der NUM in der Öffentlichkeit aus. Denn die sollte jeden Abend den Eindruck gewinnen, bürgerkriegsähnliche Zustände hätten das Land eingeholt. Ganz im Sinne der Premierministerin, die unermüdlich in ihren Reden betonte, dass die Demokratie gegen einen ungesetzlich agierenden und auf den Sturz der Regierung abzielenden Gewerkschaftsführer (Arthur Scargill) zu verteidigen sei und dass sich die „rule of law“ gegen die „rule of mob“ zu behaupten hätte. Die permanente Rede von der „Gewalttätigkeit des Mobs“ verfehlte ihre Wirkung in der Öffentlichkeit nicht. Die Kriminalisierung der streikenden Bergarbeiter, ihre Identifizierung als Staatsfeinde schufen die Akzeptanz für den unerbittlichen Polizeieinsatz auch in Orgreave.

Die Kokerei in Orgreave, nur wenige Kilometer von der NUM-Zentrale in Sheffield entfernt, produzierte Koks für ein Stahlwerk der staatlichen Gesellschaft British Steel. Der Versuch von über 6.000 aus allen Landesteilen zusammengetrommelten Bergarbeitern, die Anlage durch ihre massenhafte Anwesenheit zu blockieren und zeitweilig stillzulegen, scheiterte letztlich jedoch. Es gelang nicht, den Betrieb mit der Strategie des „mass picketing“ entscheidend zu stören und die Kokstransporte durch Lastwagen zu behindern.

Ins kollektive Gedächtnis der Streikenden und ihrer Sympathisanten eingeschrieben haben sich dabei vor allem die gewalttätigen Zusammenstöße zwischen der Polizei und den Bergarbeitern am 18. Juni. Die Ereignisse sind auf einer Vielzahl von Fotos und Videofilmen dokumentiert. Ein symbolträchtiges Foto wurde später zu einer Ikone der so genannten Schlacht von Orgreave und damit berühmt. [3] Denn es zeigt, wie ein berittener Polizist in Kampfmontur eine junge Frau mit seinem Schlagstock attackiert – eine Frau, die in einer Hand eine Kamera hält und mit der anderen Hilfe für einen Verletzten heranwinken will. Es handelte sich um Leslie Bolton, Mitglied der Bürgerrechtsorganisation Police Watch und von Women Against Pit Closures, die die Vorgänge vor den Toren der Kokerei dokumentieren und das Verhalten der Polizei kritisch beobachten wollte. Der Vorfall steht exemplarisch für die brutale Polizeistrategie im Verlaufe des gesamten Streiks, aber auch für die Voreingenommenheit der Medien, die maßgeblich dafür sorgten, dass die öffentliche Meinung gegen die Bergarbeiter Stellung bezog.

Die zahlenmäßig in gleicher Stärke wie die „flying pickets“ aufgebotenen Polizisten – viele für die Aufstandsbekämpfung trainiert und entsprechend ausgestattet – gingen mit außergewöhnlicher und bis dahin nur im Rahmen der „riots“ von 1981 in Brixton (London) und Toxteth (Liverpool) bekannten Härte vor. Dazu gehörten das furchteinflößende rhythmisches Trommeln mit Schlagstöcken auf Tausenden von Polizeischilden oder frontale Reiterattacken auf schutzlose Menschenmengen. Sogar Schäferhunde wurden auf die Bergleute gehetzt. Die Bilder blutüberströmter Gesichter sind gut dokumentiert.

Die Ereignisse führten jedoch keineswegs dazu, dass sich an den folgenden Tagen das Fernsehen und die Presse über die Polizeiwillkür entsetzten. Vielmehr wurden die Gewalttätigkeiten einseitig den Streikenden angelastet. Die BBC beispielsweise vermittelte einen völlig falschen Eindruck von den Ereignissen des Tages. Zwar wurden in ihrer Hauptnachrichtensendung Reiterattacken der Polizei und Steine werfende Streikende gezeigt, jedoch so, dass der Eindruck entstand, die Gewalt wäre von den Bergleuten ausgegangen – was nach Augenzeugen nachweislich nicht der Fall war. [4] Der SPIEGEL schlug in die gleiche Kerbe: „Die Kumpel bauten Barrikaden, zündeten Autos an und benutzten Telegraphenmasten als Rammböcke. Angreifer warfen Flaschen, Ziegelsteine und mit Nägeln gespickte Kartoffeln. Die Verteidiger wehrten sich mit Knüppelschlägen und schickten Berittene nach vorn.“ [5] Auch der fotografisch dokumentierte Brutaloeinsatz des berittenen Polizisten auf Leslie Bolton interessierte die britische Presse nicht. Das Foto wurde nur von einer überregionalen Zeitung publiziert (von 17 damals erscheinenden landesweiten Blättern).

Mit ihrer Voreingenommenheit lenkten die Medien damit zum einen von den Zielen der Bergarbeiter ab, zum anderen von dem systematischen strategischen Vorgehen der seit Jahren auf derartige Einsätze vorbereiteten Polizeikräfte. Die Streikenden wurden mit einer massiven ideologische Ablehnungsfront konfrontiert, was auf Dauer auf sie desillusionierend wirkte. Hinzu kam, dass große Teile der britischen Arbeiterschaft sich zunehmend von den „miners“ distanzierten. [6] Nachdem am 3. März 1985 der Streik ohne Vereinbarung mit dem NCB abgebrochen worden war, kehrten viele Bergleute besiegt aber nicht gebrochen mit Blaskapellen und Gewerkschaftsfahnen zurück in die Zechen. Blasmusik und Freudengesänge ertönten auch im April 2013 in vielen ehemaligen „mining communities“ – als sarkastische Reaktion auf die Nachricht vom Tod Margaret Thatchers und in Erinnerung an den traumatisch erlebten Krieg der damaligen Regierung gegen die Bergarbeiter und ihre Angehörigen in den 1980er Jahren.

Anmerkungen:

[1] Am Anfang des Streiks beschäftigte das NCB 208.000 Bergleute, von denen 184.000 der NUM angehörten. Innerhalb der nächsten zehn Jahre waren bereits 90 Prozent der Jobs verloren. 2010 gab es noch etwa 5.700 Bergarbeiter, davon waren 1.600 Mitglieder der NUM, 1.000 in der Konkurrenzgewerkschaft UDM. (vgl. Andy Smith, No such thing as society. A history of Britain in the 1980s, London, 2011, S. 169f.). Nach offiziellen Angaben der staatlichen „Coal Authority“ arbeiteten Ende März 2013 genau 5.444 in den verbliebenen 45 Zechen (9,8 Prozent weniger als im Vorjahr); vgl. The Coal Authority, Annual Reports and Accounts 2012-2013, July 2013, S. 86.

[2] David Peace beschreibt in seinem Roman „GB84“ (original 2004, dt. 2014) ein Land in einem einjährigen Ausnahmezustand, geprägt vor allem von illegalen Aktionen der Regierungskräfte (Täuschungsversuche, Einsatz von Spionen, Abhören von Telefonen, Bestechung williger Streikbrecher etc.).

[3] http://www.bbc.co.uk

[4] vgl. Francis Beckett/David Hencke, Marching to the Fault Line: The Miners’ Strike and the Battle for Industrial Britain, London, 2009, S. 99.

[5] DER SPIEGEL 29/1984, 16.07.1984, S. 72.

[6] Vor allem wegen der angeblich fehlenden Legalität des Streiks, denn eine Urabstimmung war unterblieben. Bei einer Streikbeteiligung von 80 Prozent der Mitglieder kann jedoch von fehlender Legitimität nicht gesprochen werden.

Editorische Hinweise

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