Unmittelbarkeit und Vermittlung
Leseauszug aus: Soziale Wirklichkeit und soziologische Erkenntnis

von Erich Hahn

5-6/2017

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Die empirische soziologische Forschung sieht sich vor die Proble­matik gestellt, daß sie es mit unmittelbaren konkreten Gegeben­heiten — Menschen, Verhaltensweisen, Ereignissen usw. — zu tun hat. Diesem Objekt gegenüber sind zwei Arten der Interpretation möglich. Entweder diese Objekte werden in ihrer Unmittelbarkeit hingenommen und verabsolutiert. Die weitere Analyse hat dann den Nachweis von Beziehungen zwischen ihnen zum wesentlichen Inhalt. Das heißt, unmittelbare Gegebenheiten werden zum Aus­gangspunkt der theoretischen Arbeit.

Dieses Verfahren führt unausweichlich zu Idealismus. Von indi­viduell Handelnden oder individuellen Handlungen ausgehen bedeutet, ein Element zum Ausgangspunkt zu wählen, in dem not­wendigerweise ideelle Momente primär sind.(1) In einer individuellen Handlung gehen Wille, Zweck, Absicht usw. dem wirklichen Han­deln voraus, Das ist eine Spezifik der menschlichen Existenz und der sozialen Entwicklung. Soziale Interaktion wird unmittelbar wesent­lich durch ideelle Prozesse eingeleitet, sie wird bezweckt; ideelle Faktoren bewirken die tatsächliche Interaktion. Für den Standpunkt der Unmittelbarkeit verschwindet die materielle Bedingtheit dieser ideellen Faktoren, die als gesamtgesellschaftlicher Zusammenhang, als soziale Konsequenz und Bedingung des individuelle.. Handelns existiert und begriffen werden muß. Sekundäres erscheint als Pri­märes. Die bewegende Kraft der Ideen verdeckt die sie erzeugende Grundlage. Sämtliche auf diese Unmittelbarkeit beschränkten Be­trachtungen stoßen auf Prozesse, die ihrem Gehalt, ihrer Qualität und ihrem Ablauf nach einem (unmittelbaren) Primat des Bewußt­seins unterliegen. Alle Folgerungen aus diesem Ausgangspunkt, alle noch so logisch abgeleiteten Beziehungen vermögen diesen Charak­ter des Ausgangspunkts nicht zu ändern. Auf diesem Boden ist auch keine oder nur eine sekundäre, abgeleitete, nachträgliche Objekti­vität möglich, jene „Objektivität", die in der bloßen Verselbstän­digung psychischer Beziehungen dem Individuum gegenüber besteht.

Die zweite Möglichkeit, die Objekte der soziologischen empirischen Forschung zu interpretieren, begreift diese Objektive als vermittelt. Vermittelt allerdings nicht einfach durch die unmittelbaren Be­ziehungen: das ist faktisch der höchste und einzige Standpunkt, zu dem die bürgerliche soziologische Theorie sich aufschwingt. Die Individuen werden „verstanden" aus ihrer Familie, ihren indivi­duellen Beziehungen zu den Arbeitskollegen, zu den Nachbarn, vor allem aber (Parsons) auf Grund der Beziehungen, die sich aus den Erwartungen ihrer unmittelbaren Umgebung in bezug auf sie per­sönlich oder ihre Gruppe bilden. Es geht vielmehr darum, diese unmittelbaren Beziehungen selbst als vermittelt zu begreifen. Alles hängt davon ab, zu den ursprünglichen Beziehungen vorzustoßen, die das Ganze der verschiedensten Beziehungen bedingen und be­stimmen, die in ihrer Gesamtheit das gesellschaftliche Leben aus­machen. Das sind die materiellen Beziehungen des gesellschaftlichen Lebens.

Selbstverständlich kann die Gegenüberstellung dieser beiden Standpunkte nicht absolut sein. Der objektiven Realität entspricht der Standpunkt, der Unmittelbarkeit und Vermittlung als Einheit zweier unterschiedener und zusammengehörender Momente be­greift (2). Es geht nicht darum, die Beschränkung auf die Unmittel­barkeit mit einer Beschränkung auf die Vermittlung zu vertauschen. Es geht vielmehr darum, der Beschränkung auf die Unmittelbarkeit die Einheit von Unmittelbarkeit und Vermittlung entgegenzusetzen. Es geht darum, von dieser Seite her, mit Hilfe dieser dialektischen Kategorien, einen der wesentlichen Fehler der gegenwärtigen bürger­lichen soziologischen Theorie bewußt zu machen bzw. die Über­windung dieses Fehlers durch den dialektischen und historischen Materialismus als Theorie und Methode zu verdeutlichen. (Wir gehen sicher nicht fehl in der Annahme, daß die u. a. von Helmut Schelsky aufgegriffene Diskussion über die erkenntnistheoretischen Prämissen der Soziologie, über das Verhältnis von Alltagsbewußtsein und theoretischem Denken, über primäre Sozialerfahrung des „Jeder­mann" und des „Soziologen", über persönliche und „verwissenschaft­lichte Primärerfahrung" als Ausdruck des Unbehagens über die Beschränkung auf die Unmittelbarkeit zu werten ist.(3) Die Klassiker des Marxismus-Leninismus haben sich dieser dialektischen Katego­rien nicht selten und in nicht unwesentlichem Zusammenhang be­dient(4) Daß sie in der gegenwärtigen marxistischen Literatur sehr selten verwendet werden, ist um so weniger begründet, als sie dadurch effektiv Kritikern des Marxismus überlassen werden.(5)

Lenin schrieb in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts: „Bisher verstanden es die Soziologen nicht, zu den einfachsten und ursprünglichsten Beziehungen, wie es die Produktionsverhältnisse sind, vorzudringen und wandten sich unmittelbar (von mir hervor­gehoben — E. H.) der Erforschung und Untersuchung der politisch-juristischen Formen zu, dabei stießen sie auf die Tatsache, daß diese Formen aus diesen oder jenen Ideen der Menschheit zu der be­treffenden Zeit entstanden sind — und blieben dabei stehen..."(6) Daran hat sich nur geändert, daß bei den bürgerlichen Soziologen der Gegenwart die Analyse der unmittelbaren Zusammenhänge der Individuen in kleinen Gruppen im Mittelpunkt steht. Man darf also nicht — das ist der Kern dieses methodischen Fehlers — das kon­krete Substrat der Gesellschaft (den unmittelbaren Ausgangspunkt der Vorstellungen und Anschauungen der Individuen — die erste soziale Erfahrung der Menschheit nach Homans) mit dem Ausgangs­punkt der Theorie verwechseln. Der unmittelbare Ausgangspunkt der Vorstellungen und Anschauungen ist vielfach vermittelt. Diese Vermittlungen aufzudecken und dadurch zum Ausgangspunkt der Theorie vorzustoßen, ist Aufgabe der Untersuchung.

Andererseits steht — wie das an mehreren Stellen dieser Arbeit bereits angedeutet wurde — der soziale und ideologische Sinn der Beschränkung auf die Unmittelbarkeit außer Zweifel. Die Beschrän­kung der sozialwissenschaftlichen Analyse und — im Gefolge da­von — der alltäglichen Erfahrungsbildung und Erkenntnis auf die Unmittelbarkeit der psychischen Beziehungen bzw. auf im wesent­lichen psychische Beziehungen der unmittelbaren Umwelt des ein­zelnen Individuums bedeutet eine Verabsolutierung des Status quo. Denn das über den gegebenen Zustand Hinausweisende entsteht als Produkt der inneren, wesentlichen Widersprüche und materiellen Entwicklungstendenzen des betreffenden Systems. Es kann nicht begriffen werden, ohne daß man den Blick auf gesamtgesellschaft­liche Zusammenhänge richtet. Die Unmittelbarkeit der gegebenen alltäglichen Beziehungen erweist sich diesen wesentlichen vermit­telnden inneren Tendenzen und Beziehungen gegenüber als äußere Hülle, als Oberfläche, als Erscheinung, die sich unter dem Einfluß der wesentlichen Widersprüche ändert. In der auf die Unmittelbar­keit fixierten Betrachtungsweise hingegen erscheint das, was dem Gegebenen widerspricht, ihm zuwiderläuft, als Fremdkörper, als das Unnormale und Unvermittelte.

So erweist sich auch die Beschränktheit und Untauglichkeit des  dogmatischen konformistischen Schemas, nach dem die Menschen in ihren Orientierungen ausschließlich dahin tendieren, günstige, vorteilhafte Reaktionen ihrer unmittelbaren Umwelt hervorzurufen. Natürlich sollen hier weder die Existenz noch die Bedeutung der­artiger Mechanismen geleugnet werden. Aber diese Bedeutung ist relativ. Das Schema versagt zwangsläufig, wenn es zum einzigen methodischen Prinzip der soziologischen Analyse aufgebläht wird. Ganz abgesehen davon, daß bei der allgemeinsoziologischen Ver­wendung dieses Prinzips völlig von den Konsequenzen abstrahiert wird, die sich aus der faktischen Klassenspaltung einer antagonisti­schen Gesellschaft ergeben (indem dieses Schema die Klassenspaltung überlagert und verdeckt, trägt es nicht unwesentlich zu ihrer Kon­servierung bei!), wird es den tatsächlichen Entwicklungsprozessen und dem Wirken der Triebkräfte auch einer nicht in antagonistische Klassen gespaltenen Gesellschaft keinesfalls gerecht. In diesem Schema ist kein Platz für Motivierungen oder Hand­lungen, die aus der Einsicht in allgemeinere, den Rahmen der un­mittelbaren Umgebung sprengende Zusammenhänge und Erforder­nisse der individuellen Existenz resultieren und die seitens dieser unmittelbaren Umwelt nicht selten entschieden abgelehnt, verurteilt und mißbilligt werden. Der Moral wird lediglich die Rolle eines Hüters des häuslichen, des nachbarlichen oder des Arbeitsfriedens zugebilligt. Und es ergibt sich eine weitere, nicht eben sehr huma­nistische Konsequenz. Wenn das einzelne Individuum darauf orien­tiert wird, sich in seinem Handeln und Verhalten ausschließlich nach den festgelegten Erwartungen und Maßstäben seiner unmittel­baren Umgebung zu richten, dann wird ihm die Möglichkeit ge­nommen, aktiv, schöpferisch, als Subjekt der sozialen und histo­rischen Entwicklung tätig zu werden. Denn dies setzt voraus, daß allgemeine, gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge, Prozesse und Gesetzmäßigkeiten als Bestimmungsgrund des individuellen Han­delns akzeptiert werden, daß Sinn und Funktion der soziologischen Theorie nicht zuletzt in der Aufdeckung dieser Vermittlungen und Hintergründe des Unmittelbaren gesehen und der einzelne in die Lage versetzt wird, die Relativität seiner unmittelbaren Umgebung, ihre relative Position in der sozialen Gesamtentwicklung, ihr Zu­rückbleiben oder Vorauseilen selbständig einzuschätzen.

Aber nicht nur das. Angesichts der wirklichen Verhältnisse in der kapitalistischen Gesellschaft wird unter diesen Voraussetzungen die Soziologie zu einer wirksamen Methode der Manipulation des Men­schen durch die jeweils herrschenden Klassen und Schichten. Diese halten sich nämlich erfahrungsgemäß keineswegs an die Empfeh­lungen und Rezepte des Modells jener universellen Übereinstim­mung und Zufriedenheit. Sie setzen ihre spezifischen Gebote und Normen als Regulatoren der unmittelbaren Verhältnisse. Die Sozio­logie verwandelt sich so in Herrschaftstechnik und die Individuen, die nicht den herrschenden Klassen angehören, in deren Objekt.

Anmerkungen

1) „Alles, was die Menschen in Bewegung setzt, muß durch ihren Kopf hin­durch . . . Wie beim einzelnen Menschen alle Triebkräfte seiner Handlungen durch seinen Kopf hindurchgehen, sich in Beweggründe seines Willens ver­wandeln müssen, um ihn zum Handeln zu bringen . . ." (K. Marx ,1 F. Engels. Werke, Bd. 21, Berlin 1962. S. 296 ff.)

2) Vgl. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Leipzig 1949. § 65f.

3) H. Schelsky, Ortsbestimmung der deutschen Soziologie. Düsseldorf-Köln 1959, S. 67 ff.; Handbuch der empirischen Sozialforschung, hrsg. v. Ren* König, Bd. I, Stuttgart 1962, S. 6, 11, 80; E. Dürkheim, Regeln der soziologischen Methode. Neuwied 1961, S. 47, 63.

4) Vgl. u. a. K. Marx / F. Engels, Werke, Bd. 25, Berlin 1964, S. 835, 847: K. Marx. Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953 (weiter zitiert als: Grundrisse), S. 61, 152, 159, 600, 605, 928.

5) Vgl. J.-P. Sartre, Marxismus und Existentialismus, Hamburg 1964. S. 32 ff.

6) W. I. Lenin, Werke, Bd. 1, Berlin 1961, S. 129.

Quelle: Erich Hahn, Soziale Wirklichkeit und soziologische Erkenntnis, Berlin 1965, S. 146-151