Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Frankreich-Belgien-Syrien: Terror nach der Rückkehr
Ein französischer Jihadist und früherer Syrienkämpfer (im Jahr 2013) ist der Täter, der Ende Mai dieses Jahres vier Menschen im Jüdischen Museum in Brüssel tötete.

5/6-2014

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Vorbemerkung: Der Artikel wurde am  10. Juni 14 während der TREND-Redaktionsferien verfasst. Dazu ein aktueller Zusatz vom 20.06.14: Unterdessen geht der „Jihad-Tourismus“ aus Frankreich, und wohl auch aus anderen EU-Ländern, in Richtung Syrien munter weiter. Mittlerweile wird eine 14jährige Heranwachsende aus der Pariser Vorstand Argentueil verdächtigt, zum „Jihad“ in Syrien aufgebrochen zu sein… (Vgl. dazu http://actu.orange.fr und http://www.lefigaro.fr/ )

Bring the war home: Diese Devise könnte, so fürchten es unter anderem die Innenminister/innen der EU, in Bälde von einer noch unbekannten Anzahl von Rückkehrern aus dem Bürgerkriegsland Syrien in die Tat umgesetzt werden. Natürlich anders, als die ursprünglichen linken Urheber des Slogans - die ihn um 1970 herum aufbrachten, um den innenpolitischen Druck an der "Heimatfront" in den USA zu erhöhen und die Beendigung des Vietamkriegs politisch zu erzwingen - dies mit ihrer Parole intendierten.

Wenn es auch nicht um einen echten Krieg handelt, den jihadistisch motivierte Syrien-Rückkehrer in den Ländern dr EU entfachten könnten, dann doch um Terroranschläge und Gewalttaten. Nicht im Visier stehen dabei allem Anschein nach Vertretungen oder Interessen des syrischen Ba‘ath-Regimes, zu dessen Bekämpfung die Kombattanten vorgeblich oder tatsächlich in das Land im östlichen Mittelmeerraum reisten. Bislang wurde jedenfalls nicht davon bekannt, dass Konsulate des syrischen Regimes im Ausland attackiert worden wären oder dass syrische Investitionen im Ausland als in erhöhtem Ausmaß gefährdet betrachtet wurden. Der Onkel von Präsident Bascher Al-Assad, Rifaat Al-Assad, weist beispielsweise noch immereinen bedeutenden Immobilienbesitz in Paris, Auch wenn im September 13 publik wurde, er wolle sie vielleicht veräußern, und im April 2014 nunmehr zwei Untersuchungsrichter mit Ermittlungen über etwaige Unregelmäßigkeiten bei ihrem Erwerb betraut wurden.

Am 24. Mai dieses Jahres beging ein allein handelnder Täter einen mehrfachen Mordanschlag im Jüdischen Museum in Brüssel. Kaltblütig schoss er aus nächster Nähe auf mehrere Menschen. Drei Personen starben dabei sofort: das junge israelische Ehepaar Emmanuel und Miriam Riva und eine ehrenamtliche Mitarbeiterin des sehr bekannten Museums, die 66jährige Französin Dominique Sabrier. Der 24jährige belgische Museumsangestellte Alexandre Strens wurde mit schwersten Verletzungen in ein Krankenhaus eingeliefert und bald für hirntot erklärt. Am 06. Juni 14 wurde sein klinischer Tod vermeldet.

Der Täter war ein Franzose. Er wurde bei einer Kontrolle am 30. Mai d.J. am zentralen Busbahnhof von Marseille aufgegriffen. Der französische Zoll hatte einen Bus, der aus Amsterdam über Brüssel eingetroffen war, kontrolliert und im Gepäck des 29jährigen Mehdi Nemmouche eine zusammenlegbare Kalaschnikow und einen Revolver gefunden. Dieselben Waffen, die sechs Tage zuvor in Brüssel bei dem Mordanschlag verwendet worden waren. Nemmpuche äußerte sich zunächst nicht zur Sache. Bei seiner polizeilichen Ingewahrsamnahme tauchte dann aber auch noch ein knapp einminütiges Video von dem Terrorakt auf, das er bei sich trug. Mehdi Nemmouche soll durch die französischen Behörden an ihre belgischen Amtskollegen, die einen Auslieferungsantrag stellten, ausgeliefert werden. Nemmouche hatte zunächst erklärt, auf sein Einspruchsrecht zu verzichten, doch vergangene Woche legte sein Anwalt dann doch noch Widerspruch gegen das Auslieferungsbegehren ein. Darüber soll Mitte dieser Woche entschieden werden.

Schnell ergaben die Ermittlungen, dass Mehdi Nemmouche das ganze Jahr 2013 über als Kombattant in den Reihen der Jihadisten in Syrien verbracht hatte. Zuvor war er am 04. Dezember 2012 aus einer Haftanstalt in Toulon freigekommen, wo er wegen einer Reihe kleinkrimineller Delikte fünf Jahre absitzen musste. Nemmouche war in der Haft mit salafistischen Lehren in Berührung gekommen und hatte sich deren Verlauf ideologisch radikalisiert.

In seinem vorherigen Leben hatte er keinerlei Interesse etwa an Religion bekundet. Er war als Kind einer algerischen Mutter und eines unbekannten Vaters im nordfranzösischen Roubaix geboren wurden. Im Alter von drei Monaten hatte die Mutter, die unter massiven psychischen Problemen litt, ihn jedoch aufgegeben. Er wurde vom Jugendschutz in einer Gastfamilie auf dem Land in der Nähe von Tourcoing platziert, feierte Weihnachten mit ihr, war zunächst ein guter Schüler - er schaffte es bis zum Abitur, gab seine Ansätze zum Weiterstudieren jedoch auf - und kam dann aber im Laufe seiner Jugend auf die schiefe Bahn. Allem Anschein nach war seine Persönlichkeit jedoch autoritär strukturiert, er litt unter der Abwesenheit einer Vaterfigur sowie dem Gefühl des Aufgegebenseins durch seine Herkunftsfamilie und verspürte Probleme bei der Herausbildung einer persönlichen Identität. Deswegen verwarf er in er Schule und außerhalb von ihr jegliche bestehende Autorität, beging zahlreiche Delikte und wurde im Alter von 16 erstmals inhaftiert. Offensichtlich verschaffte ihm seine Bekehrung zur salafistischen Doktrin die Möglichkeit, sich mit einer vermeintlich unhinterfragbaren Autorität zu identifizieren.

Die Konversion in der Haft wirft ernsthafte Probleme auf, zeigt sie doch, dass zumindest manche straffälligen Personen "schlimmer" aus dem Gefängnis herauskommen, als sie hineingingen. Salafistische Netzwerke füllen die geistige Leere in den Haftanstalten aus, die dort etwa durch die häufige Beschäftigungslosigkeit erleichtert wird, und rekrutieren neue Anhänger. Die satirische französische Fernsehsendung Les Guignols de l'info ließ in einem sarkastischen Schluss den Regierungschef Manuel Valls dazu sagen: „Als Sicherheitsmaßnahme habe ich angeordnet, alle einsitzenden Radikalislamisten sofort freizulassen." Dies kann sicherlich nicht die Lösung sein, ebenso zeigt sich aber, wie wenig Auswege rein repressive Antworten und das bestehende Justiz- und Gefängnissystem offenkundig zu bieten haben.

ISIL-Terror

Kurze Zeit nach seiner Haftentlassung reiste Nemmouche bereits über Brüssel, London, Beirut und Istanbul nach Syrien. Dort kämpfte er laut behördlichen Informationen in den Reihen der Gruppierung „Islamischer Staat im Irak und der Levante“ (ISIL, oder arabisch „Da‘isch“ für Dawlat al-islamyi Al-Iraq wal Scham). Es handelt sich dabei um eine der beiden Gruppen in Syrien, die dem Netzwerk Al-Qaida angegliedert sind, neben der Al Nosra-Front. Beide bekriegen sich jedoch gegenseitig, und Al-Nosra führte im April 14 sogar einen Selbstmordanschlag gegen die Rivalen von ISIL durch. Aus diesem Anlass wurde der Tod des ebenfalls in Syrien kämpfenden deutschen Rappers Denis Mamadou Couspert alias „Deso Dogg“ vermeldet, danach jedoch als „Personenverwechslung“ dementiert. Die Al Nosra-Front fährt eine etwas offenere Strategie, die versucht, verschiedene Gegner des amtierenden syrischen Regimes zu sammeln, um militärische Stärke gegen das Baath-Regime gewinnen zu können. ISIL nimmt hingegen keinerlei Rücksichten, terrorisiert in den von ihr kontrollierten Ortschaften die ansässigen Zivilisten und versucht, der Bevölkerung ihr ganzes ideologisches Programm aufzuzwingen - was objektiv dem Regime in die Hände arbeitet, das in vielen Teilen Syriens allmählich als "kleineres Übel" wahrgenommen wird. Zwischen ISIL und syrischen Kurden kam es mehrfach zu Kämpfen mit hunderten von Toten.

// AKTUELLER ZUSATZ DAZU VOM 20. Juni 14: Durch die in weiten Teilen des ’Iraq – eingedeutscht „Irak“ – losgetretene Offensive von ISIL respektive Da’isch kamen weite Teile im Westen dieses Landes zwischen dem 10. und dem 13. Juni dieses Jahres unter Kontrolle dieser Jihadistentruppe. Mittlerweile reicht die Zone, die unter Kontrolle von ISIL steht, von den Vororten der ‘iraqischen Hauptstadt Baghdad bis zu den Vororten von Aleppo in Syrien. Aus dem Nord’iraq wird über massive Kriegsverbrechen von ISIL berichtet, mutmaßlich beging die Gruppierung dort u.a. die Hinrichtung von 1.700 gefangenen Soldaten der Regierungsstreitkräfte. ISIL versteckt solche Terrortaten nicht, sondern stellt selbst Fotos dazu ins Internet, in denen zudem die rote Farbe des vergossenen Bluts durch Bildbearbeitung künstlich hervorgehoben wurde. //

Eine der Fragen, die sich Beobachter nach der Identifizierung des Täters von Brüssel stellen, ist, ob ISIL als Organisation mit dem Anschlag zu tun hat oder aber ob Mehdi Nemmouche unabhängig von den Strukturen der Gruppierung handelte. Bislang beschränkte sich die Strategie von ISIL auf Syrien und den Iraq, und falls die Gruppierung den Auftrag zu den Morden in Brüssel gegeben haben sollte, dann hätte sie damit ihre bisherige regionale Begrenzung aufgegeben. Dies ist jedoch bislang nicht belegt.

Syrienkombattanten werden oft mit drastischen Bildern über die - sehr reale - Brutalität des dort amtierenden Regimes rekrutiert, mit dem Argument, man müsse den bedrängten Glaubensbrüdern und -schwestern dort zu Hilfe eilen. Kombiniert wird dies bei Salafisten und Jihadisten mit dem Verweis darauf, dass die syrischen Machthaber zu der konfessionellen Minderheit der Alawiten gehörten, also zu "Ketzern" aus orthodox-sunnistischer Sicht, um dem Kampf in Syrien den Anschein eines Religionskriegs zu geben. Manche späteren Kombattanten, die sich agitieren lassen, scheinen tatsächlich von dieser Argumentation auf der Grundlage einer realen Empörung über die brachiale Repression in Syrien gewonnen worden zu sein. Mehdi Nemmouche begeisterte sich allerdings zuerst für eine in Frankreich begangene Terrortat, bevor er in Richtung Syrien aufbrach. Im März 2012 tötete der ebenfalls jihadistisch inspirierte Terrorist Mohammed Merah in Südwestfrankreich drei Soldaten, und dann an einer jüdischen Privatschule drei Schüler und deren Lehrer. Nemmouche hatte sich bis dahin geweigert, einen Fernseher in seiner Zelle zu besitzen - die Medien verbreiteten ohnehin nur ungläubige Lügen -, ließ sich jedoch in der Haftanstalt einen Fernseher bringen, als er von den Taten Merahs hörte. Die Belagerung der Wohnung in Toulouse, in welcher er sich verschanzt hatte, und ihre Erstürmung durch die Polizei wurde damals, kurz vor der französischen Präsidentschaftswahl, intensiv medial in Szene gesetzt.

Der spätere Syrieneinsatz scheint für Nemmouche also vor allem dazu gedient zu haben, militärische Fronterfahrung und Kenntnisse im Ungang mit Waffen zu sammeln, und nicht auf einer speziell mit Syrien zusammenhängenden Motivation beruht zu haben. Vor seiner fünfjährigen Haftzeit war der Kleinkriminelle Nemmouche waffentechnisch völlig inkompetent - er hatte etwa einen Autoraub mit einer Plastikpistole versucht, die ihm vom Opfer entwendet und über den Schädel gezogen wurde.

Eine weitere offene Frage ist die nach etwaigen Komplizen, Helfern oder Hintermännern in Frankreich. Nemmouche war am 18. März 2014 über den Flughafen von Frankfurt/Main nach Europa zurückgekehrt. Die deutschen Behörden meldeten die Einreise Nemmouches, der als mutmaßlicher Jihadist signalisiert worden war, an die französischen. In den letzten zwei Wochen hatte die französische Regierung jedoch mehrfach angegeben, Nemmouche seit seiner Ausreise Ende 2012 und bis am 30. Mai 14 nicht wieder in Frankreich gewesen. Dies wurde am Wochenende des 07./08. Juni nun durch die Pariser Abendzeitung Le Monde in Frage gestellt: Sie zitierte ein Familienmitglied mit den Worten, Mehdi Nemmouche habe „im März bei uns vorbeigeschaut".

Editorische Hinweise

Wir erhielten diesen Artikel vom Autor für diese Ausgabe.