Migration aus Afrika und
Syrien über Libyen in Richtung EU-Europa: zur Rolle Libyens, zu
jener der „Schlepper“(organisationen) und zu den angekündigten
Maßnahmen der Europäischen Union
So genannte „Schlepper“ für Migrantinnen und
Migranten, vor allem wenn sie in und um Libyen herum aktiv sind,
haben derzeit in Europa die denkbar schlechtest mögliche Presse.
Frankreichs Präsident François Hollande bezeichnete sie anlässlich
seines Fernsehauftritts beim französisch TV-Privatsender ,Canal
+’ am Sonntag, den 19. April 15 rundheraus als „Terroristen“
– ein Begriff, der bereits fast alle Maßnahmen zu legitimieren
scheint. Und die EU-Institutionen wälzen derzeit Szenarien über
militärische Aktionen in dem nordafrikanischen Land, die auf eine
Zerstörung von Schiffen zielen sollen, welche für den
Flüchtlingstransport über das Mittelmeer eingesetzt werden. Dies
gehört zu den wichtigsten Ankündigungen des EU-Sondergipfels zum
Thema Migration – nach den jüngsten mehrhundertfachen Todesfälle im
Mittelmeer vom Wochenende zuvor -, welcher am 23. April 15 in
Brüssel stattfindet. Daneben sollen die Mittel für Seenotrettung
verdreifacht werden. Allerdings waren diese zuvor, im Herbst 2013,
mit dem Übergang von der vorherigen Operation ,Mare Nostrum’ (unter
italienischer Hoheit) zur aktuell laufenden EU-Operation ,Triton’
(benannt nach einem Meeresgot der altgriechischen Mythologie)
drastisch reduziert worden. Und bei EU-Aktionen wie der aktuell
laufenden ,Operation Triton’ mischen sich stets die Bemühungen,
Schiffe in Seenoten aufzuspüren, mit jenen,
„Schlepperorganisationen“ und deren Routen auszumachen und deren
Tätigkeit zu unterbinden; dies gilt ebenso auch für die abgelaufene
Operation ,Mare Nostrum’.
Aber auch Landwege, die zu einschlägig genutzten
Häfen führen, sollen blockiert werden. Als Vorbild genannt wird
dabei mitunter die 2008 gestartete EU-Operation „Atalanta“, die ein
militärisches Vorgehen gegen Piraten und ihre Infrastruktur in
Somalia und rund um das Horn von Afrika beinhaltet. Die
militärpolitischen und die EU betreffenden Themen gewidmete
Netzzeitung Bruxelles2.eu berichtet über solche Pläne
unter dem schlichten Titel: „Kampf gegen Immigration: Atalanta
als Vorbild.“ Die Rede ist in dem Falle deutlich von Kampf
gegen Einwanderung (als solche), nicht etwa gegen spezifische
kriminelle Strukturen, wie es sonst im Allgemeinen dargestellt wird.
Vergleichbare Aussichten stoßen jedoch auch in
den staatlichen und parastaatlichen Apparaten auf Skepsis und
Kritik. Der französische Admiral a.D. Alain Coldefy antwortete etwa
auf die Frage, was man mit militärischer Gewalt in dieser Frage
erreichen könne, schlicht: „Nichts.“ Am Sonntag, den
26. April 15 erklärte auch UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon, eine
„militärische Lösung“ sei auf diesem Gebiet ausgeschlossen.
Dabei stellt sich jedoch die große Frage, wer die
„Schlepper“ warum und mit welchen Vorwürfen bekämpfen möchte. Die
Figur des als „Schlepper“ von Migranten tätigen Unternehmers hat
nämlich ein Doppelgesicht. Auf der einen Seite verschafft er
Menschen in Not eine Dienstleistung, an die sie auf anderem Wege
nicht kommen könnten – den Transport über überwachte und teilweise
militärisch oder quasi-militärisch gesicherte Außengrenzen der EU -,
doch auf der anderen Seite tut es dies aus eigennützigen Gründen.
Die syrische Exilantin Maya Alkhechen erklärte dazu am Sonntag, den
19. April 15 im deutschen Fernsehen in der Sendung von Günter Jauch,
sie sei den Schleppern dankbar: „Mir blieb nur dieser
verdammte Weg. Und jetzt wollen Sie den auch noch schließen?“
Wie bei jeder Struktur, die unter den Bedingungen
von allgemeiner Prohibition einen „Marktzugang“ schafft, versucht
auch diese Unternehmergruppe sich ein Monopol zu sichern und
gleichzeitig einen größtmöglichen Profit zu erzielen. Wurde das
„Schlepper“gewerbe in den achtziger und noch in den neunziger Jahren
oft noch als mehr oder minder stümperhaftes Handwerk von
Ortskundigen betrieben, so hat es sich längst industrialisiert und
wurde gewissermaßen wirtschaftlichen Konzentrationsprozessen
unterworfen.
Schleuse Libyen
Libyen spielt dabei eine Schlüsselrolle, und dies
nicht nur aus geographischen Gründen. Im zurückliegenden Jahr 2014
reisten insgesamt 220.000 „illegal“ auf dem Seeweg über das
Mittelmeer ein, davon trafen gut 170.000 in Italien ein. Von ihnen
sollen rund 110.000 über die libyschen Küsten gestartet sein. Die
größten Gruppen sind dabei syrische Kriegsflüchtlinge sowie
Flüchtlinge vom Horn von Afrika: aus Eritrea, dem
hypermilitarisierten berüchtigten „Nordkorea Afrikas“, sowie dem
bürgerkriegszerstörten Somalia. Also Menschen aus Staaten, bei denen
offensichtlich ist, dass weniger der Wunsch nach einer Anhebung des
Lebensstandards als vielmehr der ganz buchstäbliche Wunsch nach
Überleben ihre Motivation bildet.
Dass viele Migranten auf ihrem Weg in
die EU über Libyen reisen, obwohl etwa Tunesien näher an den
europäischen Küsten liegt, hängt zunächst mit der Sperrung anderer
Migrationsrouten zusammen.
Syrische Kriegsflüchtlinge reisten bis ins Jahr
2013 hinein bevorzugt über Ägypten, von wo aus ein Seeweg über
Zypern oder die griechischen Küsten in die EU führte. Doch seit dem
Machtwechsel vom Juli 2013 und dem Antritt von Marschall
‘Abdelfattah Al-Sissi als Machthaber hat der ägyptische Staat der
Toleranz für syrische Assad-Gegner - aufgrund von Sympathien für
Teile der syrischen Opposition - walten ließ, ein rabiates Ende
gesetzt. Heute müssen sie eine Auslieferung an die Schergen des
Assad-Regimes fürchten. Drei eritreische Flüchtlinge wiederum, deren
Ermordung auf einem am 19. April d.J. veröffentlichten
Exekutionsvideo vom libyschen Ableger der Terrorgruppierung
„Islamischer Staat“ (IS) zu sehen ist, hatten zuvor als Asylsuchende
in Israel gelebt. Dies berichtete am 21. April 15 die Zeitung
Haaretz. Seit Anfang April 2015 schieben die israelischen
Behörden massiv afrikanische Flüchtlinge nach Rwanda und Uganda ab,
nachdem die beiden englischsprachigen Staaten in Ostafrika sich zu
ihrer Aufnahme verpflichtet hatten – auch für Nichtstaatsangehörige
wie etwa sudanesische und eritreische Migranten. Die drei waren über
den Sudan und Libyen erneut aufgebrochen, um ihr Glück zu suchen.
Aber noch aus anderen Gründen ist Libyen ein
wichtiges Transitland für Migranten. In den Jahren der Ära von
Machthaber Mu’ammar Al-Qadhafi (eingedeutscht Gaddafi) stand Libyen
für Migranten aus dem subsaharischen Afrika zeitweilig weit offen.
Nicht so sehr als Durchreisestaat, sondern eher als Aufnahmeland, wo
sie ihre Arbeitskraft anbieten konnten. Einerseits wurde unter
Qadhafi (Gaddafi) einige Jahre lang von Staats wegen eine
panafrikanisch klingende Propaganda betrieben, weil der damalige
Staats- und „Revolutionschefs“ sich in die Rolle eines kontinentalen
Anführers hineinträumte. Zum Anderen waren aber Libyer auch
weitgehend körperlicher Arbeit entbunden, da diese in dem
Ölrentenstaat mit relativ geringer Bevölkerungszahl weitgehend als
„Ausländersache“ betrachtet wurde. In den 1990er Jahre propagierte
Qadhafi/Gaddafi zeitweilig auch Ehen von Libyern mit Frauen aus dem
subsaharischen Afrika – ließ davon jedoch ab, als der Unmut der
Bevölkerung über sein Regime dann in pogromartigen Ausschreitungen
gegen Schwarze einen Blitzableiter fand. In den für Migranten
schlechteren Phasen seines Regimes schickte Gaddafi diese entweder
zurück, schob sie mitunter auf brutale Weise ab, oder aber er ließ
sie über das Mittelmeer ausreisen.
Auch gegenüber äußerem Druck ließ Qadhafi
(Gaddafi) die ins Land gerufenen Migranten oftmals fallen, oder
eher, er setzte sie als Verhandlungsmasse gegenüber den EU-Mächten
ein. Im Jahr 2008 wurden an den Küsten von Italien und Malta
erstmals 40.000 Migranten im Jahresmaßstab registriert, viele davon
waren über Libyen gereist. Italiens Regierungschef Silvio Berlusconi
besuchte Qadhafi im August 2008 und empfing ihn im darauffolgenden
Frühjahr zum Gegenbesuch. Infolge der dabei vereinbarten Maßnahmen
zur Migrations- und Flüchtlingskontrolle sank die Zahl daraufhin auf
4.500 jährlich. Und im Oktober 2010 hielt Qadhafi (Gaddafi), der
damals noch ein Jahr zu leben hatte, mit einigem Pomp in Tripolis
einen „EU-Afrika-Gipfel“ ab. Auch dabei ging es um
Migrationskontrolle. Libyen sollte fortan alle drei Jahre 50
Millionen Euro für den Aufbau und die Schulung seiner Polizeikräfte
von der EU kassieren, und diese in den Dienst der
Migrationseindämmung stellen. Im darauffolgenden Jahr stürzte und
verstarb Gaddafi.
Die heutigen politischen Akteure in dem Land, in
dem 200 Milizen und bewaffnete Gruppen um die Macht oder Parzellen
davon ringen, treten in dieser Hinsicht oft in die Fußstapfen
Gaddafis. Doch einige Dinge haben sich verschoben. So hat sich die
örtliche Situation für migrantische Arbeitskräfte erheblich
verschlechtert. Nicht nur aufgrund der Bürgerkriegssituation und der
danieder liegenden Ölproduktion, sondern auch infolge rassistischer
Pogrome, die vor allem 2011 gegen Schwarze – die von manchen
pauschal mit vermeintlichen Gaddafi-Kollaborateuren identifiziert
wurden – stattfanden. Der Ausreisedruck in Richtung Europa seitens
einer Migrationsbevölkerung, die zuvor eher nach einem Aufenthalt in
Libyen selbst mit Arbeitsmöglichkeit strebte, ist entsprechend
gewachsen.
Doch auch das Spiel der politischen
Akteure in Libyen selbst hat sich gewandelt. Die einzelnen
bewaffneten Gruppen kontrollieren einen geringeren Teil der Macht,
als das Qadhafi (Gaddafi)-Regime dies vermochte. Entsprechend
verfolgen sie Eigeninteressen, bei denen das Streben nach
Finanzierungsmöglichkeiten für die jeweils eigene Miliz eine
erhebliche Rolle spielt. Deswegen sind viele Milizen auch in das
Agieren der „Schlepper“netzwerke integriert.
Transnationale Netzwerke, Libyen und die
europäische Politik
Diese muss man sich als fortgeschrittene
transnationale Struktur vorstellen. Strukturen in den
Herkunftsländern, in Libyen und in Europa (wie etwa bei der
sizilianischen – und generell italienischen – Mafia) greifen dabei
ineinander. Im Oktober 2013 unternahm die italienische Polizei eine
Untersuchung über die Insassen eines Boots, das vor der Insel
Lampedusa gekentert war, wobei mindestens 366 Todesopfer zu
verzeichnen waren. Im Laufe der Ermittlungen ergab sich, dass die
meist aus Ostafrika – Somalia, Eritrea – stammenden Migrantinnen und
Migranten uvor im Juli desselben Jahres in einem Lager im
südlibyschen Sebha festgehalten, gefoltert und im Falle der Frauen
oft auch vergewaltigt worden waren. Den Männern wurde dabei Geld
abgepresst, die Frauen mussten mit sexueller Dienstbarkeit
„bezahlen“. Es stellte sich heraus, dass die Wächter des Lagers
gleichermaßen Somalier, Sudanesen und Libyer waren. Offenkundig
greifen kriminelle Strukturen mehrerer Länder dabei ineinander.
Zugleich buhlen politische Strukturen
in Libyen auch in Europa um Anerkennung als lokale Akteure, die für
„Ordnung“ und Migrationskontrolle sorgen können. 2011 wurden bereits
die ersten Folgeabkommen zwischen Libyen und Italien zum Thema
geschlossen, in Nachfolge jener von Qadhafi (Gaddafi) und
Berlusconi. Und 2013 beschloss die EU ein bedeutendes
Investitionsprogramm für Libyens Polizei- und Grenzschutzkräfte.
Doch heute ist die politische Situation in Libyen davon geprägt,
dass unterschiedliche Akteure miteinander um Teilstücke der Macht
ringen. Seit Sommer 2014 amtiert ein islamistisch geprägtes
Parlament in Tripolis und ein eher bürgerlich-nationalistisch
geprägtes Konkurrenzparlament im ostlibyschen Tobruk, seitdem das
Wahlergebnis vom 25. Juni 14 gerichtlich annulliert worden war und
die Legalität der zentralen staatlichen Institutionen umstritten
bleibt.
Die Flüchtlingsboote legen vor allem aus dem Raum Tripolis und
Misrata ab, also aus Westlibyen, aus geographischen Gründen. Diese
Region wurde im August vorigen Jahres durch die Milizenkoalition
Fadschr Libia (Libyscher Regenbogen) militärisch eingenommen, nach
schweren Kämpfen um den Flughafen von Tripolis.
Auch die örtlichen Machthaber in
Westlibyen bemühen sich darum, den EU-Staaten ihre Berechenbarkeit
namentlich bei der Migrationskontrolle vorzuführen. Seit
Jahresanfang kam es zu einer neuerlichen Verhaftungswelle unter als
„illegal“ eingestuften Migranten, rund 20.000 wurden bis Mitte April
d.J. festgenommen und in Abschiebegefängnisse gesteckt. Von dort
werden sie aber nicht unbedingt in ihre Herkunftsländer
zurückgeschickt, sondern oft auf unbestimmte Dauer einfach
festgehalten. Libyen wendet weder die Genfer Flüchtlingskonvention
an, noch hat es eine gesetzliche Regelung etwa über die Höchstdauer
von Abschiebehaft eingeführt. Anstelle davon herrscht also reine
Willkür. Das libysche Innenministerium kontrolliert offiziell 19
solcher Haftzentren, aber eine Reihe weiterer weniger offizieller
Abschiebegefängnisse werden von Milizen und Banden kontrolliert.
Laut Berichten von Human Rights Watch oder der französischen
Migrantensolidaritätsgruppe Cimade werden dort oft schwere
Misshandlungen vorgenommen.
Gleichzeitig hindern die amtierenden Machthaber
nicht alle Migranten an der Ausreise. Denn da sie nur eine Parzelle
der politischen Macht kontrollieren, ringen sie um institutionelle
und internationale Anerkennung. Die Pariser Abendzeitung Le
Monde verdächtigt etwa die Westlibyen kontrollierenden
Milizen, ihre eigenen Möglichkeiten zur Migrationsregulierung
gegenüber den EU-Staaten heute herunterzuspielen – da sie damit
argumentierten, dass es ihnen an diplomatischer Anerkennung und
finanziellen Mitteln fehlten. In einer Reportage sagen Angehörige
der Küstenwache in diesem Sinne aus, sie verfügten angeblich nur
über vier Boote für die Kontrolle eines Küstenabschnitts von 600
Kilometern. Obwohl tatsächliche oder vermeintliche Angehörige der
Küstenwache in den letzten Wochen unweit der italienischen Küsten
angetroffen wurden, wo sie die Rückgabe von aus Libyen ausgelaufenen
Schiffen forderten. Das Ziel dabei sei es, so die französische
Zeitung, mehr internationale Rückendeckung zu erhalten. Derzeit
verhandeln die libyschen Streitparteien in der marokkanischen
Hauptstadt Rabat unter Schirmherrschaft der UN, um sich auf die
Bildung einer einzigen Regierung zu einigen, und die EU stützte
diesen Versuch zur institutionellen Konsolidierung.
Doch für die Migranten bedeutet dies
einerseits, dass sie nicht unbedingt an Ausreiseversuchen gehindert
werden – andererseits jedoch eine prekäre Situation, da sie
offenkundig als Verhandlungsmasse genutzt werden. Sie bleiben so
kommerziellen Netzwerken ausgeliefert, die ihrerseits offensichtlich
in Kontakt mit den örtlichen politischen Machthabern stehen. Können
sie nicht ausreichend zahlen, werden sie im falschen Moment ertappt
oder stehen sie aus anderen Gründen im Konflikt mit „ihren“
Transportunternehmen, so droht ihnen folgerichtig die Inhaftierung
auf unbestimmte Zeit, Misshandlung und Freiheitsberaubung mit
offizieller Billigung. Die zu beobachtende Entmenschlichung wird
dabei von den lokalen Machthabern nicht eingedämmt.
Ein bewusst oder unbewusst gesetztes Symbol für
diese Enthumanisierung: Wie erstmals im August 2013 bekannt wurde,
nutzen Milizen in Libyens Hauptstadt Tripolis den örtlichen Zoo für
das vorübergehende Einsperren von Migranten. In dem Zoologischen
Garten, der seit den Bürgerkriegshandlungen für den Publikumsverkehr
geschlossen ist, doch noch immer von Tieren bewohnt wird, hält die
Miliz von Abdel Rezag meist subsaharische Migranten fest. In den
ersten 72 Stunden werden dort ihre Reisedokumente unter Leitung des
örtlichen Anführers Al-Gerjame überprüft, aber auch Bluttests
vorgenommen. Bei wem eine Krankheit wie AIDS oder Hepatitis
festgestellt wird, der oder die wird umgehend aus Libyen
ausgewiesen. Die übrigen werden aufgeteilt in jene, die in Libyen
eine Arbeit suchen dürfen, und diejenigen, die in
Abschiebehaftzentren außerhalb von Tripolis gebracht werden.
Über diese Zustände berichtete damals erstmals
die Zeitung Libya Herald. Von einer Änderung der
Vorgehensweise der Milizen, etwa durch den Wechsel an einen anderen
Ort, wurde seitdem nichts bekannt. Noch ein Jahr später, in einer im
vorigen Hochsommer (Juli 2014) ausgestrahlten ARTE-Reportage, wurde
der Tiergarten jedenfalls noch auf identische Weise benutzt.
Im Oktober 2013 wurde bekannt, dass ein am 10.
des Monats unweit der Küsten von Malta gesunkenes Flüchtlingsboot
von libyschen Milizen auf hoher See beschossen worden war. Der
Schiffbruch forderte 36 Todesopfer, über zweihundert Insassen
konnten in diesem Fall jedoch dank frühzeitigen Seenotrufs gerettet
werden. Die mit Schnellbooten und, glaubt man der tunesischen
Zeitung Webdo.tn, auch mit Kriegsschiffen der Marine
aus der Gaddafi-Ära ausgestatten Milizionäre hatten das mehrheitlich
mit syrischen Kriegsflüchtlingen besetzte Boot fünf Stunden lang
verfolgt.
Webdo.tn suggerierte dazu, die
Milizionäre hätten mehr oder minder aus Spaß und Langweile auf das
Flüchtlingsschiff geschossen, und ihr Ziel bei solchen Ausfahrten
sei es vor allem, für spätere Piraterieakte zu „trainieren“.
Allerdings führte die französische Tageszeitung La Dépêche
dazu einen weiteren möglichen Grund an: Die Schlepper, die das
Flüchtlingsboot angeheuert hätten, und die Angreifer hätten zu
unterschiedlichen, rivalisierenden kriminellen Netzwerken gehört.
Jene, die das Schiff attackierten, hätten Geld oder, laut Aussagen
einer syrischen Flüchtlingsfrau, „Leber oder Nieren“ für den
Organhandel erbeuten wollen.
Editorische Hinweise
Den Artikel erhielten wir vom Autor
für diese Ausgabe.
Bei dem Text handelt es sich um die
ausführlichere Fassung eines Manuskripts, das – stark gekürzt –
als Bestandteil des Wochenthemas in der Berliner Wochenzeitung
‚Jungle World’ vom 30. April 15 (neben mehreren anderen Texten zum
Thema) erschien. Hintergrund dafür waren die Diskussion infolge
des Todes von mutmaßlich über 700 Migranten, die am Wochenende des
18./19. April 15 im Mittelmeer zwischen Libyen und Italien
ertranken, sowie der aus diesem Anlass angesetzte EU-Sondergipfel
vom 23. April d.J. in Brüssel. – Vom Autor dieser Zeilen wird im
Übrigen, mutmaßlich im Herbst 2015, beim Verlag edition Assemblage
das seit längerem geplante Buch „Front(ex)linie Mittelmeer“ zu
diesem und ähnlichen Themen erscheinen.