Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Vorbereitung der Präsidentschaftswahl

Picardie: Hochburg der extremen Rechten

5-6/2017

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In diesen Landstrichen hätte der Front National (FN) beinahe einmal regiert: Bei den Regionalparlamentswahlen vor anderthalb Jahren sagten viele Umfragen vor dem ersten Durchgang der rechtsextremen Partei einen Sieg vor allem in in Nordostfrankreich voraus. Zum selben Zeitpunkt, Ende 2015, verschwanden mehrere alte Verwaltungsregionen Frankreichs, und die bisherigen Regionen Picardie, Nord sowie Pas-de-Calais wurden in der neuen Großeinheit unter dem Namen Hauts-de-France zusammengefasst. Bei ihr handelte es sich um eine von drei der (insgesamt dreizehn) neuen Großregionen, in denen ein Durchmarsch der Le Pen-Partei bis in die Regionalregierung möglich erschien. Es kam dann letztendlich anders: Die Sammlung von WählerInnen aus unterschiedlichen Lagern, von links bis konservativ, versperrte dem FN dann doch noch den Weg. Er konnte keine einzige Regionalexekutive stellen.

Ob es dieses Jahr wieder so kommt, wenn Ende April und Anfang Mai ein neues Staatsoberhaupt, im Juni dann ein neues Parlament gewählt wird, ist derzeit noch offen. Gesichert erscheint jedoch: An den Ebenen der Picardie wird es wohl nicht liegen, falls Marine Le Pen bei dem Versuch scheitert, eine Beteiligung an der Staatsmacht zu erringen.

Von Paris aus führt die Straße an den Städten Creil und Compiègne vorbei in Richtung Soissons und Laon, im Osten der Picardie. Der Name Creil, in rund fünfzig Kilometern Entfernung von Paris, ist in Frankreich in historischer Erinnerung geblieben: Im September 1989 brach hier die so genannte Affaire de Creil aus. Es handelte es sich um den ersten Kulturkampf um das muslimische Kopftuch an französischen Bildungsanstalten: Ein Schuldirektor, Mitglied der konservativen Partei RPR – eine der Vorläuferparteien von Les Républicains (LR) unter François Fillon – ordnete den Schulausschluss der marokkanischstämmigen Mädchen Fatima und Leila Achahboun sowie Samira Saidani an. Anlass dazu lieferte das Tragen einer Kopfbedeckung. Der ideologische Streit darum kochte schnell hoch. Der historische Zufall wollte, dass er in den kommenden Wochen just mit der Fall der Berliner Mauer, der in manchen Kreisen als „Tod des Marxismus“ interpretiert wurde, zusammenfiel. Anfang Dezember 1989 stand anderswo in Frankreich, in Dreux – westlich von Paris – eine Nachwahl für einen freigewordenen Parlamentssitz an. Dabei erhielt die FN-Kandidatin Marie-France Stirbois spektakuläre 61,3 Prozent in ihrem Wahlkreis und zog, als damals einzige Abgeordnete ihrer Partei unter dem Mehrheitswahlrecht, in die Nationalversammlung ein.

Creil im Département (Verwaltungsbezirk) Oise wählt heute überdurchschnittlich stark den FN, bei den letzten Europaparlamentswahl 2014 zum Beispiel zu 33 Prozent. Das hängt heute nicht mehr mit der damaligen Kopftuchaffäre zusammen, sondern mit den sozioökonomischen Verhältnissen in der Region. Zum Einen handelt es sich beim Bezirk Oise, wie bei der Picardie insgesamt, um eine von industriellem Abstieg und Jobverlust geprägte Region. Zum Anderen wurden im Département Oise nach dem Ende des Algerienkriegs 1962 viele früheren Soldaten aus dem Kolonialkrieg angesiedelt, die vom Staat günstigen Baugrund erhielten. Die Regierung des Rechtssozialdemokraten Guy Mollet hatte 1956 die Wehrpflichtigenarmee mitsamt Grundwehrdienstleistenden nach Nordafrika abkommandiert, so dass in Algerien insgesamt über 500.000 Soldaten Dienst taten. Viele kamen mit Traumata zurück, manche auch mit ausgeprägten rassistischen Revanchegelüsten. Ihre Präsenz hat die Region in den letzten Jahrzehnten nachhaltig mit geprägt, ebenso wie jene der früheren Pieds noirs oder europäischen Algeriensiedler die Landstriche an der Mittelmeerküste von Perpignan bis Nizza.

In einem Schrebergarten am Rande einer kleinen Hochhaussiedlung in Creil steht Gérard, Mitte sechzig und frisch verrentet. Er wird, das ist nicht zu verkennen, für den Front National stimmen. „Wir haben unser Leben lang hart gearbeitet“, meint der Mann, der als Schweißer und als Fahrer auf Baustellen tätig war. „Und heute? Da bleibt uns am Monatsende nichts mehr übrig. Und dann sieht man in der Siedlung diese Jungen: Sie beziehen Sozialhilfe, und drei mal am Tag sieht man sie am Steuer von anderen Autos sitzen. Und nur Markenturnschuhe tagen sie. Finden Sie das etwa normal?“

Gérard scheint auf die Existenz von kleinkriminellen Netzwerken, besonders Dealern in der Hochhaussiedlung anzuspielen. Darin liegt oft die einzige verfügbare Einkommensquelle für junge Erwachsene, die sowohl aufgrund der allgemeinen ökonomischen Situation als auch aufgrund ihrer Herkunft vom Zugang zu regulären Jobs weitgehend ausgeschlossen bleiben.

Weitere sechzig Kilometer weiter östlich liegt Soissons, eine Gemeinde mit historischem Stadtkern, den eine gotische Kathedrale und alte Gebäude säumen. Die Fahrt dorthin führt durch Gegenden nordöstlich der Hauptstadtregion, die überdurchschnittlich stark rechtsextrem wählen; Christian Duplan widmete ihnen bereits 2003 sein Buch Mon village à l’heure Le Pen („Mein Dorf zur Stunde Le Pens“), nach den Ergebnissen Jean-Marie Le Pens dort bei den Präsidentschaftswahlen vom Vorjahr. In der kollektiven Vorstellung stellt man sich diese picardische Landschaft als eine von Rüben- und Kohlfeldern vor. In Wirklichkeit ist sie jedoch rund um die Städte deutlich industriell geprägt, durch die Gegenwart oder aber die Vergangenheit: Viele Industriebrachen und –ruinen wechseln sich ab mit Metallbetrieben, in denen gehämmert und geklopft wird.

An jenem kühlen Frühjahrsabend findet eine Debatte in Soissons statt zum Thema, wie man den Rassismus bekämpfen könne. Dazu luden das Kollektiv gegen die extreme Rechte aus der Nachbarstadt Villers-Cotterêts – deren Rathaus seit 2014 durch den regiert wird, als eine von zwölf Kommunalregierungen des FN in Frankreich -, die Liga für Menschenrechte (LDH) und Gewerkschaften ein. Rund dreißig Menschen sind gekommen. Dominique Natanson, um die sechzig, ist der Veranstalter. Er ist Geschichtslehrer und ein landesweites Führungsmitglied der „Französischen jüdischen Union für den Frieden“ (UJFP), die unter anderem zu Rassismus und zum Israel-Palästina-Konflikt arbeitet. Vom Zulauf ist er eher enttäuscht: „Ich wohne hier seit den 1970er Jahren. In früheren Zeiten hätten die Linksparteien den Saal, wo wir uns heute versammelt, mit einer dreistelligen Anzahl von Menschen voll und übervoll bekommen.“

Jean ist ein junger Geschichtslehrer in Soisson und hat sich viel mit Antisemitismus und sonstigem Rassismus beschäftigt. Er erzählt eine Begebenheit, die sich einige Tage zuvor ereignete und in seinen Augen illustriert, wie sehr sich der Einfluss der Ideen des FN vor Ort scheinbar normalisiert hat:: „Jedes Jahr am 21. März, dem internationalen Tag zur Rassismusbekämpfung, richten wir schulische Veranstaltungen aus. In diesem Jahr forderten wir unsere Schüler im Vorfeld dazu auf, an diesem Tag ein rosafarbenes oder rotes Kleidungsstück anzulegen. Aber in eine meiner Klassen kamen zwanzig Schüler demonstrativ in marineblau.“ Eben dieses bleu Marine ist die Wahlkampffarbe der FN-Vorsitzenden. Diesen Auftritt, den man beinahe als uniformiert bezeichnen könnte, hatten sie im Vorfeld angekündigt.

Im benachbarten Villers-Cotterêts regiert der FN bereits. An einigen symbolpolitischen Fragen hat er in den letzten Jahren zu polarisieren vermocht. So fand bis dahin alljährlich am 10. Mai, dem Jahrestag der gesetzlichen Abschaffung der Sklaverei in Frankreich und seinen Kolonien im Jahr 1848, eine offizielle Gedenkveranstaltung statt. Villers-Cotterêts spielte dabei landesweit eine Schlüsselrolle, denn hier verstarb 1806 der aus Haiti stammende General Thomas Alexandre Dumas - der erste schwarze Armeeführer in Frankreich. Er war der Vater des berühmten Schriftstellers Alexandre Dumas, welcher ebenfalls in dieser Stadt zu Welt kam, wo sich der Vater nach dem Ägyptenfeldzug Napoléon I. niederließ. Doch die neu gewählte rechtsextreme Stadtregierung hat in den letzten drei Jahren die Beteiligung der Kommune an den Gedenkfeiertag annulliert. Andenken an die Sklaverei soll nicht stattfinden, da man keinen „nationalen Masochismus“ in Sachen Geschichtspolitik wünscht, wie es dazu heißt. Mehrfach mobilisierten jedoch im selben Zeitraum antirassistische Vereinigungen Busse aus Paris, um am 10. Mai gezielt nach Villers-Cotterêts zu fahren.

José Gaspard vom Kreisverband der Lehrergewerkschaft bei der CGT ist in Villers-Cotterêts tätig. Bei aller Empörung über das Agieren der FN-Kommunalregierung beobachtet er dennoch nicht, dass diese sich diskreditiert hätte: „Jedenfalls sofern sie nicht landesweit die Macht haben, bleiben sie auf Samtpfoten und versuchen, nicht zu weit zu gehen.“ Einer der Skandale in Villers-Cotterêts unter dem FN drehte sich darum, dass die Stadt einer Beratungsstelle die Mittel wegkürzte, in der die CGT abhängig Beschäftigte zu arbeitsrechtlichen Fragen – etwa bei Kündigungsdrohungen – beriet. Viele der Lohnabhängigen vor Ort arbeiten auf dem Flughafengelände von Roissy, das sechzig Kilometer entfernt zwischen der Stadt und dem Einzugsbereich von Paris liegt.

Doch die FN-Manschaft im Rathaus war nicht so dumm“, meint Gaspard, „dass sie der CGT total den Krieg erklärte.“ Die vorherige Rathausregierung unter dem Sozialdemokraten Jean-Claude Pruski hatte versucht, die CGT aus Räumlichkeiten hinauszudrängen, die der Stadt gehören, dem Gewerkschaftsverband jedoch zur Nutzung überlassen worden war. „An dem Punkt spielt der FN nun die Großzügigen: Bitte schön, bleibt doch drin!“ Deswegen werde seine Amtsführung auch nicht in breiten Kreisen als spektakulär oder bedrohlich wahr genommen. So lange der FN nicht auch die Macht auf Staatsebene inne habe, um die es ihm eigentlich gehe, werde sich dies wohl auch nicht ändern.

Zu einigen Wähler/innen/gruppen:

Die Jugend und die Arbeiterschaft – an diesen sozialen Gruppen prallte in den 1960er Jahre in Westdeutschland die NPD ab, die damals die ersten Wahlerfolge für die extreme Rechte in Deutschland nach 1945 einfuhr. Hingegen zählen dieselben Gruppen heute in mehreren europäischen Ländern zu denen, die überdurchschnittlich stark für die extreme Rechte stimmen. Dies festzustellen, ist zweifellosein negativerer Befund, als würde es sich beim Votum für die extreme Rechte vor allem um eine Angelegenheit von Älteren respektive „Ewiggestrigen“ sowie Kleinbürgern handeln.

Beim französischen Front National zählen die junge Generation, die industrielle Arbeiterschaft sowie der untere „Mittelstand“ zu den Hauptstützen seines wahlpolitischen Einflusses. Was die unter 25jährigen Wahlberechtigten betrifft, so haben laut den Instituten IFOP und Cevipof zwischen 27 und 30 Prozent von ihnen vor, bei der Präsidentschaftswahl für Marine Le Pen zu stimmen. Die Chefin des FN wäre damit die stärkste Kandidatin in dieser Altersgruppe. Unter der Kernarbeiterschaft erreicht der Wert gar an die 40 Prozent. Allerdings will in beiden Fällen rund die Hälfte der Wahlberechtigten überhaupt keine Stimme abgeben, und die Umfragewerte beziehen sich nur auf diejenigen, die eine Wahlteilnahme planen. Und relevante Teile der Arbeiterschaft haben, mangels französischen Passes, auch kein Stimmrecht.

Regionale Hochburgen des FN bilden Nordostfrankreich (siehe unsere Reportage) und Lothringen einerseits, die französische Mittelmeerküste und vor allem ihr östlicher Teil auf der anderen Seite. Die soziale Zusammensetzung dabei ist höchst unterschiedlich: überwiegend „proletarisch“ im Norden; eher von den Mittelklassen bis zur oberen Mittelschicht geprägt im Süden.

Editorische Hinweise: Wir erhielten diesen Artikel vom Autor für diese Ausgabe.