Wer kurz nach dem
ersten Durchgang der französischen
Präsidentschaftswahl vom Sonntag, den 23. April
geglaubt haben sollte, diese Wahl sei nunmehr
gelaufen, irrt. Viele dachten tatsächlich daran,
der in gesellschaftspolitischen Fragen linksliberal
und in ökonomischen Fragen marktradikal auftretende
frühere Minister Emmanuel Macron habe das Rennen
bereits gewonnen: Seine rechtsextreme
Gegenkandidatin Marine Le Pen könne nicht siegen.
Macron erhielt in der ersten Runde laut Endergebnis
24,0 Prozent und Le Pen 21,3 Prozent der
abgegebenen Stimmen. Bisherigen Umfragen zufolge
liegen die Stimmblöcke in der zweiten Runde
voraussichtlich bei rund sechzig Prozent (Macron)
und rund vierzig Prozent. Doch nichts ist
garantiert.
Dass die Chefin des Front National (FN) doch noch
gewinnt – es ist auch tatsächlich
„unwahrscheinlich, jedoch nicht unmöglich“,
wie vorsichtige Kommentatorinnen und Kommentaren
nunmehr formulieren. Am 26. April 17 zitiert die
Webseite der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalt
France télévisions etwa den
Politologen Serge Galam; er hatte im Sommer 2016
den späteren Wahlsieg von Donald Trump richtig
vorausgesagt. Ihm zufolge ist ein Wahlsieg Marine
Le Pens zwar kein wahrscheinliches Szenario, doch
dann möglich, wenn die Wahlenthaltung unter den
potenziellen Wählerinnen und Wählern Emmanuel
Macrons erheblich stärker ausfällt als unter denen
Marine Le Pens.
Tatsächlich wird die
Enthaltung auf Seiten der Le Pen-Anhänger/innen ihm
zufolge geringer ausfällen, denn ihre Wählerschaft
ist motiviert, die Dinge in ihrem Sinne zu ändern.
Macrons potenzielle Wählerschaft ist stärker mit
den momentanen sozialen und politischen
Gegebenheiten zufrieden, und überdies votierte
bereits ein Teil der Wählerinnen und Wähler
Emmanuel Macrons im ersten Wahlgang ausgesprochen
taktisch. Bis weit nach links hin gaben viele
Menschen Macron ihre Stimme, um den
aussichtsreichsten Bewerber gegen Le Pen vor der
Stichwahl möglichst gut platziert zu sehen. Die
Identifikation mit dem Kandidaten ist jedenfalls
bei diesen taktisch motivierten Stimmgebern jedoch
eher gering oder sogar ausgesprochen niedrig. Und
wenn sie nicht überzeugt davon sind, dass wirklich
Gefahr droht, könnten manche von ihnen dann der
Stichwahl fern bleiben.
Hinzu kommen Faktoren, wie sie durch die
französisch-amerikanische Zeitung Huffington
Post zitiert werden : Ihr zufolge spielt
etwa das lange Wochenende, in dessen Mitte der
zweite Wahlsonntag fällt, eher Marine Le Pen denn
Emmanuel Macron in die Hände. Der 8. Mai, der in
diesem Jahr auf den Montag nach der Stichwahl
fällt, ist in Frankreich ein gesetzlicher Feiertag.
Und zwar in Erinnerung an den 8. Mai 1945. Es
bleibt nur zu hoffen, dass nicht ausgerechnet am
Vorabend dieses Jahrestages die Erbin einer
neofaschistischen Partei die Präsidentschaftswahl
gewinnt. Allerdings erklärt der Demoskop Brice
Teinturier seinerseits im Wochenmagazin L’Obs,
Marine Le Pen könne strukturell „nicht gewinnen“,
die Hürde einer absoluten Mehrheit liege mit ihrem
Profil definitiv zu hoch.
Bislang wird Marine Le Pen in der öffentlichen
Meinung attestiert, sie habe einen guten Beginn
ihrer Stichwahlkampagne – also des Wahlkampfs in
den 14 Tagen zwischen den beiden Durchgängen –
hingelegt. Am Mittwoch, den 26. April d.J.
publizierte das Meinungsforschungsinstitut Harris
Interactive eine Umfrage dazu, die im Auftrag von
Radio Monte Carlo (RMC) und der Zeitschrit
Atlantico erstellt wurde. Ihr zufolge
erklären 61 Prozent der Befragten, Le Pen habe
einen guten Wahlkampf-Neustart nach der ersten
Runde hingelegt. Zu dessen bisherigen Höhepunkten
zählte ein längerer TV-Auftritt im ersten Kanal des
französischen Fernsehens – bei TF1 – am Abend des
25. April 17. Hingegen halten 52 Prozent den
Neustart Macron nach der ersten Wahlrunde für
verpatzt.
Am
Montag (24. April) war Emmanuel Macron zunächst in
eine Polemik darüber verwickelt worden, ob er nicht
seine Wahlnacht am Vorabend an einem zu luxuriösen
Ort – dem Etablissement La Rotonde im sechsten
Pariser Bezirk – verbracht habe. Manchen Beobachter
fühlten sich an Nicolas Sarkozy erinnert, der im
Mai 2007 seinen Wahlsieg in der Stichwahl um die
Präsidentschaft im Nobelrestaurant Fouquet’s auf
den Champs-Elysées (das allerdings noch deutlich
teurer und exklusiver ist) zusammen mit
Milliardären und Börsengrößen feierte. Dies hatte
damals bereits den ersten Kratzer am Image Sarkozys
gebildet, der in den folgenden Monaten zudem als
neureicher Parvenu und Angeber betrachtet wurde und
dessen Popularität schnell verfiel, betrachtet.
Einige führende Journalisten fühlten sich daraufhin
berufen, die Dinge zurechtzurücken und Macrons
Wahlabend auf verschiedenen Kanälen als weitaus
bescheidener als jene berühmt gewordenen
Fouquet’s-Nacht zu beschreiben.
Tendenziell ist die soziale Zusammensetzung der
beiden Wählerschaften – jener Macrons und jener Le
Pens im ersten Wahlgang – fast genau umgekehrt. Je
geringer das Einkommen und/oder der Bildungsstand
ausfallen, desto stärker wächst der Anteil für
Marine Le Pen. Die Zahlen variieren; denen der
Tageszeitung Libération (25. April)
zufolge wurde die FN-Chefin überdurchschnittlich
bei den Industriearbeitern mit 37 Prozent, den
unteren Angestellten mit 32 Prozent sowie den
Erwerbslosen mit 27 Prozent gewählt. Die Zahlen
beziehen sich natürlich jeweils auf den Teil der
sozialen Gruppe, der überhaupt zur Wahl ging und
sich nicht der Stimme enthielt. In führender
Position, d.h. als stärkste Einzelkandidatin
schnitt Marine Le Pen demnach in den Altersgruppen
zwischen 35 und 49 Jahren (mit 29 %) sowie zwischen
50 und 59 Jahren (mit 27 % der Stimmen) ab, also
tendenziell bei den Berufstätigen. Die sehr jungen
Generationen stimmten dagegen in schwächerem Ausmaß
für Marine Le Pen; bei den 18- bis 24jährigen waren
es demnach 21 Prozent, womit Marine Le Pen hinter
dem Linkssozialdemokraten und Linksnationalisten
Jean-Luc Mélenchon (jedoch vor Macron) liegt, und
bei der 25- bis 34jährigen waren es 24 Prozent.
Die Rentnerinnen und
Rentner wählten hingegen weit unterdurchschnittlich
Marine Le Pen – zu knapp zehn Prozent – und dafür
überdurchschnittlich den Konservativen François
Fillon: Rechte Tendenzen kamen in dieser
Altersgruppe nicht dem FN zugute, weil dessen
Forderung nach einem Euro-Austritt viele
Pensionierte um ihre Ersparnisse fürchten lässt.
In Bezug auf die
Geographie lässt sich nahezu eine gerade Linie quer
durch das Land ziehen: Im Nordosten, Osten und
Südosten Frankreichs wurde Marine Le Pen in vielen
Départements (Verwaltungsbezirken) die stärkste
Kandidatin in der erste Runde. Dagegen war dies,
von wenigen Ausnahmen abgesehen, fast nirgendwo
westlich einer Linie Le Havre / Marseille der Fall.
Die Ursachenforschung dafür fällt relativ leicht:
Die industriellen Krisenzonen Frankreichs liegen
alle im Osten und im Nordosten. Dagegen hat die
Stärke des FN in Südostfrankreich andere Ursachen
und baut auf einer anderen sozialen Basis auf; hier
spielt vor allem die Präsenz der Pieds Noirs oder
früheren Algeriensiedler an der französischen
Mittelmeerküste, die eine Art Vertriebenenmilieu
bilden, eine wichtige Rolle. Westfrankreich war
dagegen lange von ländlichen Sozialbeziehungen und
einer starken religiösen Praxis geprägt. Hier
bleibt ein konservatives Milieu stark verankert,
verweigert sich jedoch dem Front National. Neu
hingegen ist der Durchbruch Marine Le Pens in
manchen Regionen, in denen der FN bislang eine
periphere Rolle spielte. Etwa auf Korsika, dort
wird Le Pen stärkste Einzelkandidatin, oder in
„Überseegebieten“ wie Französisch-Guyana (dort
allerdings vor dem Hintergrund einer starken
Enthaltung).
Aus Sicht von Marine
Le Pen ist die Konstellation in der Stichwahl
ideologisch optimal. Aus ihrer Sicht – die einfach
die Vorzeichen gegenüber der Wahrnehmung der
Macron-Anhänger umkehrt, denen zufolge es sich um
eine Gegenüberstellung von „offener Gesellschaft“
und „nationalem Rückzug“ handelt - stellt sie die
Kräfte einer zerstörerischen Globalisierung und
seelen-, da grenzenlosen Welt denen des
„eingewurzelten Patriotismus“ und der
unterschiedlichen nationalen Identitäten entgegen.
Dass Marine Le Pen in
den Umfragen der letzten zwei Wochen vor der Wahl,
und in den Stimmergebnissen selbst, auf den zweiten
statt wie ursprünglich erwartet auf den ersten
Platz kam, hängt mit einer gewissen Abnutzung ihrer
Wahlkampagne zusammen. Vor allem aber bekam es ihr
nicht gar zu gut, dass sie am Sonntag, den 09.
April 17 die historische Verantwortung Frankreichs
für die „Razzia vom Velodrome d’Hiver“ – eine
Massenverhaftung von 13.000 Juden im Juli 1942
durch französische Polizeikräfte unter der
nazideutschen Besatzung – in einem Fernsehinterview
abstritt.
Zwar wiederholte sie damit theoretisch nur einen
Kernsatz der Doktrin des historischen Gaullismus,
der zufolge „Vichy nicht Frankreich war“, sondern
eine Art Fremdkörper in der Nation darstellte;
Charles de Gaulle hätte hinzugefügt, dass das wahre
Frankreich ja ab 1940 in London saß. Nicolas
Sarkozys Redenschreiber ab 2007, Henri Guaino, der
sich in seinem Größenwahnsinn für einen
Wiedergänger der Seele de Gaulles oder seines
Kulturministers André Malraux hält, gab zwar Marine
Le Pen öffentlich darin Recht. Doch in den Augen
der breiten Öffentlichkeit hat es den Front
National in gewisser Weise re-nazifiert, dass er
das Thema der Nazikollaboration anspricht, da die
offenen Sympathien zu Zeiten des früheren
Parteichefs Jean-Marie Le Pen nur notdürftig
zugedeckt wurden.
Entscheidend wird nun
sein, wie sich das Potenzial der unterlegenen
Kandidaten aufteilen wird. Am Abend des ersten
Wahlsonntags erklärten sich 48 Prozent des mit 20
Prozent gescheiterten konservativen Kandidaten
François Fillon bereit, in der Stichwahlrunde für
Macron zu stimmen, 33 Prozent wollen jedoch für Le
Pen stimmen.
Fillon selbst rief zur Wahl Emmanuel Macrons auf,
die rechtskatholische Ex-Ministerin der Sarkozy-Ära
(2007 bis 2012) Christine Boutin etwa tendiert
explizit zu Marine Le Pen. Ihr wurde allerdings ein
Dämpfer vom FN-Vizevorsitzenden Florian Philippot
verpasst: Der junge Politiker – dessen
Homosexualität bekannt ist – zeigte sich in einem
Radiointerview am 24. April 17 wenig von der 2016
wegen homophober Äußerungen gerichtlich
verurteilten religiösen Fanatikerin Boutin angetan.
Er wollte sie denn auch nicht als
„Unterstützerin“ bezeichnet wissen, sondern
stufte sie nur als „eine Wählerin neben
anderen“ ein. Christine Boutin bleibt
allerdings bei ihrer Orientierung, da sie ja nicht
für Le Pen stimme, sondern „gegen Macron“
als „besonders familienzerstörerischen
Politiker“, unter Anspielung auf dessen oft
unterstellte Homosexualität. Auch die organisierte
Reststruktur aus der Bewegung gegen die Öffnung der
Ehe für homosexuelle Paare (2013), La Manif
pour tous oder „die Demo für alle“
positionierte sich ähnlich. Ihre Sprechering
Ludovine de la Rochère forderte ihre Anhängerinnen
und Anhänger dazu auf, im Sinne einer
„Verhinderung Macrons“ zu wählen.
Die weniger religiöse, doch für rassistische
Aussprüche – etwa ihre Forderung zur „Verteidigung
der weißen Rasse“ – bekannte konservative
Ex-Ministerin Nadine Morano polterte empört gegen
den Aufruf ihres vomaligen
Präsidentschaftskandidaten Fillon (und anderer
konservativer Spitzenpolitiker) zur Macron-Wahl
drauf los.
Im
Lager des Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon – er
wurde mit 19,6 Prozent Vierter – tendieren laut
Zahlen von Le Monde 62 Prozent der
Wählerinnen zu Macron, nur neun Prozent zu Le Pen.
Allerdings gibt es in der Arbeiterwählerschaft
Mélenchons stärkere Widerstände gegen eine
Unterstützung für den wirtschaftsliberalen
Kandidaten Emmanuel Macron. Der gescheiterte
Kandidat Mélenchon selbst weigerte sich bislang,
eine Stimmempfehlung abzugeben. Er begnügte sich
seit dem Wahlabend mit dem Hinweis, 450.000
Personen, die sich auf seiner Webseite als
Unterstützerinnen und Unterstützer registrierten,
dürften nun ihre Meinung äußern. Auf elektronischem
Wege solle sie über die vorhandenen Optionen
abstimmen – einen Wahlaufruf zugunsten Macrons,
einen Appell zur Enthaltung, zum Ungültigstimmen
oder gar keine Aussage. Nur eine Unterstützung Le
Pens wird nicht in Betracht gezogen. Das Ergebnis
will die Umgebung Mélenchons nicht vor dem Freitag,
28. April bekannt geben. Unterdessen verkündete
Mélenchon allerdings bereits am Mittwoch Mittag
(26. April), er werde nicht verraten, ob bzw. für
wen er im zweiten Wahlgang abstimme.
Erstmals erklärte am 24. April eine vermeintlich
linke Stimme, die neostalinistische Webseite
Canempechepasnicolas – die bislang Mélenchon
„kritisch unterstützte“, ihm jedoch einen
mangelnden EU-Austrittswillen vorwarf – Macron zum
größeren und Le Pen zum kleineren Übel.
Marine Le Pen und der FN buhlen ihrerseits nunmehr
auf betonte Weise um die vormaligen
Mélenchon-Wähler. Aus der rechtsextremen Partei
wurde dazu ein eigenes Flugblatt in Umlauf
gebracht, das die vermeintlichen „gemeinsamen
Punkte“ zwischen beiden Kandidaten – wie
sozialpolitische Formulierungen oder die Forderung
nach NATO-Austritt – unterstreicht. Auch Philippot
strich den Wählerinnen und Wählern des
Linkskandidaten in seinem Rundfunkinterview
erkennbar Honig um den Mund.
Entscheidende
Bedeutung wird nun sicherlich noch der
Fernsehdebatte zwischen den beiden übriggebliebenen
Präsidentschaftsbewerbern, Macron und Le Pen, am
03. Mai 17 zukommen.
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