Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Jean-Marie Le Pen spaltet sich mit eigener Formation vom Front National (FN) ab. Jedenfalls formal... Abrücken vom sozialdemagogischen Strasser-Kurs des 21. Jahrhunderts?

5-6/2015

trend
onlinezeitung

Artikel auf dem Stand vom 25.05.15, verfasst
während des Redaktionsurlaubs von trend.infopartisan

Es scheinen Zeiten und Wunder zu geschehen. So fragte sich Jean-Marie Le Pen in einer Erklärung vor Parteifunktionären des von ihm gegründeten Front National (FN) vom 04. Mai 15, die er dann am 08.05.14 auf seiner Webseite öffentlich machte: „Sind wir zur ersten antifaschistischen und antirassistischen Partei Frankreichs geworden?“

Allerdings war die Formulierung auf herbe Weise ironisch gemeint. Auf spöttische Weise griff der in wenigen Wochen 87jährige Parteigründer dabei Begrifflichkeiten auf, mit denen der rechtsextreme FN in den letzten zwölf Monaten die selbstgesetzten politischen Ansprüche umschrieb. „Die erste Partei Frankreichs“ war nach dem Erfolg der französischen Neofaschisten anlässlich der Europaparlamentswahl von Ende Mai 2015– der FN war mit 24,9 Prozent zur stimmenstärksten Partei geworden – auf zahlreich verklebten Plakaten zu lesen. Die Aufschrift stand unter dem Namen der Partei und einer stilisierten Marianne, einer Frauenfigur, die seit 1976 als Nationalsymbol der Republik gilt. „Die erste Arbeiterpartei Frankreichs“, wurde in anderen Propagandamaterialien des FN behauptet.

In Wirklichkeit stimmt allerdings weder das eine noch das andere. Auch wenn der FN in einem einzigen Fall, bei der letztjährigen Europawahl, ausnahmsweise tatsächlich die stimmenstärkste Partei wurde, so wiederholte sich dieses Szenario nicht. Bei den Bezirksparlamentswahlen im März 2015 wurde er durch die konservativ-wirtschaftsliberale UMP deutlich überflügelt. Und betrachtet man nicht nur einzelne Stimmergebnisse, sondern auch Mitgliederzahlen sowie institutionelle Positionen der verschiedenen politischen Parteien, so kann der FN mit derzeit rund 40.000 Mitgliedern nicht den ersten Platz beanspruchen.

Den vordersten Rang unter den „antifaschistischen und antirassistischen“ Kräften einzunehmen – das ist hingegen aus Sicht von Jean-Marie Le Pen eine Gräuelvorstellung, ein purer Albtraum. So war seine Äußerung auch intendiert. Er fügte ihr sogleich hinzu: „Überlassen wir dieses traurige Gerassel unseren Feinden und seien wir stolz darauf, die Partei der französischen Patrioten und der Parias mit der Trikolorefahne zu sein.“

Öl ins Feuer gegossen

Die Häme von Jean-Marie Le Pen zielte dabei auf jene innerparteilichen Kritiker, die ihm infolge von zwei Interviews im vergangenen Monat parteischädigendes Verhalten vorgeworfen hatten. Am 02. April 15 hatte Jean-Marie Le Pen dem bürgerlichen Privatfernsehsender BFM TV ein Gespräch gewährt, und genau eine Woche später erschien sein Interview mit der altfaschistischen und antisemitischen Hardcore-Zeitung Rivarol. In beiden Fällen nahm der von 1972 bis 2011 als Parteivorsitzender amtierende Gründerpatriarch der Partei kein Blatt vor den Mund. Im ersten Interview bekannte er sich zu seinen seit September 1987 mehrfach getätigten Aussprüchen über die Gaskammern, die als Softcore-Version der „Auschwitzlüge“ gelten müssen. Im zweiten ließ er sich unter anderem über den Marschall Philippe Pétain – den Chef des mit NS-Deutschland zusammenarbeitenden Kollaborationsregimes im Zweiten Weltkrieg – mit den Worten aus, den Oberkollaborateur habe er „nie als Verräter betrachtet“.

Daraufhin platzte seiner Tochter Marine Le Pen, die im Januar 2011 den Parteivorsitz von ihm übernommen hatte, nunmehr endgültig der Kragen. Ihr und ihrer Umgebung liegt aus strategischen Gründen viel daran, nur nicht in den Geruch einer Komplizenschaft mit dem Nazismus und dem historischen Faschismus zu kommen. Denn die aktuelle Führungsriege ist davon überzeugt, die Schlacht um eine Rehabilitierung dieser historischen Regimes und ihrer Verbrechen sei bereits geschlagen und verloren – man möge sich deshalb lieber auf „Zukunftsfragen“ konzentrieren. Außerhalb der Problematik eines offenen Bekenntnisses zum historischen Faschismus oder zum Antisemitismus kann die Partei sich, aus Sicht ihrer aktuellen Führung, hingegen alles erlauben – sei es Ethnonationalismus, Rassismus oder dick aufgetragene soziale Demagogie. Hingegen ist Jean-Marie Le Pen wirklich ganz real der Auffassung, es sei ein strategischer Fehler, bei der Frage des Antisemitismus oder der zumindest teilweisen Verteidigung (jedenfalls Verharmlosung) des Faschismus von vor 1945 ff. nachzugeben. Tue man dies vollständig, so sein Standpunkt, so bleibe man auf ewig ein Spielzeug in den Händen der wirklich Mächtigen (vulgo der „antinationalen Lobbys“) und dazu verdammt, ein politisches Dasein als Büttel ihres Systems zu führen.

Jean-Marie Le Pen selbst hatte wohl nicht mit diesem vorläufigen Ausgang gerechnet: Am Abend des 04. Mai 15 entschied der engere Parteivorstand – das Bureau exécutif – des FN, den Altvorsitzenden Jean-Marie Le Pen mit einer „Suspendierung“, also dem Aussetzen seiner Mitgliedsrechte zu sanktionieren.

Neue Konkurrenzpartei? Oder doch nur ein Beiboot an der Seite des FN?

Darauf kündigte Jean-Marie Le Pen nun seinerseits an, er werde eine „eigene, neue Formation“ gründen, die aber seinen Worten zufolge nicht mit dem FN in Konkurrenz treten, sondern ihn gewissermaßen ergänzen soll. Dafür verfüge er bereits über „Hunderte, ja Tausende von Interessenten“, verkündete der Altpolitiker auf ziemlich vage Weise. Scharfe Angriffe richtete er dabei nicht so sehr gegen seine Tochter Marine – die er als lediglich schlecht beraten und unter negativem Einfluss stehend hinstellte -, sondern gegen deren Vizevorsitzenden Florian Philippot.

Der Altvorsitzende des FN setzt es sich insbesondere zum erklärten Ziel, den Einfluss des eher nationalkonservativ und zum Teil als Technokrat auftretenden, vordergründig sich zum Gaullismus bekennenden 33Jährigen auf seine bisherige Partei zu begrenzen. Philippot steht allerdings auch für einen Kurs, der stark auf das Register der sozialen Demagogie setzt. Jean-Marie Le Pen attackiert ihn besonders heftig wegen seiner, mittlerweile öffentlich bekannten, Homosexualität (Philippots Lebensgefährte ist der TV-Journalist Damien Desarmes).

Auf diese spielte Jean-Marie Le Pen in brutaler Offenheit an. Er öffentlich sprach von „Philippot und seinen Hübschen“, die ihm zufolge „in der Meute jagend“ auftreten. Am 13. Mai 15 bei BFM TVB warf er ihnen gar „Heterophobie“ vor, wodurch es nicht länger nur bei Anspielungen blieb.

Solche Auslassungen werden in Teilen der extremen Rechten verstandne und durchaus wohlwollend aufgenommen. Die Wochenzeitung ,L’Obs’ (Nummer vom 30. April 15) zitiert etwa den alten soldatischen „Haudegen“ der Kolonialkriege und früheren FN-Parteifunktionär Roger Holeindre mit den Worten: „Von einem schwulen Gaullisten angeführt zu werden – das ist ein bisschen zu viel verlangt!“ Holeindre hatte, wie ein beträchtlicher Teil der „alten Garde“, im Angesicht des innerparteilichen Aufstiegs von Marine Le Pen bereits vor ein paar Jahren seiner bisherigen Partei offiziell den Rücken gekehrt. Er ist heute ein Kader der Splitterpartei ,Parti de la France’ (PdF, „Partei Frankreichs“), welche Anfang 2009 vom früheren FN-Generalsekretär Carl Lang gegründet wurde, jedoch nur zu geringer Bedeutung fand. Doch die Worte des alternden Holeindre dürften auch einem gewissen Bodensatz innerhalb der derzeitigen Mitgliedschaft des FN irgendwo aus der Seele sprechen...

Polemik um sozial- und wirtschaftspolitische Ausrichtung der rechtsextremen Partei

Der seit 2011 unter Marine Le Pen und Florian Philippot verstärkte Rückgriff auf Sozialdemagogie, die mit teilweise keynesianisch klingenden Tönen unterlegt wird und vor allem auf der Vorstellung eines Nationalprotektionismus beruht, ist unterdessen Gegenstand heftiger Debatten in der Partei. In seinen umstrittenen Interviews stellte Jean-Marie Le Pen nämlich auch diese sozial- und wirtschaftspolitische Diskursorientierung in Frage. Auch andere Protagonisten in der Partei stellen sie auf den Prüfstand, etwa die Abgeordnete Marion Maréchal-Le Pen – eine Enkelin von Jean-Marie und Nichte von Marine Le Pen -, die seit Monaten dafür eintreten, auch Unternehmerinteressen müssten wieder stärker Beachtung bei der extremen Rechten finden. Vor allem mittelständische.

Inzwischen scheinen Teile des FN offen vom sozialdemagogischen Kurs abzurücken. Generalsekretär Nicolas Bay erklärte am 18.05.15: „Wir haben niemals die Rente ab 60 verteidigt“, das stimme einfach nicht. In Wirklichkeit hatte Marine Le Pen eine solche Position tatsächlich kurzzeitig vertreten. Nachdem zwischen Mai und November 2010 Gewerkschaften und eine starke soziale Bewegung gegen die damalige „Rentenreform“ – es ging unter anderem um eine Anhebung des Pensionsalters auf mindestens 63 als Eintrittsalter mit vollen Beitragsjahren, sonst 65 – protestierten, wenngleich vergeblich, verordnete Marine Le Pen ihrer Partei eine Anpassung der offiziellen Programmatik.

Bis dahin trat der FN für eine Anhebung des Rentenalters auf mindestens 65 sowie eine teilweise Privatisierung der Rentenkassen ein. Ab dem Herbst 2010 erfolgte plötzlich ein rabiater Wechsel zugunsten einer Verteidigung der Rente ab 60, die damals populär zu sein schien, die dann auch im Wahlprogramm für 2012 stand. Ihr eigener Parteiapparat rückt nunmehr jedoch offen davon ab. Marine Le Pen selbst ruderte in diesen Tagen daraufhin zurück. Und erklärte, der französische Staat solle erst einmal alle unnötigen Ausgaben einsparen, insbesondere bei den „Kosten der Einwanderung“. Wenn dies einmal erfolgt sei, werde man „versuchen“, das Rentenalter herabzusetzen, um zu sehen, „ob es möglich“ sei.

An diesem Punkt löst sich eines der demagogischen Sozialversprechen der rechtsextremen Partei also soeben in Luft auf. Dies war zwar auch das Schicksal anderer „sozialer“ Punkte in ihrem Programm oder Diskurs. Vor dem Wahlsieg von Syriza in Griechenland vom 25. Januar 15 etwa betonte der FN lautstark, er sei angeblich solidarisch mit den Griechen, wünsche einen Wahlsieg der dortigen Linken – weil diese eurokritisch seien -, und Frankreich wie Griechenland seien gleichermaßen Opfer des Molochs EU. Nachdem jedoch die Regierung von Alexis Tsipras gewählt worden war, fiel die erste Reaktion des FN auf deren Forderungen nach einer Diskussion über die griechischen Schulden sofort ganz anders aus. Eine Streichung oder Aussetzung der griechischen Schuldzahlungen komme überhaupt nicht in Frage, dies wäre „unverantwortlich“. So sind die meisten scheinbar sozialkritischen Punkte im FN-Diskurs letztlich nichts als heiße Luft.

 

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.