Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Zu aktuellen Debatten rund um die Wochenzeitung ,Charlie Hebdo’ (Teil 2)

5-6/2015

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Verfasst während des redaktionellen Urlaubs von trend.infopartisan.net am 22. Mai 2015

Die Zeitung Charlie Hebdo kommt nicht zur Ruhe. Und dies nicht nur aufgrund ihres widerspenstigen Geists, der es nicht als Hauptziel verfolgt, sich in Ruhe und Komfort zurückzulehnen. Unfreiwillig ruft die wöchentlich erscheinende Satirezeitung derzeit immer wieder Schlagzeilen hervor, zumal seit dem blutigen Attentat und dem zwölffachen Mord vom Januar dieses Jahres viele Augen auf sie gerichtet bleiben.

Einige davon hängen mit nach wie vor existierenden Sicherheitsgefährdungen für manche ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zusammen. Am Mittwoch, den 20. Mai 15 berichtete etwa die Tageszeitung Le Parisien unter Berufung auf polizeiliche Quellen, dass eine Woche zuvor zwei verdächtig wirkende Individuen in der Nähe der Privatwohnung von Chefredakteur Riss (Laurent Sourriseau) gesichtet worden seien. Die Meldung beruhte nicht auf subjektiven Wahrnehmungen oder der Gerüchteküche, sondern auf Aussagen von Anwohnern und von Polizisten, denen zufolge am 12. Mai d/J/ ein circa dreißigjähriger Mann beobachtet wurde, wie er sich auf verdächtige Weise längere Zeit in der Nähe des Mehrfamilienwohnhauses aufhielt. Er photographierte dessen Eingangsbereich mithilfe eines Smartphones, bevor er sich auf ein Motorrad schwang und davon fuhr. Am darauffolgenden Tag übernahm ein anderer, ungefähr gleichaltriger Mann dieselbe Rolle.

Der Chefredakteur, der bei dem Anschlag im Januar 15 durch eine Kugel im Schulterbereich verletzt wurde und noch an einer Reha-Behandlung im Krankenhaus teilnimmt, steht seitdem unter Polizeischutz. Die Beamten nahmen deswegen die Personalien der beiden Personen auf, die später zu einem Gesprächstermin vorgeladen wurden, jedoch abstritten, einander zu kennen oder photographiert zu haben. Der zuerst aufgetauchte junge Mann weist um die zwanzig Vorstrafen auf und ist den Polizeidienststellen aufgrund einer kleinkriminellen bis kriminellen Karriere bekannt. Der andere jedoch weist eine Akte mit dem Vermerk „S“, für Staatsschutz (Sûreté de l’Etat), auf und wird der radikal-islamistischen Szene zugerechnet.

Sich zu dem Ausspruch „Ich bin Charlie“ zu bekennen, war zu Anfang dieses Jahres einige Woche lang quasi zur Mode geworden. Die Aufschrift zierte zahlreiche Facebookseiten oder Eingangstüren zu Geschäften diversester Art, besonders Druckereien und Buchhandlungen. Die Geisteshandlung wird jedoch nicht von allen geteilt. Auch außerhalb der Redaktion der mit solcher Aufmerksamkeit bedachten Zeitung kam es vereinzelt zu Bedrohungen. Am Donnerstag, den 21.05.15) machte ein Teil der Lehrer/innen/schaft an einer Oberschule in Saint-Maur-des-Fossés, einem Vorort südöstlich von Paris, von ihrem Zurückbehaltungsrecht Gebrauch. Also dem gesetzlich verbrieften Recht, in einer Gefahrensituation die eigene Arbeit niederzulegen. Auf diese Weise solidarisierten sie sich mit einem 17jährigen Schüler der vorletzten Klasse vor dem Abitur, Louis, der seit Januar dieses Jahres insgesamt sieben handfeste Drohungen erhalte hatte.

Der Oberschüler hatte als Redakteur der Schülerzeitung La Mouette baîllonnée („Die geknebelte Möwe“) – ihr Name ist eine offensichtliche Anspielung auf den der Wochenzeitung Le Canard enchaîné („Die gefesselte Ente“) – für eine Sonderausgabe über Charlie Hebdo im Januar 15 verantwortlich gezeichnet. Kurz darauf erhielt er über die Postadresse der Schulzeitung ein Schreiben, das Hakenkreuz, einen Miniatursarg und Todesdrohungen enthielt. Seitdem häuften sich Letztere, und zwei von ihnen waren von einer oder mehreren Kugeln für Schusswaffen begleitet. Es ist derzeit noch nicht klar, von wem sie ausgehen, die Hakenkreuze deuten in dem Falle nicht auf Islamisten hin, und worauf sie genau abzielen. Möglicherweise geht es den Urhebern darum, einen Rückzug seiner beim ersten Mal erstatteten Strafanzeige zu erzwingen. Die Polizei gibt an, die Sache „sehr ernst zu nehmen“. Sie ermittelt mit Anhörungen von Schülern und Lehrpersonal sowie DNA-Proben. Allerdings deutet zumindest die Tageszeitung ,Libération’ in ihrem Bericht auch darauf hin, dass die Drohungen möglicherweise andere Hintergründe unabhängig von der ,Charlie’-Affäre haben; als Klassensprecher nimmt der bedrohte Oberschüler auch an Sitzungen des Disziplinarrats an Schulen teil, und war in dieser Funktion auch an Ausschlussentscheidungen beteiligt, die verhaltensgestörte/verhaltensauffällige Schüler betreffen.

Bedroht worden war im Februar 15 auch die Charlie-Redakteurin Zineb al-Rhazoui. Die 33jährige ist von ihrer Ausbildung her Religionssoziologin. In ihrem Herkunftsland Marokko zählte sie zum progressiven Milieu, nahm gegen den dort polizeilich sanktionierten Zwang zur Einhaltung des Fastenmonats Ramadhan ebenso öffentlich Stellung wie gegen fundamentalistische Lehrinhalte oder Predigten, aber auch gegen die Monarchie. 2010 musste sie kurzzeitig fliehen und fand zunächst in Slowenien Aufnahme, dann – nach einer vorübergehenden Rückkehr in ihr Land, wo im Zuge der Umbrüche in Nordafrika auch eine starke Protestbewegung entstanden war – in Frankreich. (Dort hat sie kein Problem, Aufnahme zu finden, da sie einen französischen und einen marokkanischen Elternteil besitzt, also über die Staatsbürgerschaft verfügt.) Seit 2013 arbeitete sie in Frankreich für Charlie Hebdo.

Das Attentat vom Januar 15 überlebte sie, weil sie sich damals im Urlaub befand und der attackierten Redaktionskonferenz deswegen nicht beiwohnte. Doch ereilten sie wenige Zeit später, im Februar d.J., Todesdrohungen. Diese trafen auch ihren Mann, einen marokkanischen Juristen, der daraufhin seinen bisherigen Job in Paris aufgegeben hat. Al-Rhazoui gilt aus Sicht vieler Jihadisten als noch hassenswerter als die übrigen Charlie-Mitarbeiter, da sie als muslimisch erzogene Frau als „Verräterin“ und Abweichlerin vom Glauben betrachtet werden müsse. Beide Eheleute hörten auf, in ihrer eigenen Wohnung zu übernachteten, und halten sich in Hotelzimmern auf.

Mitte Mai d.J. kam es vorübergehend zu einer Folge von Schlagzeilen, weil bekannt wurde, dass al-Rhazoui eine disziplinarrechtliche Vorladung von der Leitung ihrer Redaktion erhalten habe. Tatsächlich war sie zu einem Gespräch einberufen worden, das als Vorstufe zum Aussprechen einer Kündigung dienen konnte. Die Leitung hat dieses Vorhaben inzwischen, nachdem es öffentlich bekannt geworden ist und auch vielfach anderswo kritisiert wurde, wieder zurückgezogen. Die Kündigungsdrohung wurde in eine Abmahnung umgewandelt.

Al-Rhazoui selbst gibt dazu an, man werfe ihr Unregelmäßigkeiten im Arbeitsrhythmus vor, die jedoch unvermeidlich seien, nachdem sie im Hotel leben müsse und unter psychischem Druck stehe. Die Leitung verhalte sich ihr zufolge, als ob sie in einer anderen Welt lebe, und bringe kein notwendiges Verständnis für ihre Situation auf. In den Spalten von Le Monde erklärt Chefredakteur Riss, dahinter steckten keinerlei inhaltliche Differenzen, es gehe wirklich nur um Betriebsabläufe. Aber ihre Situation rechtfertige es nicht, wenn al-Rhazoui nicht zu Redaktionsterminen erscheine oder Abgabetermine für Artikel nicht einhalte, was auch vor dem 07. Januar 15 nicht wesentlich anders gewesen sei.

Während er von inhaltlichen Übereinstimmungen zum „Projekt“ der Zeitung für ihre weitere Zukunft spricht, bezeichnete al-Rhazoui die Chefredaktion und das Management in öffentlichen Stellungnahmen als „Oligarchie“, die die Zeitung als für sich gepachtet ansehe. Andernorts versuchte man, ideologische Bruchlinien in die Situation hineinzulesen, auch wenn diese tatsächlich die Auseinandersetzung nicht erklären. Auf einer Facebookseite unter dem auffälligen respektive durchgedrehten Titel „Stoppt die Shoah in Palästina“ wurde behauptet, al-Rhazoui solle „wegen palästinasolidarischer Positionen gefeuert“ werden. Ähnlich (also pro-palästinensisch) positionierte sie sich zwar in der Vergangenheit tatsächlich, während es in der Zeitung unterschiedliche Positionen dazu, also zum Besatzungskonflikt Israel/Palästina gibt. Doch dürfte es tatsächlich absolut falsch sein, politische Differenzen als Auslöser für den Streit zu suchen.

Die allgemeine Anspannung, die öffentliche Aufmerksamkeit und der psychische Druck, unter dem Charlie Hebdo nun produziert wird, sind aber tatsächlich Faktoren, die berücksichtigt werden müssen.

Ein anderer, prominenter Mitarbeiter der Zeitung hat diese Ausgangssituation nicht länger ertragen. Luz (d.h. Renald Luzier), einer der bekanntesten Zeichner von Charlie – vor allem seit dem gewaltsamen Tod von Charb (Stéphane Charbonnier), Wolinski und anderen -, kündigte seinen Austritt aus der Redaktion für September 2015 an. In mehreren Interviews nahm er Stellung zu den Gründen; das längste davon gewährte er der Tageszeitung Libération, in deren Räumlichkeiten die Satirezeitung seit dem Anschlag und noch immer beherbergt wird.

Luz spricht darin davon, geistig ausgebannt zu sein. Es fehle ihm an Inspiration, und die politische Aktualität in Frankreich vermöge ihn nicht mehr geistig zu beflügeln. Vor allem, wenn er sich regelmäßig die Frage stelle, „was wohl Charb, Wolinski, Tignousse, Honoré und die anderen dazu sagen würden“, und in einen geistigen Dialog mit Ermordeten trete. Deswegen brauche er nunmehr die Suche nach neuen Horizonten. Wenn ganz Frankreich über die Vorhaben der Redakteure informiert sei - so wie er jetzt private Ankündigungen über seinen Abgang in der Internetzeitung Mediapart wiederfinde -, könne er es nicht länger ertragen, in einem solchen Glashaus tätig zu sein.

Eine, die ihm diesen Abgang nicht verzieh, ist Jeanette Bougrab. Die Tochter eines Harkis, also eines im Kolonialkrieg auf französischer Seite kämpfenden Algeriers, hatte in den Jahren um 2010 dank dem damaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy eine steile, aber kurze Karriere gemacht. In den Wochen nach dem Attentat stellte sie sich als die hinterbliebene, trauernde Liebe des getöteten Chefredakteurs Charb hin; doch dessen Familie sowie Redakteure der Zeitung dementierten, dass tatsächlich eine engere Verbindung zwischen beiden bestanden habe. (Es war allem Anschein nach noch eine andere Frau im Spiel...) Bougrab, die ebenso karriereorientiert wie persönlich empfindsam ist, hat diese Episode bislang ganz offenkundig noch nicht verdaut.

Luz warf sie in scharfen Worten vor, zu desertieren, worauf dieser in seinem Interview mit Libération ebenso hart antwortete, im Wortlaut: „Ich hole mir einen darauf runter, was diese dumme Ziege behauptet.“ Viele, fügte er hinzu, wollten nun, dass man bei Charlie Hebdo den Mad Max gebe, also voll zur Action durchstarte – „nur, wir bei Charlie selber, wir sind nicht Mad Max.“ Am Donnerstag, den 21. Mai 15 kam unterdessen Luz’ in Comicform verarbeiteter autobiographischer Band „Katharsis“ in die französischen Buchläden.

Auf dem Tisch bleibt auch die leidige Diskussion um die Finanzen der Zeitung. Zum Jahresende 2015 wird Charlie Hebdo jedoch, zum ersten Mal in ihrer Geschichte, mit einem Jahresüberschuss in Höhe von zehn bis fünfzehn Million Euro abschneiden, ein Drittel davon wird die Steuer mitnehmen. Gleichzeitig werden 4,3 Millionen an eingesammelten Spenden ausnahmslos an die Opfer und Hinterbliebenen des Anschlags gespendet werden. Für eine steuerbefreite Überweisung an Letztere hat das französische Finanzamt nun vor kurzem seine Zustimmung erteilt.

Fortgesetzt wird auch die Debatte, die Emmanuel Todd (vgL. Teil 1 dieses Artikels)angerissen hat, über die Zusammensetzung der Gesellschaftskreise, die nach dem Mordanschlag vom Januar 15 an Mobilisierungen und Protesten teilgenommen hatten. Jüngste Zahlen, die nach repräsentativen Befragungen im März 15 nun vor kurzem durch die Nationale Beratungskommission für Menschenrechte (CNCDH) – ein unabhängiges Gremium, das der Regierung zuarbeitet und Ratschläge erteilt – vorgelegt worden sind, dementieren Todds holzschnittartige Interpretationen. Dieser hatte behauptet, besonders Landstriche und Gesellschaftskreise mit konservativer, katholischer und antirevolutionärer Tradition hätten mobilisiert, und eben nicht antiklerikale. Muslime seien ebenso ausgeschlossen gewesen wie der Front National, und weil Letzterer nicht dabei gewesen sei, seien auch die Arbeiter ausgeschlossen gewesen. Todd wurde daraufhin in der zweiten Maiwoche 2015 durch Premierminister Manuel Valls öffentlich kritisiert, vom FN-Politiker Florian Philippot hingegen verteidigt.

Die CNCDH gibt nun an, gemessen an ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung seien Katholiken dagegen unter-, Menschen mit arabischem und afrikanischem Migrationshintergrund bei den Protesten sogar leicht überrepräsentiert gewesen. 30 Prozent der Befragten hätten angegeben, nach dem 07. Januar d.J. an irgendeiner Form von Protest teilgenommen zu haben. Weitere 35 Prozent hätten sich dies vorstellen können, seien aber nicht dazu gekommen oder hätten keine gute Gelegenheit gefunden. 33 Prozent dagegen äußerten sich ablehnend. Ein höherer Bildungsabschluss gebe zwar vier mal so hohe Chancen, an Protesten teilgenommen zu haben, wie ein besonders niedriger. Doch insgesamt fünfzig Protest der Protestierenden hätten aus Arbeitern und einfach Angestellten bestanden. Also genau so viel, wie aus intellektuellen Schichten oder so genannten höheren Berufen kamen (womit die Letztgenannten, gemessen an ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung, allerdings überdurchschnittlich repräsentiert waren).

 

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.