Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Roter Teppich für Marine Le Pen in New York, Ungemach zu Hause in ihrer Partei

5-6/2015

trend
onlinezeitung

Vorbemerkung: Hier handelt es sich um ein aktuelles Up-date zu den Vorgängen beim französischen Front National, auf dem Stand von Ende April 15 (mit einer Einfügung vom 03. Mai). Alsbald folgt ein Artikel, der eine Bilanz aus dem diesjährigen 1. Mai-Aufmarsch des FN – den man dieses Mal als Misserfolg betrachten darf, infolge geringer Teilnehmerzahl und mehrerer Zwischenfälle – und zum Ausgang der Parteiführungssitzung vom 04. Mai. Bei Letzterer wird über mögliche Disziplinarmaßnahmen gegen Jean-Marie Le Pen, welcher definitiv seinen Mund nicht halten kann, entschieden werden. / B.S.

So sieht Marine Le Pen dies gerne: wenn ihr der rote Teppich ausgerollt wird. Auf buchstäbliche Weise, und nicht nur im übertragenen politischen Sinne, geschah dies vor wenigen Tagen in New York. Das „Time Magazine“ hatte die Chefin des französischen Front National unlängst, zum zweiten Mal seit dem Frühjahr 2011, unter die – laut dieser Zeitschrift – „einhundert wichtigsten Persönlichkeiten des Jahres“ gewählt. Neben dem jungen griechischen Premierminister Alexis Tsipras, dem nordkoreanischen Operettendiktator Kim Jong-Un und der Anwärterin auf die US-Präsidentschaft, Hillary Clinton. Aus diesem Anlass durfte die 46jährige am Dienstag, den 21. April dieses Jahres an einem Empfang des Magazins in New York teilnehmen(1), wo sie im Wortsinne auf dem roten Teppich defilieren durfte, wie auch Naomi Campbell oder Kim Kardashian.

Als einzige Französin mit dabei, marschierte Marine Le Pen im blauen Anzug an respektive auf, denn „marineblau“ ist ihre Wahlkampffarbe, neben ihrem Vizevorsitzenden und Lebensgefährten im Smoking und blauen Bodyshirt. (Ausgerechnet an einem symbolträchtigen Datum, denn nennt man „den 21. April“, dann denkt man in Frankreich an jenen Tag im Frühjahr 2002, an dem Jean-Marie Le Pen erstmals in die Stichwahl um die französische Präsidentschaft einziehen konnte.) Auch an das weniger an Glamour gewohnte Publikum ihrer Partei zu Hause wurde gedacht. „Ich spreche doch kein Englisch; ich, ich bin Französin!“ raunzte sie dem Berichterstatter der Pariser Abendzeitung Le Monde zu(2). Um zu ergänzen: „Das vergessene Frankreich wird von uns nicht vergessen.“

Ob es sich so anfühlt, wenn Parvenüs aufmarschieren? Dies mag im Augenblick noch dahingestellt bleiben – sollte die rechtsextreme Partei ja eine mehr oder minder bedeutende Parzelle an Machtbeteiligung abbekommen (was lieber verhindert werden möge), dann würde sich dies schon sehr bald näher herausstellen.

Unterdessen ist nicht alle Ungemach „zu Hause“ vergessen oder gar bewältigt. Noch steht die Entscheidung bevor, was nun mit ihrem mitunter vorlauten Alten, pardon: Vater und Vorgänger im Parteivorsitz passieren soll, also Jean-Marie Le Pen. Am Freitag, den 17. April 15 wurde zwar entschieden, dass die Spitzenkandidatur in Südostfrankreich (in der Region PACA, für Provence-Alpes-Côte d’Azur, im Raum von Marseille bis Nizza) für die Regionalparlamentswahl im Dezember 2015 nicht an den bis dahin 87jährigen gehen wird. Am Montag zuvor, den 14. April, hatte der unter Kritik stehende Jean-Marie Le Pen zugunsten seiner Enkelin Marion-Maréchal Le Pen auf diese Spitzenkandidatur verzichtet. Ein Nebenbuhler, der ewig glücklose Bruno Gollnisch, tauchte aus der Versenkung auf, meldete seinen Antrag auf die Spitzenkandidatur an - und versank alsbald wieder, indem er ihn zurückzog. Erwartungsgemäß wurde die 25jährige Parlamentsabgeordnete also für die Spitzenkandidatur nominiert.

Doch es stellt sich noch die Frage, ob die jüngsten verbalen Ausfälle Jean-Marie Le Pens vom 02. und 09. April betreffend den Holocaust, Pétain sowie die aktuelle Parteiführung (wir berichteten) noch eventuelle disziplinarrechtliche Folgen haben sollen. Ursprünglich sollte auch darüber beraten werden, doch diese Frage wurde vertagt. Aufgeschoben werden musste ihre Behandlung auch deswegen, weil Jean-Marie Le Pen sich vom 16. bis 19. April wegen eines Herzproblems – er beeilte sich zu versichern, es sei „nicht gravierend“ – in klinischer Behandlung befand. Eventuelle Zusammenhänge mit dem jüngsten Sägen an seinem Stuhl sind schwer zu bestätigen. Nunmehr soll die Führungssitzung, auf der über eventuelle innerparteiliche Sanktionen gegen den alternden Parteigründer und „Ehrenvorsitzenden“ diskutiert werden soll, am Montag, den 04. Mai 15 stattfinden. Bis dahin ist es, jedenfalls nach außen hin, vorläufig erst einmal relativ ruhig um die innerparteilichen Konflikte (welche in den Medien oft als „Familienstreitigkeiten“ abgehandelt werden) geworden. Allerdings spitzte sich die Situation am Sonntag, den 03. Mai d.J. erneut zu: An diesem Tag – dem Vortag der Vorstandssitzung – kündigte Marine Le Pen an, dass es nicht länger in Frage komme, dass ihr Vater „im Namen des Front National“ spreche. Dies deutet darauf hin, dass ihm zumindest alle Parteiämter entzogen werden sollen – derzeit hat er, seitdem Parteitag vom 15./16. Januar 2011 in Tours, bei dem Marine Le Pen den Vorsitz übernommen hatte, noch den „Ehrenvorsitz“ (auf Lebenszeit) inne. Dieser droht er nun möglicherweise verlustig zu gehen. Hingegen dürfte die Interpretation vom 03.05.15 im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, wonach diese Aussage von Marine Le Pen notwendig einen Ausschluss Jean-Marie Le Pens aus der Partei beinhalte, wohl überzogen und falsch.

Nicht alle in seiner Partei sind jedenfalls darüber glücklich, dass der alternde Parteigründer einmal mehr allzu offensichtlich in seinen eigenen Fußstapfen wandelt. Angefangen bei seiner Tochter Marine Le Pen, die noch am Tag des ersten umstrittenen Interviews ihres Vaters vom 02. April 15 (mit neuerlichen Auslassungen zur Judenvernichtung) ihr „tiefes Uneinverständnis“ mit ihrem Vater bekundete. Der ihr nahe stehende Parlamentsabgeordnete der extremen Rechten Gilbert Collard, ein medienträchtiger Anwalt, beeilte sich, per Twitter seinen Widerspruch zu bekunden. Die Shoah sei „das Grauen des Grauens“, und Jean-Marie Le Pen sei inzwischen „ein wandelndes Flugblatt für Manuel Valls“, den sozialdemokratischen Premierminister, also den derzeitigen politischen Hauptgegner. Der politische Zwist war nicht nur gefaked, und Jean-Marie Le Pen konterte bei Twitter umgehend öffentlich zurück: „Halt doch Dein Maul! Du Collard!“, was ganz offensichtlich eher connard – also ungefähr „Vollidiot“ – heißen sollte.

Streit um die Ausrichtung der extremen Rechten

Keineswegs vollständig gesichert ist allerdings, dass solche Ausfälle der modernisierten neofaschistischen Partei auch wirklich schaden. Die Pariser Abendzeitung Le Monde zitiert etwa die in den USA unterrichtende französische Sprachwissenschaftlerin Cécile Alduy: „Diese Art von Aussprüchen schwächt nicht unbedingt Marine Le Pen. Es verstärkt des Storytelling bezüglich der ,Entdiabolisierung‘“ – die seit Januar 2011 amtierende Parteichefin rief seitdem ihre Strategie der dédiabolisation aus, unter anderem durch Distanzierung von jeglichem offenen Antisemitismus – „und erlaubt es Marine Le Pen, sich von ihrem Vater zu unterscheiden, indem sie angibt, es bestehe eine tiefgreifende Differenz.“ Zugleich, so lässt sich hinzufügen, bleibt der Partei weiterhin die Aufmerksamkeit erhalten.

Drei Wochen nach ihrer Übernahme des Parteivorsitzes hatte Marine Le Pen im Wochenmagazin Le Point vom 03. Februar 2011 erklärt, die Konzentrations- und Vernichtungslager der Nationalsozialisten seien „der Gipfel der Barbarei“. Seitdem wird sie in aller Regel mit Vorwürfen bezüglich eventueller Spuren von Antisemitismus vollkommen in Ruhe gelassen. Tatsächlich ist die 46jährige selbst der Auffassung, wie andere Angehörige ihrer Generation innerhalb der extremen Rechten, dass heute keine politischen oder ideologischen Erfolge mit dem Versuch einer Rehabilitierung des historischen Faschismus oder Nazismus zu erzielen seien – dies seien die Schlachten von gestern, die bereits verloren und abzuschreiben seien. Entsprechend verzichtet sie auf Geschichtsrevisionismus, aber auch auf expliziten Antisemitismus, zumal ihr Lebensgefährte Louis Aliot in der Großelterngeneration aus dem jüdischen Segment der französischen Kolonialgesellschaft in Algerien stammt.

Auch der Vorsitzende des seit den 1990er Jahren ausgesprochen konservativ dominierten jüdischen Dachverbands CRIF, Roger Cukierman, attestierte Marine Le Pen am 23. Februar 2015, ihr sei „persönlich unbescholten“, ihr sei nichts vorzuwerfen. Ihre Partei hingegen gelte es „zu vermeiden“, wegen „der Holocaustleugner, Vichy- und Pétain-Anhänger“ in ihren Reihen. Damit reduzierte er allerdings das Problem der extremen Rechten fast allein auf ihre Ewiggestrigen, denn jene beim FN, die sich positiv auf Pétain beziehen – es gab sie in der Vergangenheit zur Genüge – sind allmählich weggestorben, und die jungen Generationen der extremen Rechten interessieren sich eher wenig für den schon bei Machtantritt im Jahr 1940 greisen Marschall. Und während Marine Le Pen munter einen ethnisch grundierten Nationalismus predigt und die soziale Frage systematisch zu einer „nationalen Frage“ umbiegt, die es durch Protektionismus, einen lenkenden Staat und einen Pakt von nationaler Arbeit und nationalem Kapital zu lösen gelte, scheint dies alles unproblematisch, so lange sie es nur nicht mit offenem Antisemitismus verbindet. Eine höchst problematische Sichtweise. Cukierman ist allerdings für seine persönliche Rechtslastigkeit bekannt und hatte bereits 2002 einem Wahlerfolg des damaligen Kandidaten Jean-Marie Le Pen zugute gehalten, er signalisiere immerhin „den jungen Moslems, sich ruhig zu verhalten“.

Jedenfalls in der Frage des Antisemitismus gibt es, jenseits der Inszenierung und einer möglichen taktischen Arbeitsteilung, tatsächlich einen echten ideologischen Dissens zwischen verschiedenen Protagonisten innerhalb der Partei: Während Louis Aliot etwa der wiederholt verbreiteten Auffassung ist, dass „unsere Verteufelung allein an dem uns unterstellten Antisemitismus hängt“ – man müsse also nichts am Ethno-Nationalismus der Partei ändern, jedoch lediglich den Antisemitismus verabschieden -, würde Jean-Marie Le Pen genau dies als ein „Sich-Verkaufen ans System“ betrachten.

Doch es kommt aktuell noch ein weiterer Streitpunkt hinzu. Denn Jean-Marie Le Pen kritisierte in seinem Interview mit der altfaschistischen Wochenzeitung ,Rivarol’ vom 09. April auch offen die aktuelle sozialpolitische Ausrichtung im Diskurs seiner Nachfolgerin Marine Le Pen. Diese steht für eine stark sozialdemagogisch ausgerichtete Wahlstrategie, die man als eine Art – moderater als das historische Pendant auftretende – zeitgenössische Variante des „Strasserkurses“ beim so genannten „linken“ oder „sozialistischen“ Flügel der NSDAP bezeichnen könnten. Allerdings mit der Besonderheit, dass das Parteivorstandsmitglied Florian Philippot mit seinem betont staatstragenden Auftreten – er kommt ursprünglich aus dem Lager des nationalistisch abgedrifteten Ex-Sozialdemokraten, früheren Innenministers und EU-Kritikers Jean-Pierre Chevènement – dabei eher für eine Variante der „National-Sozialdemokratie“ steht. Philippot wurde aufgrund seiner Kombination aus betont „sozialem“ Diskurs und staatsmännisch-republiktragendem Auftreten von Marine Le Pen in den letzten drei Jahren stark in den Vordergrund gespielt. Allerdings steckt er derzeit in der Defensive, weil es innerhalb der Partei doch erheblichen Unmut darüber gibt, dass Philippot zu weit gegangen sei. Nicht nur forderte er fast unverhohlen den Rausschmiss Jean-Marie Le Pens aus der Partei, sondern er erklärte auch noch öffentlich, selbst nie für den FN gestimmt zu haben, so lange Jean-Marie Le Pen (und nicht Marine) an dessen Spitze gestanden hatte. Das kam bei vielen alten Kämpen nun wirklich nicht gut an. (Hinzu kommt dann wohl auch noch seine, inzwischen notorische, Homosexualität; diese wird jedoch auch von anderen hohen Parteifunktionären geteilt.)

Die erwähnte Sozialdemagogie überdeckt zwar oft nur notdürftig die tatsächliche, elitäre Ausrichtung der Partei. Marine Le Pen spielte etwa, aus taktischen Gründen, im Januar 2015 die Sympathisanten von Syriza in Griechenland – um den argumentativen Hauptschlag gegen die EU zu führen -, doch als die griechische Linkspartei nach ihrem Wahlsieg vom 25. Januar d.J. über die Streckung von Schulden neu verhandeln wollte, wandte sich der FN in einer Stellungnahme sofort strikt gegen eine solche „unverantwortliche“ Idee. Und im Bezirksparlamentswahlkampf im März 2015 wandte sich der FN vielerorts gegen die (von Bezirksregierungen gewährten) Sozialleistungen und angebliche „Sozialbetrüger“ – eine Tatsache, die übrigens von manchen Parteifunktionären im Nachhinein als Grund dafür genannt wurde, warum man doch „nur“ 25 Prozent und nicht die erwarteten über dreißig Prozent der Stimmen erhielt.

Als Beispiel dafür, warum die Partei unter Marine Le Pen auf einen sträflich sozial-versprecherischen Kurs gegangen sei, nannte Jean-Marie Le Pen die oberflächliche Anpassung der rechtsextremen Partei in ihrem Diskurs zur Rentenproblematik. Unter dem Eindruck der starken sozialen Protestbewegung im Sommer und Herbst 2010 gegen die Anhebung des Rentenalters hatte Marine Le Pen auf einen Schlag das im Internet publizierte Programm ihrer Partei ausgetauscht – und die bis dahin bestehende Befürwortung einer Anhebung des Rentenalters (Mindestalter auf 65 statt bislang 60) sowie einer Teilprivatisierung des Rentensystems formal gestrichen. Vordergründig forderte nun auch der FN, aus wahl- und diskurstaktischen Gründen, die Beibehaltung eines Mindest-Renteneintrittsalters mit 60. Ihr Vater gab nun jedoch in dem Interview zu verstehen, dies hätte nicht sein dürfen. Zu viel Strasser ist nicht gut (... wenn man auf Hitler und Pétain abfährt?).

Vor allem die gar zu ungeschminkten Ausführungen zu Pétain, und zum „Verrat“ durch „die Seinen“, ließen wohl bei Marine Le Pen und anderen Führungsleuten die Galle überlaufen. Die Tochter forderte nunmehr den Vater in der Öffentlichkeit explizit dazu auf, die aktive Politik zu verlassen. Ihr Vizepräsident, der manchen Leuten in der Partei als zu moderat auftretender „Technokrat“ geltende Florian Philippot, forderte ihn seinerseits aus, sich doch bitte lieber einen Parteiaustritt zu überlegen. (Was ihm aber anscheinend in Teilen des FN krumm genommen wird.) Der Lebensgefährte der Parteichefin, Louis Aliot, sprach von einem „nicht wieder zu kittenden Bruch“ mit dem Alten – sprach sich jedoch gegen einen Parteiausschluss aus; und zwar weil er selbst ursprünglich, als damals circa 19jähriger – es war 1988 -, „wegen Jean-Marie Le Pen zur Partei gekommen“ sei.

Laut jüngsten Umfragen sprechen sich übrigens 91 Prozent der befragten Französinnen und Franzosen und 87 Prozent der befragten FN-Wähler/innen dafür aus, dass Jean-Marie Le Pen in den politischen Ruhestand wechseln solle(3). Und 67 Prozent der Sympathisant/inn/en wünschen ähnlichen Quellen zufolge auch seinen Rückzug aus der Partei(4).

Allerdings steht zu vermuten, dass es in der aktiven Mitgliedschaft noch Kräfte gibt, die einen alsbaldigen Abgang des Alten ungern sähen, da er in ihren Augen noch dazu da ist, eine zu starke ideologische „Aufweichung“ zu verhindern. Eine solche dürfte zwar nicht anstehen; und 65 Prozent geben in der Umfrage auch logisch richtig an, ein Abgang Jean-Marie Le Pens würde „nichts an ihrer Sichtweise auf die Partei ändern“.

3 Vgl. http://www.lefigaro.fr/
4 Vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-actu/

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.