Keine Gegendemonstrantin hat sich bis hierher
verirrt. Neugierige Normalbürger, die sich einfach
mal vor der Stichwahl um die französische
Präsidentschaft informieren möchten, ebenfalls
nicht. Den Ort, den der französische Front National
(FN) sich Anfang dieser Woche für seine letzte
große Saalkundgebung vor der Stichwahl vom Sonntag,
den 07. Mai 17 ausgesucht hat, liegt am Arm der
Welt. Genauer gesagt, am nördlichen Rand des
Ballungsraums Paris, in der Nähe des Flughafens
Roissy-Charles de Gaulle, den fünfundzwanzig
Kilometer vom Pariser Stadtzentrum trennen.
Es
war auch nicht unter der breiten Bevölkerung im
Raum Paris dafür geworben worden. Wohl aber auf den
Webseiten des Front National, in der Rubrik
„Agenda“, die durch die Aktiven konsultiert wird.
Villepinte – Messegelände, Halle 5B, hieß es dort.
Gesagt, getan, spricht: den Vorortzug RER (Réseau
express régional) genommen und an der
Station Villepinte ausgestiegen. Dies erweist sich
schnell als taktischer Fehler, denn das
Ausstellungs- und Messezentrum hat eine eigene
Haltestelle, Salle des expositions,
rund einen Kilometer weiter. Aber die Strecke bis
zur Halle lässt sich doch bestimmt zu Fuß
zurücklegen? Ein neuer taktischer Fehler, denn wer
auf das GPS auf dem Mobiltelefon vertraut, wird mit
kilometerlangen Umwegen an der Umzäunung entlang
durch Äcker und Felder belohnt. Allerdings auch mit
dem Anblick freilaufender Fasanhühner.
Einen anderen Vorteil bietet der Umweg jedoch: den
Überblick über die gesamte Parkplatzanlage, auf der
die Fahrzeuge der Teilnehmerinnen und Teilnehmer
geparkt sind. Also gilt es, Autokennzeichen zu
zählen. Aus ganz Frankreich sind die Anwesenden
angereist, kaum jedoch aus dem Raum Paris,
abgesehen vom westlich der Hauptstadt gelegenen
Verwaltungsbezirk Les Yvelines. Dieses Département,
Nummer 78, Hauptstadt Versailles, zählt zu den
wohlhabenden Teilen des Großraums Paris. Und seit
Urzeiten, als der Königspalast dort noch von
Monarchen bewohnt war und die loyalsten Untertanen
sowie Hofschranzen sich drum herum ansiedelten, ist
es auch ein Hort der Reaktion. Viele Fahrzeuge
kommen aus anderen westlichen Vororten wie Suresne,
das von begrünten Abhängen aus einen Blick auf
Paris bietet. Die Leute aus der Hauptstadtregion,
die hierher kamen, zählen offensichtlich nicht zum
ärmeren Teil der Bevölkerung, obwohl die Kandidatin
des FN – Marine Le Pen – überdurchschnittlich in
den sozialen Unterklassen und weit weniger in den
Oberschichten mit höherem Bildungsstand gewählt
wird. Unter den aufgereihten Bussen finden sich
aber auch Kennzeichnen aus Nordfrankreich, etwa
Lille, und bis nach Nizza am Mittelmeer herunter.
Der Front National hat also alles, was aktiv und
mobil ist, herangekarrt. 26.000 Quadratmeter fasst
die Halle, die er für sein Großereignis angemietet
hat, und ausweislich der Betreibergesellschaft des
Messegeländes bietet sie Platz für 25.000 Personen;
Sitz- und Stehplätze zusammengerechnet. Doch,
Überraschung: Weite Teile der großen Halle sind,
mehr oder weniger notdürftig, mit Vorhängen
abgedeckt. Diese sollen die vielen, langen leeren
Sitzreihen verdecken. Auch der französischen Presse
fällt dies auf, eine Journalistin von Le
Monde wird später von 6.000 Anwesenden
sprechen, während der Front National behauptet, es
seien über 20.000 gewesen. Dass die rechtsextreme
Partei zwar mittlerweile eine breite Wählerschaft
aufweist, ihr Organisationsgrad und Mitgliederstand
– geschätzt auf real rund fünfzigtausend – weit
dahinter zurückhinkt, ist den Expertinnen kein
Geheimnis.
Noch vor Beginn meldet Twitter, mehreren Medien,
unter ihnen der Onlinezeitung Mediapart,
sei der Zutritt zur Halle verwehrt worden. Kein
Problem: Es bietet sich also an, sich als
angeblicher Sympathisant unter die Sympathisanten
zu setzen, nicht als Medienvertreter. Es geht los.
Vor Marine Le Pen spricht der rechtsbürgerliche
ehemalige Präsidentschaftskandidat Nicolas
Dupont-Aignan. Er erhielt im ersten Wahlgang 4,7
Prozent und unterzeichnete am Wochenende danach
einen „Koalitionsvertrag“ mit Marine Le Pen.
Einige, darunter der konservative Politiker Xavier
Bertrand, verglichen ihn daraufhin mit Pierre
Laval. Jener war kein ideologisch gefestigter
Faschist, sondern ursprünglich ein Liberaler, doch
auch ein hemmungsloser Karrierist. Er wurde eine
führende Figur des Vichy-Regimes und der
Kollaboration mit Nazideutschland, und 1945
erschossen.
Dupont-Aignan spricht
nur kurz und wirkt aalglatt. Aber auch Marine Le
Pen wird die Sache abkürzen: Die ganze
Veranstaltung, Ankündigung des Redners und der
Rednerin und ein bisschen Stimmungsmache
inbegriffen, wird nach anderthalb Stunden vorüber
sein. Sie sollte vor allem Bilder für das Fernsehen
produzieren. Die Ausführungen zu Sachthemen, wie
der Europapolitik – der FN tritt für einen Austritt
aus Euro und EU aus, erklärt jedoch im Vertrag mit
Dupont-Aignan, ein solcher sei „nicht die
Voraussetzung für jegliche Wirtschaftspolitik“, was
eine vorübergehende Akzeptanz dieses Rahmens
unterstellt – werden eher mit Gleichmut
aufgenommen. In Schwung kommt der Saal bei den
Attacken auf Emmanuel Macron, „den Vertreter der
Finanz“, den Marine Le Pen als Banker und
Globalisten attackiert.
Richtig zum Kochen kommt der Saal aber immer nur
dann, wenn die Sprache auf die Einwanderung kommt.
On est chez nous, on est chez nous!
wird dann skandiert. Das bedeutet so viel wie „Wir
sind hier zu Hause“, impliziert aber an diesem Ort:
Wir sind die Herren im Haus, wir wollen uns von
Einwanderern nicht in unsere Angelegenheiten
reinreden lassen.
Zu
kaufen gibt es auch etwas. Darunter T-Shirts mit
der Aufschrift Choisir la France –
„Frankreich (aus)wählen“, das ist der Slogan der
Stichwahlkampagne von Marine Le Pen. Und einem
Etikett: Made in Bangladesh. Auf
vielen ausliegenden Kleidungsstücken wurde es mit
der Schere säuberlich herausgeschnitten, doch nicht
auf allen. Im französischen Fernsehen wird die
Episode daraufhin zur Lachnummer werden: Eines der
zentralen Versprechen des Front National liegt im
wirtschaftlichen Protektionismus, als „Schutz für
französische Arbeiter und französische
Unternehmen“.
Vor allem aber verspricht Marine Le Pen Identität,
Identität und nochmals Identität. In langatmigen
Passagen beschreibt sie die Landschaften
Frankreichs, seine Küsten vom Ärmelkanal über den
Atlantik bis zum Mittelmeer, seine Mittelgebirge,
seine Bergketten. Ein neuer Anhaltspunkt für
ironische Kommentare von außen, denn es stellt sich
heraus, dass diese Stellen im Redetext geklaut
wurden: Sie waren fast wörtlich aus einer Ansprache
des konservativen Kandidaten François Fillon von
Mitte April abgekupfert. Viele Zeitungen schreiben
daraufhin vom „Plagiat“. Marine Le
Pen lässt sich davon nichts anhaben und erklärt in
einer Replik, nein nein, das sei volle Absicht
gewesen: Hätte sie nicht die Medien auf diese
Fährte gelockt, dann hätten sie auch nicht von
diesem Teil ihrer Rede gesprochen. So aber sei
diese „Hunderte von Malen ausgestrahlt und
kommentiert worden“. Sie wisse schließlich,
wie der Medienbetrieb funktioniere, und dass es
einen „Buzz“ brauche.
Ob
es ihr schadet oder nutzt, muss vorläufig
dahingestellt bleiben. In den Tagen vor dem Meeting
in Villepinte kopierte Marine Le Pen oft auch,
ungeniert, den Linkskandidaten Jean-Luc Mélenchon,
dem der erste Wahlgang einen vierten Platz
bescherte. Le Pen sprach dabei mehrfach von der
„Oligarchie“, die Frankreich beherrsche – ein
Ausdruck von Mélenchon, denn Le Pen sprach bis
dahin von ihren Gegnern als „der Kaste“ oder „dem
System“. Marine Le Pen bezeichnete sich dabei auch
selbst als insoumise (Aufsässige),
eine Anspielung auf den Namen von Mélenchons
Wahlplattform, La France insoumise.
Und bei einem Besuch am vorigen Sonntag, den 30.
April d.J. in Gardanne – wo eine Aluminiumfabrik
riesige Umweltprobleme durch die Einleitung
giftigen Klärschlamms ins Mittelmeer verursacht –
sprach Le Pen von der planification
écologique. Eine solche „ökologische
Wirtschaftsplanung“ stand im Zentrum von Mélenchons
Wahlprogramm. Aus Sicht von Marine Le Pen, die den
Slogan nun taktisch aufgriff, handelt es sich
allerdings nur um einen Unteraspekt im Agieren
eines wirtschaftlich aktiven, „starken
Staates“.
In den öffentlichen
Verkehrsmitteln zurück nach Paris finden sich fast
keine Anhänger von Marine Le Pen, die an der
Veranstaltung teilgenommen hatten. Doch, dort: eine
Gruppe von jungen Leuten im Sakko, ein halbes
Dutzend Männer und eine Frau. Gestatten,
Jean-François, Ségolène. Die nach Karriere
aussehenden Marine-Unterstützer, alle zwischen 20
und 25, sind Studierende der Elitehochschule
Sciences Po Paris. Einer von ihnen darf nun den
Wahlkampf in einem südwestfranzösischen Département
– Ariège – leiten, das vom FN als „Missionsgebiet“
betrachtet wird, weil es zu 70 Prozent links und
nur wenig Le Pen wählt.
Eine noch schwach strukturierte Partei wie der FN
bietet Aufstiegschancen. Auf den ersten Blick sehen
die jungen Leute aus und hören sich an, als könnten
sie auch bei jeder x-beliebigen anderen Partei
anbietet, Hauptsache, es bieten sich
Karriereaussichten. Um Ideologie scheint es dabei
erst einmal kaum zu gehen. Doch der Eindruck
täuscht. Auf der 45minütigen Fahrt bis Paris
Zentrum gibt es nur zwei inhaltliche Themen, die
zur Sprache kommen: Einwanderung, danach lange
nichts, und dann fällt noch jemandem das
französische Fischereiproblem ein. Die Fahrt durch
die nördlichen Vororte – den „Schock der
Rückkehr“ nennt das einer, der Rückkehr aus
der wohligen Gemeinschaft in der Halle – betrachten
die junge Leute als Fahrt durch Feindesland.
„In Créteil hat eine neue Station des RER eröffnet,
und ich sage Euch, der Anteil an – Ihr wisst schon,
von wem – unter den Passagieren ist erdrückend“,
erzählt einer seinen Kollegen. An der
Station Aulnay-sous-Bois taucht die Fassade eines
Restaurants mit nordafrikanischen Speisen auf. Es
ruft sofort ironische Kommentare hervor: „Na
klar, dort werden wir essen, ausgerechnet.“
Dieser Teil Frankreichs, bunt, multikulturell: Es
ist Feindesland.
Editorischer Hinweis
Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese
Ausgabe. Eine Kurzfassung wurde am Donnerstag, den
04.05.17 in der Tageszeitung taz publiziert
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