Vor genau fünfzehn Jahren gingen in Frankreich bis
zu zwei Millionen auf die Straße, um gegen die
Präsenz des rechtsextremen Politikers Jean-Marie Le
Pen in der Stichwahl um die Präsidentschaft zu
protestieren. In diesem Jahr gelang
es der Tochter und politischen Erbin des
mittlerweile bald 89jährigen Neofaschisten, Marine
Le Pen, unter stark veränderten Bedingungen in die
entscheidende zweite Runde der diesjährigen
Präsidentschaftswahl einzuziehen. Anders als damals
ereignet sich dies in keiner Weise überraschend,
sondern es war seit Monaten als nahezu feststehende
Gewissheit erwartet worden. Und während am späten
Abend des 21. April 2002 spontan Zehntausende
Menschen mit grünen Sonnenblumen, roten
Jungsozialistenfahnen oder schnell gemalten
Schildern auf der Pariser place de la Bastille
standen, blieb dieses Mal der massenhafte Protest
zunächst aus.
Am
selben Ort demonstrierten am vorletzten Sonntag,
den 23. April d.J. rund 300 Menschen aus dem harten
Kern der autonomen Szene. Allerdings stellten sie
die beiden Stichwahlkandidaten Emmanuel Macron und
Marine Le Pen in ihrer Ablehnung vollkommen auf
eine Stufe. Teilnehmer des großspurig als „Nacht
der Barrikaden“ angekündigten Protests beschimpften
Gäste auf einer Caféterrasse: „Der Bänker hat
gewonnen, na, na, seid Ihr jetzt zufrieden?“,
was sich auf Macron bezog, und beschädigten
Glasscheiben. Am selben Abend in Nantes und später
in Rennes gingen ebenfalls Autonome auf die Straße,
es kam insgesamt zu einigen Dutzend Festnahmen.
Mittlerweile kursieren aus derselben Szene in
Onlinemedien Folter- und Misshandlungsvorwürfe
gegen die Polizei wegen der Ereignisse auf Pariser
Wachen in der Wahlnacht.
Stärker spezifisch gegen Marine Le Pen gerichtet
ist dagegen die Ablehnung aus den Kreisen von
Gewerkschaften
sowie von antirassistischen und
Menschenrechtsverbänden. Die Veranstaltungen am
1. Mai dieses Jahres fielen allerdings nicht
überdimensioniert groß aus; so nahmen an den
gewerkschaftlichen Maidemonstrationen laut
Innenministerium 142.000, laut Veranstaltern
280.000 Menschen teil. In Paris kam es zu
militanten Auseinandersetzungen zwischen
Linksradikalen und der Polizei. Einige der Parolen
richteten sich direkt gegen den FN, andere deckten
die normalen Gewerkschaftsthemen ab. Am 1. Mai 2002
gingen allerdings zwei Millionen Menschen gegen
Jean-Marie Le Pen auf die Straßen.
Der bedeutendste Unterschied
jedoch, der die Entwicklung in diesem Frühjahr zwar
wohl nicht zur Tragödie werden lässt, ihren Folgen
jedoch hohe Bedeutung verleiht, liegt in den
Wahlchancen der neofaschistischen Politikerin. Zwar
ist es „unwahrscheinlich, aber nicht
unmöglich“, dass Marine Le Pen am kommenden
Sonntag,
den 07. Mai 17
wirklich gewählt wird, wie einige Beobachter
es mittlerweile formulieren – der
Politikwissenschaftler Guillaume Bernard drückte es
bereits im Februar dieses Jahres so aus. Doch auch
eine FN-Kandidatin, die mit zwischen 40 und 45
Prozent der Stimmen in der Stichwahl abschnitte,
würde für die
Zukunft einen anderen
politischen Faktor darstellen, als ihre Partei dies
bisher zu sein vermochte. Ihr Wahlsieg wäre fraglos
ein vollkommenes Desaster, da das französische
Staatsoberhaupt Vollmachen besitzt, die absolut
nicht mit denen eines deutschen Bundespräsidenten
oder selbst einer Bundeskanzlerin zu vergleichen
sind: Der Präsident oder die Präsidentin kann
allein die Regierung entlassen und das Parlament
vorzeitig auflösen, zumindest kurzfristig im
Alleingang über Militäreinsätze entscheiden und in
Krisenfällen nach Artikel 16 der Verfassung per
Notverordnung regieren.
Als Jacques Chirac im Mai 2002
mit 82,3 Prozent der Stimmen gegen den damaligen
FN-Kandidaten wiedergewählt worden war, fiel
Jean-Marie Le Pen für
mehrere Jahre ins Abseits der öffentlichen
Wahrnehmung. Dies dürfte dem FN in den kommenden
Monaten nicht widerfahren. Zumal auf die zweite
Runde der Präsidentschaftswahl dann, am 11. und 18.
Juni, noch die französischen Parlamentswahlen
folgen werden.
Macrons im April 2016 gegründete Kleinpartei
En Marche („In Bewegung“, „Vorwärts“)
stellt keine fest strukturierte politische Kraft
dar. Zwar erhielt sie 20.000 Bewerbungen von
Leuten, die sich bereit erklärten, in einem der 577
Wahlkreise für En Marche zur Parlamentswahl zu
kandidieren. Unter ihnen dürfte sich jedoch eine
Masse an Abenteurern, Glücksrittern, Karrieristen
und Querulanten befinden. Zieht man diese
Personengruppe ab, dann wird die Parteiführung
letztendlich die Wahl haben, entweder politisch
unerfahrene Bewerber aufzustellen oder aber
abgehalfterte Politgrößen aus den etablierten
Parteien – der bei der Präsidentschaftswahl
gescheiterten Sozialdemokratie und den
Konservativen - zu „recyceln“, wie es bereits jetzt
vielfach beschrieben wird. Die Leitung der
Kleinpartei, die wie in einem Unternehmen als
„Aufsichtsrat“ bezeichnet wird und bislang die
potenziellen Kandidaten zu einem nur wenige Minuten
dauernden „Casting“ wie bei einem Filmprojekt
empfing, wird wohl einen Mittelweg suchen. Das
Ganze dürfte sich jedoch auf Dauer als instabil
erweisen.
Sowohl Politiker vom rechten Flügel der
Sozialdemokratie, wie Ex-Premierminister Manuel
Valls, als auch aus den Reihen der gemäßigten
Konservativen könnten - im Falle der Wahl Macrons
ins Präsidentenamt - unter ihm mitregieren. Dadurch
könnte jedoch umgekehrt ein Teil der bürgerlichen
Rechten stärker als bisher in Richtung Front
National driften. Ein solches erklärtes oder
unerklärtes Bündnis könnte aber in einem Parlament,
das eventuell von instabilen wechselnden Mehrheiten
gekennzeichnet sein wird, eine wichtige Rolle
spielen.
Zuvor war die erste Runde der
französischen Präsidentschaftswahl dadurch
gekennzeichnet gewesen, dass die beiden politischen
Blöcke, die sich seit sechzig Jahren an der
Regierung abwechselte, postgaullistische
Konservative und Sozialdemokratie,
alle
beide scheiterten. Diesen Punkt hat die
französische Wahl mit der österreichischen
Bundespräsidentenwahl von 2016 gemeinsam.
Zur Mitte der vorigen Woche attestierten in einer
Umfrage 61 Prozent Marine Le Pen einen guten
Neustart ihrer Wahlkampagne. Zugleich waren 52
Prozent der Auffassung, Macron habe den seinen
verpatzt.
Am
vorigen Mittwoch
Nachmittag (26. April 17) verschlimmerte sich die
Lage für Macron zunächst noch. Der frühere
Wirtschaftsminister hatte sich einen Besuch in
seiner Geburtsstadt Amiens vorgenommen, wo Arbeiter
der Firma Whirlpool – die Haushaltsgeräte herstellt
– gegen eine drohende Massenentlassung streiken.
Macron wollte mit ausgewählten Personalvertretern
diskutierten, am Sitz des örtlichen
Arbeitgeberlagers. Ähnlich wie der Hase dem Igel in
der Fabel beim Wettlauf – scheinbar - zuvor kam,
war Marine Le Pen jedoch schneller vor Ort und
besuchte direkt die Streikposten vor der Fabrik.
Als Macron sich dann dorthin begab, erhielt er
einen unangenehmen Empfang, einige Anwesende riefen
auch aus: Marine, présidente!
Auch vor diesem Hintergrund des sozial begründeten
Misstrauens gegen Macron ist zu sehen, dass der
Linkskandidat Jean-Luc Mélenchon sich seit dem
ersten Wahlgang standhaft weigert, eine
Stimmempfehlung abzugeben. Er gibt sich zunächst
als schlechter Verlierer und erging sich sogar in
Andeutungen über eventuelle Unregelmäßigkeiten der
Wahl. Für seine eiernde Position gibt es jedoch
noch einen anderen Grund: Seine Wählerschaft setzt
sich aus einem Gutteil der früheren
sozialdemokratischen Wählerschaft, der
parteikommunistischen sowie einem „Protestpublikum“
– von dem ein Teil zuvor zwischen einer Wahl Le
Pens und Mélenchons zögerte – zusammen. In ihren
Reihen gibt es nun starke einander entgegen
gesetzte Tendenzen zum Verhalten in der Stichwahl.
Weit
überdurchschnittlich verankert ist diese
Wählerschaft vor allem auch in den sozialen
Krisenzonen der Banlieues, in der Pariser Vorstadt
Gennevilliers stimmten 47 Prozent der
Wahlteilnehmer für Mélenchon. In den KP-regierten
Kommunen, die es in den Trabantenstadtzonen noch
gibt, landete Mélenchon im Durchschnitt noch über
30 Prozent. Neben den Nichtwählern ist diese
Wählerschaft dort derzeit das stärkste Lager.
Sophie, eine Pariser Anwältin serbischer Herkunft,
die meist Gewerkschaften oder Migranten verteidigt,
ist etwa der Auffassung: „Macron wird doch
sowieso gewinnen. Und man versucht, die Leute auf
der Linken zu erpressen – damit sich nie etwas
ändert, weil man zwischen falschen Alternativen
gefangen ist.“ Dagegen forderte der aus der
Linken kommende Kriminautor
Didier Daeninckx – im Sinne eines notwendigen
Primats des Antifaschismus -
am Freitag, den 28. April Mélenchon auf, er
solle sich das rote Dreieck von der Jacke abnehmen,
das er bei Debatten oft trägt. Es stand
ursprünglich als Symbol für die Arbeiterbewegung:
Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Schlaf und acht
Stunden Freizeit täglich bildeten ein Dreieck.
Unter dem Nationalsozialismus stand es jedoch für
linke politische Häftlinge.
Daeninckx wirft Mélenchon vor, dass er sich nicht
mehr zu Wort meldete, seitdem er am Mittwoch
ankündigte, er werde sein einiges Stimmverhalten
für die Stichwahl nicht bekannt geben,
allerdings auf keinen Fall für Le Pen stimmen.
Am Sonntag (30. April) schärfte Mélenchon seine
Position diesbezüglich und warnte in einem
TV-Interview vor dem „tragischen Fehler einer
Stimme für den FN“. Zugleich wandte er sich an
Emmanuel Macron mit dem Vorschlag, er könne linke
Stimmen leichter für sich werben, wenn er etwa sein
Vorhaben einer „Reform“ des Arbeitsrechts am
Parlament vorbei aufgebe, um Wähler/innen gegen Le
Pen zu sammeln. Macron schlug dieses Angebot jedoch
am Montag aus: Es komme nicht in Frage, auf die
Umkrempelung des Arbeitsrechts zu verzichten.
Am
Freitag, den 28. April 17 musste der Front National
in Windeseilen seinen Interimsvorsitzenden
Jean-François Jalkh absetzen, der den Parteivorsitz
zwei Tage vorher von Marine Le Pen übernommen
hatte. Ein Journalist der katholischen Zeitung
La Croix hatte ein Zitat von Jalkh –
Mitglied des FN seit 1974 – aus dem Jahr 2000
aufgefunden. Darin behauptet er, Massenvergasungen
in den nationalsozialistischen Lagern habe es nicht
geben können, weil die Belüftungstechnik dies nicht
zugelassen hätte.
Mélenchon dürfte von seinen Überzeugungen her klar
gegen Marine Le Pen ausgerichtet sein. Zugleich ist
er jedoch betont pessimistisch, was das soziale und
politische Kräfteverhältnis betrifft: In einem
Zitat von 2014 hatte er bedauert, zwar sei der
soziale „Vulkan“ in Frankreich
„explodiert“, doch – wie er hinzufügte –
„der Berg hat sich auf der falschen Seite
geöffnet“. Dies bedeutete, dass die Opfer,
die das sich verschärfende kapitalistische
Krisenregime fordert, politisch die extreme Rechte
und nicht die Linke stärkten.
Unterdessen hat Marine Le Pen
aus einem Teil der bürgerlichen Rechten Zulauf
erhalten, vor allem durch die
Unterstützungserklärung des EU-skeptischen
Präsidentschaftskandidaten Nicolas Dupont-Aignan
vom Freitag Abend
(28. April d.J.).
Er erhielt in der ersten Runde der
Präsidentschaftswahl 4,7 Prozent der abgegebenen
Stimmen. Am Samstag,
den 29. April 17
unterzeichneten beide einen „Koalitionsvertrag“.
Möglicherweise erlaubt dieses Dokument dem FN,
dessen Forderung nach EU-Austritt bislang die
Kapitelverbände gegen seinen Regierungseintritt
plädieren ließ, doch noch die Quadratur des
Kreises. Die rechtsextreme Partei bleibt bei ihrer
Gegnerschaft zu EU und Euro, was einen Teil ihrer
Basis mobilisiert. Im „Regierungsvertrag“ mit
Dupont-Aignan, dem Le Pen im Falle ihres Wahlsiegs
den Posten eines Premierministers verspricht, steht
jedoch auch, ein Austritt aus dem Euro sei
„nicht die Voraussetzung für jegliche
Wirtschaftspolitik“, was andeutet, dass man
diesen Rahmen vorläufig akzeptieren könne.
Vielleicht lässt dies den FN „regierungsfähig“
erscheinen.
Editorischer Hinweis
Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese
Ausgabe. Eine gekürzte Fassung dieses Artikels
erschien am Donnerstag, den 04. Mai 17 in der
Wochenzeitung ,Jungle World’. Er wurde am 02. Mai
d.J. verfasst. Die damals sich abzeichnenden
Prognosen wurden in dieser Textfassung beibehalten,
auch wenn die Situation sich später verändert hat.
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