Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Vor dem zweiten Durchgang der Präsidentschaftswahl
Großveranstaltung mit Marine Le Pen am Nachmittag des 1. Mai

5-6/2017

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Keine Gegendemonstrantin hat sich bis hierher verirrt. Neugierige Normalbürger, die sich einfach mal vor der Stichwahl um die französische Präsidentschaft informieren möchten, ebenfalls nicht. Den Ort, den der französische Front National (FN) sich Anfang dieser Woche für seine letzte große Saalkundgebung vor der Stichwahl vom Sonntag, den 07. Mai 17 ausgesucht hat, liegt am Arm der Welt. Genauer gesagt, am nördlichen Rand des Ballungsraums Paris, in der Nähe des Flughafens Roissy-Charles de Gaulle, den fünfundzwanzig Kilometer vom Pariser Stadtzentrum trennen.

Es war auch nicht unter der breiten Bevölkerung im Raum Paris dafür geworben worden. Wohl aber auf den Webseiten des Front National, in der Rubrik „Agenda“, die durch die Aktiven konsultiert wird. Villepinte – Messegelände, Halle 5B, hieß es dort. Gesagt, getan, spricht: den Vorortzug RER (Réseau express régional) genommen und an der Station Villepinte ausgestiegen. Dies erweist sich schnell als taktischer Fehler, denn das Ausstellungs- und Messezentrum hat eine eigene Haltestelle, Salle des expositions, rund einen Kilometer weiter. Aber die Strecke bis zur Halle lässt sich doch bestimmt zu Fuß zurücklegen? Ein neuer taktischer Fehler, denn wer auf das GPS auf dem Mobiltelefon vertraut, wird mit kilometerlangen Umwegen an der Umzäunung entlang durch Äcker und Felder belohnt. Allerdings auch mit dem Anblick freilaufender Fasanhühner.

Einen anderen Vorteil bietet der Umweg jedoch: den Überblick über die gesamte Parkplatzanlage, auf der die Fahrzeuge der Teilnehmerinnen und Teilnehmer geparkt sind. Also gilt es, Autokennzeichen zu zählen. Aus ganz Frankreich sind die Anwesenden angereist, kaum jedoch aus dem Raum Paris, abgesehen vom westlich der Hauptstadt gelegenen Verwaltungsbezirk Les Yvelines. Dieses Département, Nummer 78, Hauptstadt Versailles, zählt zu den wohlhabenden Teilen des Großraums Paris. Und seit Urzeiten, als der Königspalast dort noch von Monarchen bewohnt war und die loyalsten Untertanen sowie Hofschranzen sich drum herum ansiedelten, ist es auch ein Hort der Reaktion. Viele Fahrzeuge kommen aus anderen westlichen Vororten wie Suresne, das von begrünten Abhängen aus einen Blick auf Paris bietet. Die Leute aus der Hauptstadtregion, die hierher kamen, zählen offensichtlich nicht zum ärmeren Teil der Bevölkerung, obwohl die Kandidatin des FN – Marine Le Pen – überdurchschnittlich in den sozialen Unterklassen und weit weniger in den Oberschichten mit höherem Bildungsstand gewählt wird. Unter den aufgereihten Bussen finden sich aber auch Kennzeichnen aus Nordfrankreich, etwa Lille, und bis nach Nizza am Mittelmeer herunter.

Der Front National hat also alles, was aktiv und mobil ist, herangekarrt. 26.000 Quadratmeter fasst die Halle, die er für sein Großereignis angemietet hat, und ausweislich der Betreibergesellschaft des Messegeländes bietet sie Platz für 25.000 Personen; Sitz- und Stehplätze zusammengerechnet. Doch, Überraschung: Weite Teile der großen Halle sind, mehr oder weniger notdürftig, mit Vorhängen abgedeckt. Diese sollen die vielen, langen leeren Sitzreihen verdecken. Auch der französischen Presse fällt dies auf, eine Journalistin von Le Monde wird später von 6.000 Anwesenden sprechen, während der Front National behauptet, es seien über 20.000 gewesen. Dass die rechtsextreme Partei zwar mittlerweile eine breite Wählerschaft aufweist, ihr Organisationsgrad und Mitgliederstand – geschätzt auf real rund fünfzigtausend – weit dahinter zurückhinkt, ist den Expertinnen kein Geheimnis.

Noch vor Beginn meldet Twitter, mehreren Medien, unter ihnen der Onlinezeitung Mediapart, sei der Zutritt zur Halle verwehrt worden. Kein Problem: Es bietet sich also an, sich als angeblicher Sympathisant unter die Sympathisanten zu setzen, nicht als Medienvertreter. Es geht los. Vor Marine Le Pen spricht der rechtsbürgerliche ehemalige Präsidentschaftskandidat Nicolas Dupont-Aignan. Er erhielt im ersten Wahlgang 4,7 Prozent und unterzeichnete am Wochenende danach einen „Koalitionsvertrag“ mit Marine Le Pen. Einige, darunter der konservative Politiker Xavier Bertrand, verglichen ihn daraufhin mit Pierre Laval. Jener war kein ideologisch gefestigter Faschist, sondern ursprünglich ein Liberaler, doch auch ein hemmungsloser Karrierist. Er wurde eine führende Figur des Vichy-Regimes und der Kollaboration mit Nazideutschland, und 1945 erschossen.

Dupont-Aignan spricht nur kurz und wirkt aalglatt. Aber auch Marine Le Pen wird die Sache abkürzen: Die ganze Veranstaltung, Ankündigung des Redners und der Rednerin und ein bisschen Stimmungsmache inbegriffen, wird nach anderthalb Stunden vorüber sein. Sie sollte vor allem Bilder für das Fernsehen produzieren. Die Ausführungen zu Sachthemen, wie der Europapolitik – der FN tritt für einen Austritt aus Euro und EU aus, erklärt jedoch im Vertrag mit Dupont-Aignan, ein solcher sei „nicht die Voraussetzung für jegliche Wirtschaftspolitik“, was eine vorübergehende Akzeptanz dieses Rahmens unterstellt – werden eher mit Gleichmut aufgenommen. In Schwung kommt der Saal bei den Attacken auf Emmanuel Macron, „den Vertreter der Finanz“, den Marine Le Pen als Banker und Globalisten attackiert.

Richtig zum Kochen kommt der Saal aber immer nur dann, wenn die Sprache auf die Einwanderung kommt. On est chez nous, on est chez nous! wird dann skandiert. Das bedeutet so viel wie „Wir sind hier zu Hause“, impliziert aber an diesem Ort: Wir sind die Herren im Haus, wir wollen uns von Einwanderern nicht in unsere Angelegenheiten reinreden lassen.

Zu kaufen gibt es auch etwas. Darunter T-Shirts mit der Aufschrift Choisir la France – „Frankreich (aus)wählen“, das ist der Slogan der Stichwahlkampagne von Marine Le Pen. Und einem Etikett: Made in Bangladesh. Auf vielen ausliegenden Kleidungsstücken wurde es mit der Schere säuberlich herausgeschnitten, doch nicht auf allen. Im französischen Fernsehen wird die Episode daraufhin zur Lachnummer werden: Eines der zentralen Versprechen des Front National liegt im wirtschaftlichen Protektionismus, als „Schutz für französische Arbeiter und französische Unternehmen“.

Vor allem aber verspricht Marine Le Pen Identität, Identität und nochmals Identität. In langatmigen Passagen beschreibt sie die Landschaften Frankreichs, seine Küsten vom Ärmelkanal über den Atlantik bis zum Mittelmeer, seine Mittelgebirge, seine Bergketten. Ein neuer Anhaltspunkt für ironische Kommentare von außen, denn es stellt sich heraus, dass diese Stellen im Redetext geklaut wurden: Sie waren fast wörtlich aus einer Ansprache des konservativen Kandidaten François Fillon von Mitte April abgekupfert. Viele Zeitungen schreiben daraufhin vom „Plagiat“. Marine Le Pen lässt sich davon nichts anhaben und erklärt in einer Replik, nein nein, das sei volle Absicht gewesen: Hätte sie nicht die Medien auf diese Fährte gelockt, dann hätten sie auch nicht von diesem Teil ihrer Rede gesprochen. So aber sei diese „Hunderte von Malen ausgestrahlt und kommentiert worden“. Sie wisse schließlich, wie der Medienbetrieb funktioniere, und dass es einen „Buzz“ brauche.

Ob es ihr schadet oder nutzt, muss vorläufig dahingestellt bleiben. In den Tagen vor dem Meeting in Villepinte kopierte Marine Le Pen oft auch, ungeniert, den Linkskandidaten Jean-Luc Mélenchon, dem der erste Wahlgang einen vierten Platz bescherte. Le Pen sprach dabei mehrfach von der „Oligarchie“, die Frankreich beherrsche – ein Ausdruck von Mélenchon, denn Le Pen sprach bis dahin von ihren Gegnern als „der Kaste“ oder „dem System“. Marine Le Pen bezeichnete sich dabei auch selbst als insoumise (Aufsässige), eine Anspielung auf den Namen von Mélenchons Wahlplattform, La France insoumise. Und bei einem Besuch am vorigen Sonntag, den 30. April d.J. in Gardanne – wo eine Aluminiumfabrik riesige Umweltprobleme durch die Einleitung giftigen Klärschlamms ins Mittelmeer verursacht – sprach Le Pen von der planification écologique. Eine solche „ökologische Wirtschaftsplanung“ stand im Zentrum von Mélenchons Wahlprogramm. Aus Sicht von Marine Le Pen, die den Slogan nun taktisch aufgriff, handelt es sich allerdings nur um einen Unteraspekt im Agieren eines wirtschaftlich aktiven, „starken Staates“.

In den öffentlichen Verkehrsmitteln zurück nach Paris finden sich fast keine Anhänger von Marine Le Pen, die an der Veranstaltung teilgenommen hatten. Doch, dort: eine Gruppe von jungen Leuten im Sakko, ein halbes Dutzend Männer und eine Frau. Gestatten, Jean-François, Ségolène. Die nach Karriere aussehenden Marine-Unterstützer, alle zwischen 20 und 25, sind Studierende der Elitehochschule Sciences Po Paris. Einer von ihnen darf nun den Wahlkampf in einem südwestfranzösischen Département – Ariège – leiten, das vom FN als „Missionsgebiet“ betrachtet wird, weil es zu 70 Prozent links und nur wenig Le Pen wählt.

Eine noch schwach strukturierte Partei wie der FN bietet Aufstiegschancen. Auf den ersten Blick sehen die jungen Leute aus und hören sich an, als könnten sie auch bei jeder x-beliebigen anderen Partei anbietet, Hauptsache, es bieten sich Karriereaussichten. Um Ideologie scheint es dabei erst einmal kaum zu gehen. Doch der Eindruck täuscht. Auf der 45minütigen Fahrt bis Paris Zentrum gibt es nur zwei inhaltliche Themen, die zur Sprache kommen: Einwanderung, danach lange nichts, und dann fällt noch jemandem das französische Fischereiproblem ein. Die Fahrt durch die nördlichen Vororte – den „Schock der Rückkehr“ nennt das einer, der Rückkehr aus der wohligen Gemeinschaft in der Halle – betrachten die junge Leute als Fahrt durch Feindesland. „In Créteil hat eine neue Station des RER eröffnet, und ich sage Euch, der Anteil an – Ihr wisst schon, von wem – unter den Passagieren ist erdrückend“, erzählt einer seinen Kollegen. An der Station Aulnay-sous-Bois taucht die Fassade eines Restaurants mit nordafrikanischen Speisen auf. Es ruft sofort ironische Kommentare hervor: „Na klar, dort werden wir essen, ausgerechnet.“ Dieser Teil Frankreichs, bunt, multikulturell: Es ist Feindesland.

Editorischer Hinweis
Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe. Eine Kurzfassung wurde am Donnerstag, den 04.05.17 in der Tageszeitung taz publiziert