In
diesen Landstrichen hätte der Front National (FN)
beinahe einmal regiert: Bei den
Regionalparlamentswahlen vor anderthalb Jahren
sagten viele Umfragen vor dem ersten Durchgang der
rechtsextremen Partei einen Sieg vor allem in in
Nordostfrankreich voraus. Zum selben Zeitpunkt, Ende
2015, verschwanden mehrere alte Verwaltungsregionen
Frankreichs, und die bisherigen Regionen Picardie,
Nord sowie Pas-de-Calais wurden in der neuen
Großeinheit unter dem Namen Hauts-de-France
zusammengefasst. Bei ihr handelte es sich um eine
von drei der (insgesamt dreizehn) neuen
Großregionen, in denen ein Durchmarsch der Le
Pen-Partei bis in die Regionalregierung möglich
erschien. Es kam dann letztendlich anders: Die
Sammlung von WählerInnen aus unterschiedlichen
Lagern, von links bis konservativ, versperrte dem FN
dann doch noch den Weg. Er konnte keine einzige
Regionalexekutive stellen.
Ob
es dieses Jahr wieder so kommt, wenn Ende April und
Anfang Mai ein neues Staatsoberhaupt, im Juni dann
ein neues Parlament gewählt wird, ist derzeit noch
offen. Gesichert erscheint jedoch: An den Ebenen der
Picardie wird es wohl nicht liegen, falls Marine Le
Pen bei dem Versuch scheitert, eine Beteiligung an
der Staatsmacht zu erringen.
Von
Paris aus führt die Straße an den Städten Creil und
Compiègne vorbei in Richtung Soissons und Laon, im
Osten der Picardie. Der Name Creil, in rund fünfzig
Kilometern Entfernung von Paris, ist in Frankreich
in historischer Erinnerung geblieben: Im September
1989 brach hier die so genannte Affaire de
Creil aus. Es handelte es sich um den ersten
Kulturkampf um das muslimische Kopftuch an
französischen Bildungsanstalten: Ein Schuldirektor,
Mitglied der konservativen Partei RPR – eine der
Vorläuferparteien von Les Républicains (LR) unter
François Fillon – ordnete den Schulausschluss der
marokkanischstämmigen Mädchen Fatima und Leila
Achahboun sowie Samira Saidani an. Anlass dazu
lieferte das Tragen einer Kopfbedeckung. Der
ideologische Streit darum kochte schnell hoch. Der
historische Zufall wollte, dass er in den kommenden
Wochen just mit der Fall der Berliner Mauer, der in
manchen Kreisen als „Tod des Marxismus“
interpretiert wurde, zusammenfiel. Anfang Dezember
1989 stand anderswo in Frankreich, in Dreux –
westlich von Paris – eine Nachwahl für einen
freigewordenen Parlamentssitz an. Dabei erhielt die
FN-Kandidatin Marie-France Stirbois spektakuläre
61,3 Prozent in ihrem Wahlkreis und zog, als damals
einzige Abgeordnete ihrer Partei unter dem
Mehrheitswahlrecht, in die Nationalversammlung ein.
Creil im Département (Verwaltungsbezirk) Oise wählt
heute überdurchschnittlich stark den FN, bei den
letzten Europaparlamentswahl 2014 zum Beispiel zu 33
Prozent. Das hängt heute nicht mehr mit der
damaligen Kopftuchaffäre zusammen, sondern mit den
sozioökonomischen Verhältnissen in der Region. Zum
Einen handelt es sich beim Bezirk Oise, wie bei der
Picardie insgesamt, um eine von industriellem
Abstieg und Jobverlust geprägte Region. Zum Anderen
wurden im Département Oise nach dem Ende des
Algerienkriegs 1962 viele früheren Soldaten aus dem
Kolonialkrieg angesiedelt, die vom Staat günstigen
Baugrund erhielten. Die Regierung des
Rechtssozialdemokraten Guy Mollet hatte 1956 die
Wehrpflichtigenarmee mitsamt
Grundwehrdienstleistenden nach Nordafrika
abkommandiert, so dass in Algerien insgesamt über
500.000 Soldaten Dienst taten. Viele kamen mit
Traumata zurück, manche auch mit ausgeprägten
rassistischen Revanchegelüsten. Ihre Präsenz hat die
Region in den letzten Jahrzehnten nachhaltig mit
geprägt, ebenso wie jene der früheren Pieds
noirs oder europäischen Algeriensiedler die
Landstriche an der Mittelmeerküste von Perpignan bis
Nizza.
In
einem Schrebergarten am Rande einer kleinen
Hochhaussiedlung in Creil steht Gérard, Mitte
sechzig und frisch verrentet. Er wird, das ist nicht
zu verkennen, für den Front National stimmen.
„Wir haben unser Leben lang hart gearbeitet“,
meint der Mann, der als Schweißer und als Fahrer auf
Baustellen tätig war. „Und heute? Da bleibt
uns am Monatsende nichts mehr übrig. Und dann sieht
man in der Siedlung diese Jungen: Sie beziehen
Sozialhilfe, und drei mal am Tag sieht man sie am
Steuer von anderen Autos sitzen. Und nur
Markenturnschuhe tagen sie. Finden Sie das etwa
normal?“
Gérard scheint auf die
Existenz von kleinkriminellen Netzwerken, besonders
Dealern in der Hochhaussiedlung anzuspielen. Darin
liegt oft die einzige verfügbare Einkommensquelle
für junge Erwachsene, die sowohl aufgrund der
allgemeinen ökonomischen Situation als auch aufgrund
ihrer Herkunft vom Zugang zu regulären Jobs
weitgehend ausgeschlossen bleiben.
Weitere sechzig Kilometer weiter östlich liegt
Soissons, eine Gemeinde mit historischem Stadtkern,
den eine gotische Kathedrale und alte Gebäude
säumen. Die Fahrt dorthin führt durch Gegenden
nordöstlich der Hauptstadtregion, die
überdurchschnittlich stark rechtsextrem wählen;
Christian Duplan widmete ihnen bereits 2003 sein
Buch Mon village à l’heure Le Pen
(„Mein Dorf zur Stunde Le Pens“), nach den
Ergebnissen Jean-Marie Le Pens dort bei den
Präsidentschaftswahlen vom Vorjahr. In der
kollektiven Vorstellung stellt man sich diese
picardische Landschaft als eine von Rüben- und
Kohlfeldern vor. In Wirklichkeit ist sie jedoch rund
um die Städte deutlich industriell geprägt, durch
die Gegenwart oder aber die Vergangenheit: Viele
Industriebrachen und –ruinen wechseln sich ab mit
Metallbetrieben, in denen gehämmert und geklopft
wird.
An
jenem kühlen Frühjahrsabend findet eine Debatte in
Soissons statt zum Thema, wie man den Rassismus
bekämpfen könne. Dazu luden das Kollektiv gegen die
extreme Rechte aus der Nachbarstadt
Villers-Cotterêts – deren Rathaus seit 2014 durch
den regiert wird, als eine von zwölf
Kommunalregierungen des FN in Frankreich -, die Liga
für Menschenrechte (LDH) und Gewerkschaften ein.
Rund dreißig Menschen sind gekommen. Dominique
Natanson, um die sechzig, ist der Veranstalter. Er
ist Geschichtslehrer und ein landesweites
Führungsmitglied der „Französischen jüdischen Union
für den Frieden“ (UJFP), die unter anderem zu
Rassismus und zum Israel-Palästina-Konflikt
arbeitet. Vom Zulauf ist er eher enttäuscht:
„Ich wohne hier seit den 1970er Jahren. In früheren
Zeiten hätten die Linksparteien den Saal, wo wir uns
heute versammelt, mit einer dreistelligen Anzahl von
Menschen voll und übervoll bekommen.“
Jean ist ein junger Geschichtslehrer in Soisson und
hat sich viel mit Antisemitismus und sonstigem
Rassismus beschäftigt. Er erzählt eine Begebenheit,
die sich einige Tage zuvor ereignete und in seinen
Augen illustriert, wie sehr sich der Einfluss der
Ideen des FN vor Ort scheinbar normalisiert hat::
„Jedes Jahr am 21. März, dem internationalen Tag
zur Rassismusbekämpfung, richten wir schulische
Veranstaltungen aus. In diesem Jahr forderten wir
unsere Schüler im Vorfeld dazu auf, an diesem Tag
ein rosafarbenes oder rotes Kleidungsstück
anzulegen. Aber in eine meiner Klassen kamen zwanzig
Schüler demonstrativ in marineblau.“ Eben
dieses bleu Marine ist die
Wahlkampffarbe der FN-Vorsitzenden. Diesen Auftritt,
den man beinahe als uniformiert bezeichnen könnte,
hatten sie im Vorfeld angekündigt.
Im
benachbarten Villers-Cotterêts regiert der FN
bereits. An einigen symbolpolitischen Fragen hat er
in den letzten Jahren zu polarisieren vermocht. So
fand bis dahin alljährlich am 10. Mai, dem Jahrestag
der gesetzlichen Abschaffung der Sklaverei in
Frankreich und seinen Kolonien im Jahr 1848, eine
offizielle Gedenkveranstaltung statt.
Villers-Cotterêts spielte dabei landesweit eine
Schlüsselrolle, denn hier verstarb 1806 der aus
Haiti stammende General Thomas Alexandre Dumas - der
erste schwarze Armeeführer in Frankreich. Er war der
Vater des berühmten Schriftstellers Alexandre Dumas,
welcher ebenfalls in dieser Stadt zu Welt kam, wo
sich der Vater nach dem Ägyptenfeldzug Napoléon I.
niederließ. Doch die neu gewählte rechtsextreme
Stadtregierung hat in den letzten drei Jahren die
Beteiligung der Kommune an den Gedenkfeiertag
annulliert. Andenken an die Sklaverei soll nicht
stattfinden, da man keinen „nationalen
Masochismus“ in Sachen Geschichtspolitik
wünscht, wie es dazu heißt. Mehrfach mobilisierten
jedoch im selben Zeitraum antirassistische
Vereinigungen Busse aus Paris, um am 10. Mai gezielt
nach Villers-Cotterêts zu fahren.
José Gaspard vom Kreisverband der Lehrergewerkschaft
bei der CGT ist in Villers-Cotterêts tätig. Bei
aller Empörung über das Agieren der
FN-Kommunalregierung beobachtet er dennoch nicht,
dass diese sich diskreditiert hätte:
„Jedenfalls sofern sie nicht landesweit die Macht
haben, bleiben sie auf Samtpfoten und versuchen,
nicht zu weit zu gehen.“ Einer der Skandale
in Villers-Cotterêts unter dem FN drehte sich darum,
dass die Stadt einer Beratungsstelle die Mittel
wegkürzte, in der die CGT abhängig Beschäftigte zu
arbeitsrechtlichen Fragen – etwa bei
Kündigungsdrohungen – beriet. Viele der
Lohnabhängigen vor Ort arbeiten auf dem
Flughafengelände von Roissy, das sechzig Kilometer
entfernt zwischen der Stadt und dem Einzugsbereich
von Paris liegt.
„Doch
die FN-Manschaft im Rathaus war nicht so dumm“,
meint Gaspard, „dass sie der CGT total den
Krieg erklärte.“ Die vorherige
Rathausregierung unter dem Sozialdemokraten
Jean-Claude Pruski hatte versucht, die CGT aus
Räumlichkeiten hinauszudrängen, die der Stadt
gehören, dem Gewerkschaftsverband jedoch zur Nutzung
überlassen worden war. „An dem Punkt spielt
der FN nun die Großzügigen: Bitte schön, bleibt doch
drin!“ Deswegen werde seine Amtsführung auch
nicht in breiten Kreisen als spektakulär oder
bedrohlich wahr genommen. So lange der FN nicht auch
die Macht auf Staatsebene inne habe, um die es ihm
eigentlich gehe, werde sich dies wohl auch nicht
ändern.
Zu einigen
Wähler/innen/gruppen:
Die Jugend und die
Arbeiterschaft – an diesen sozialen Gruppen prallte
in den 1960er Jahre in Westdeutschland die NPD ab,
die damals die ersten Wahlerfolge für die extreme
Rechte in Deutschland nach 1945 einfuhr. Hingegen
zählen dieselben Gruppen heute in mehreren
europäischen Ländern zu denen, die
überdurchschnittlich stark für die extreme Rechte
stimmen. Dies festzustellen, ist zweifellosein
negativerer Befund, als würde es sich beim Votum für
die extreme Rechte vor allem um eine Angelegenheit
von Älteren respektive „Ewiggestrigen“ sowie
Kleinbürgern handeln.
Beim französischen
Front National zählen die junge Generation, die
industrielle Arbeiterschaft sowie der untere
„Mittelstand“ zu den Hauptstützen seines
wahlpolitischen Einflusses. Was die unter 25jährigen
Wahlberechtigten betrifft, so haben laut den
Instituten IFOP und Cevipof zwischen 27 und 30
Prozent von ihnen vor, bei der Präsidentschaftswahl
für Marine Le Pen zu stimmen. Die Chefin des FN wäre
damit die stärkste Kandidatin in dieser
Altersgruppe. Unter der Kernarbeiterschaft erreicht
der Wert gar an die 40 Prozent. Allerdings will in
beiden Fällen rund die Hälfte der Wahlberechtigten
überhaupt keine Stimme abgeben, und die Umfragewerte
beziehen sich nur auf diejenigen, die eine
Wahlteilnahme planen. Und relevante Teile der
Arbeiterschaft haben, mangels französischen Passes,
auch kein Stimmrecht.
Regionale Hochburgen
des FN bilden Nordostfrankreich (siehe unsere
Reportage) und Lothringen einerseits, die
französische Mittelmeerküste und vor allem ihr
östlicher Teil auf der anderen Seite. Die soziale
Zusammensetzung dabei ist höchst unterschiedlich:
überwiegend „proletarisch“ im Norden; eher von den
Mittelklassen bis zur oberen Mittelschicht geprägt
im Süden.
Editorische Hinweise: Wir erhielten diesen
Artikel vom Autor für diese Ausgabe.
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