Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Vor dem zweiten Durchgang der Präsidentschaftswahl
Frankreich bereitet sich auf die Stichwahl vor

5-6/2017

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Vor genau fünfzehn Jahren gingen in Frankreich bis zu zwei Millionen auf die Straße, um gegen die Präsenz des rechtsextremen Politikers Jean-Marie Le Pen in der Stichwahl um die Präsidentschaft zu protestieren.  In diesem Jahr gelang es der Tochter und politischen Erbin des mittlerweile bald 89jährigen Neofaschisten, Marine Le Pen, unter stark veränderten Bedingungen in die entscheidende zweite Runde der diesjährigen Präsidentschaftswahl einzuziehen. Anders als damals ereignet sich dies in keiner Weise überraschend, sondern es war seit Monaten als nahezu feststehende Gewissheit erwartet worden. Und während am späten Abend des 21. April 2002 spontan Zehntausende Menschen mit grünen Sonnenblumen, roten Jungsozialistenfahnen oder schnell gemalten Schildern auf der Pariser place de la Bastille standen, blieb dieses Mal der massenhafte Protest zunächst aus.

Am selben Ort demonstrierten am vorletzten Sonntag, den 23. April d.J. rund 300 Menschen aus dem harten Kern der autonomen Szene. Allerdings stellten sie die beiden Stichwahlkandidaten Emmanuel Macron und Marine Le Pen in ihrer Ablehnung vollkommen auf eine Stufe. Teilnehmer des großspurig als „Nacht der Barrikaden“ angekündigten Protests beschimpften Gäste auf einer Caféterrasse: „Der Bänker hat gewonnen, na, na, seid Ihr jetzt zufrieden?“, was sich auf Macron bezog, und beschädigten Glasscheiben. Am selben Abend in Nantes und später in Rennes gingen ebenfalls Autonome auf die Straße, es kam insgesamt zu einigen Dutzend Festnahmen. Mittlerweile kursieren aus derselben Szene in Onlinemedien Folter- und Misshandlungsvorwürfe gegen die Polizei wegen der Ereignisse auf Pariser Wachen in der Wahlnacht.

Stärker spezifisch gegen Marine Le Pen gerichtet ist dagegen die Ablehnung aus den Kreisen von Gewerkschaften sowie von antirassistischen und Menschenrechtsverbänden. Die Veranstaltungen am 1. Mai dieses Jahres fielen allerdings nicht überdimensioniert groß aus; so nahmen an den gewerkschaftlichen Maidemonstrationen laut Innenministerium 142.000, laut Veranstaltern 280.000 Menschen teil. In Paris kam es zu militanten Auseinandersetzungen zwischen Linksradikalen und der Polizei. Einige der Parolen richteten sich direkt gegen den FN, andere deckten die normalen Gewerkschaftsthemen ab. Am 1. Mai 2002 gingen allerdings zwei Millionen Menschen gegen Jean-Marie Le Pen auf die Straßen.

Der bedeutendste Unterschied jedoch, der die Entwicklung in diesem Frühjahr zwar wohl nicht zur Tragödie werden lässt, ihren Folgen jedoch hohe Bedeutung verleiht, liegt in den Wahlchancen der neofaschistischen Politikerin. Zwar ist es „unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich“, dass Marine Le Pen am kommenden Sonntag, den 07. Mai 17 wirklich gewählt wird, wie einige Beobachter es mittlerweile formulieren – der Politikwissenschaftler Guillaume Bernard drückte es bereits im Februar dieses Jahres so aus. Doch auch eine FN-Kandidatin, die mit zwischen 40 und 45 Prozent der Stimmen in der Stichwahl abschnitte, würde für die Zukunft einen anderen politischen Faktor darstellen, als ihre Partei dies bisher zu sein vermochte. Ihr Wahlsieg wäre fraglos ein vollkommenes Desaster, da das französische Staatsoberhaupt Vollmachen besitzt, die absolut nicht mit denen eines deutschen Bundespräsidenten oder selbst einer Bundeskanzlerin zu vergleichen sind: Der Präsident oder die Präsidentin kann allein die Regierung entlassen und das Parlament vorzeitig auflösen, zumindest kurzfristig im Alleingang über Militäreinsätze entscheiden und in Krisenfällen nach Artikel 16 der Verfassung per Notverordnung regieren.

Als Jacques Chirac im Mai 2002 mit 82,3 Prozent der Stimmen gegen den damaligen FN-Kandidaten wiedergewählt worden war, fiel Jean-Marie Le Pen für mehrere Jahre ins Abseits der öffentlichen Wahrnehmung. Dies dürfte dem FN in den kommenden Monaten nicht widerfahren. Zumal auf die zweite Runde der Präsidentschaftswahl dann, am 11. und 18. Juni, noch die französischen Parlamentswahlen folgen werden.

Macrons im April 2016 gegründete Kleinpartei En Marche („In Bewegung“, „Vorwärts“) stellt keine fest strukturierte politische Kraft dar. Zwar erhielt sie 20.000 Bewerbungen von Leuten, die sich bereit erklärten, in einem der 577 Wahlkreise für En Marche zur Parlamentswahl zu kandidieren. Unter ihnen dürfte sich jedoch eine Masse an Abenteurern, Glücksrittern, Karrieristen und Querulanten befinden. Zieht man diese Personengruppe ab, dann wird die Parteiführung letztendlich die Wahl haben, entweder politisch unerfahrene Bewerber aufzustellen oder aber abgehalfterte Politgrößen aus den etablierten Parteien – der bei der Präsidentschaftswahl gescheiterten Sozialdemokratie und den Konservativen - zu „recyceln“, wie es bereits jetzt vielfach beschrieben wird. Die Leitung der Kleinpartei, die wie in einem Unternehmen als „Aufsichtsrat“ bezeichnet wird und bislang die potenziellen Kandidaten zu einem nur wenige Minuten dauernden „Casting“ wie bei einem Filmprojekt empfing, wird wohl einen Mittelweg suchen. Das Ganze dürfte sich jedoch auf Dauer als instabil erweisen.

Sowohl Politiker vom rechten Flügel der Sozialdemokratie, wie Ex-Premierminister Manuel Valls, als auch aus den Reihen der gemäßigten Konservativen könnten - im Falle der Wahl Macrons ins Präsidentenamt - unter ihm mitregieren. Dadurch könnte jedoch umgekehrt ein Teil der bürgerlichen Rechten stärker als bisher in Richtung Front National driften. Ein solches erklärtes oder unerklärtes Bündnis könnte aber in einem Parlament, das eventuell von instabilen wechselnden Mehrheiten gekennzeichnet sein wird, eine wichtige Rolle spielen. Zuvor war die erste Runde der französischen Präsidentschaftswahl dadurch gekennzeichnet gewesen, dass die beiden politischen Blöcke, die sich seit sechzig Jahren an der Regierung abwechselte, postgaullistische Konservative und Sozialdemokratie, alle beide scheiterten. Diesen Punkt hat die französische Wahl mit der österreichischen Bundespräsidentenwahl von 2016 gemeinsam.

Zur Mitte der vorigen Woche attestierten in einer Umfrage 61 Prozent Marine Le Pen einen guten Neustart ihrer Wahlkampagne. Zugleich waren 52 Prozent der Auffassung, Macron habe den seinen verpatzt.

Am vorigen Mittwoch Nachmittag (26. April 17) verschlimmerte sich die Lage für Macron zunächst noch. Der frühere Wirtschaftsminister hatte sich einen Besuch in seiner Geburtsstadt Amiens vorgenommen, wo Arbeiter der Firma Whirlpool – die Haushaltsgeräte herstellt – gegen eine drohende Massenentlassung streiken.

Macron wollte mit ausgewählten Personalvertretern diskutierten, am Sitz des örtlichen Arbeitgeberlagers. Ähnlich wie der Hase dem Igel in der Fabel beim Wettlauf – scheinbar - zuvor kam, war Marine Le Pen jedoch schneller vor Ort und besuchte direkt die Streikposten vor der Fabrik. Als Macron sich dann dorthin begab, erhielt er einen unangenehmen Empfang, einige Anwesende riefen auch aus: Marine, présidente!

Auch vor diesem Hintergrund des sozial begründeten Misstrauens gegen Macron ist zu sehen, dass der Linkskandidat Jean-Luc Mélenchon sich seit dem ersten Wahlgang standhaft weigert, eine Stimmempfehlung abzugeben. Er gibt sich zunächst als schlechter Verlierer und erging sich sogar in Andeutungen über eventuelle Unregelmäßigkeiten der Wahl. Für seine eiernde Position gibt es jedoch noch einen anderen Grund: Seine Wählerschaft setzt sich aus einem Gutteil der früheren sozialdemokratischen Wählerschaft, der parteikommunistischen sowie einem „Protestpublikum“ – von dem ein Teil zuvor zwischen einer Wahl Le Pens und Mélenchons zögerte – zusammen. In ihren Reihen gibt es nun starke einander entgegen gesetzte Tendenzen zum Verhalten in der Stichwahl.

Weit überdurchschnittlich verankert ist diese Wählerschaft vor allem auch in den sozialen Krisenzonen der Banlieues, in der Pariser Vorstadt Gennevilliers stimmten 47 Prozent der Wahlteilnehmer für Mélenchon. In den KP-regierten Kommunen, die es in den Trabantenstadtzonen noch gibt, landete Mélenchon im Durchschnitt noch über 30 Prozent. Neben den Nichtwählern ist diese Wählerschaft dort derzeit das stärkste Lager.

Sophie, eine Pariser Anwältin serbischer Herkunft, die meist Gewerkschaften oder Migranten verteidigt, ist etwa der Auffassung: „Macron wird doch sowieso gewinnen. Und man versucht, die Leute auf der Linken zu erpressen – damit sich nie etwas ändert, weil man zwischen falschen Alternativen gefangen ist.“ Dagegen forderte der aus der Linken kommende Kriminautor Didier Daeninckx – im Sinne eines notwendigen Primats des Antifaschismus - am Freitag, den 28. April Mélenchon auf, er solle sich das rote Dreieck von der Jacke abnehmen, das er bei Debatten oft trägt. Es stand ursprünglich als Symbol für die Arbeiterbewegung: Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Schlaf und acht Stunden Freizeit täglich bildeten ein Dreieck. Unter dem Nationalsozialismus stand es jedoch für linke politische Häftlinge.

Daeninckx wirft Mélenchon vor, dass er sich nicht mehr zu Wort meldete, seitdem er am Mittwoch ankündigte, er werde sein einiges Stimmverhalten für die Stichwahl nicht bekannt geben, allerdings auf keinen Fall für Le Pen stimmen. Am Sonntag (30. April) schärfte Mélenchon seine Position diesbezüglich und warnte in einem TV-Interview vor dem „tragischen Fehler einer Stimme für den FN“. Zugleich wandte er sich an Emmanuel Macron mit dem Vorschlag, er könne linke Stimmen leichter für sich werben, wenn er etwa sein Vorhaben einer „Reform“ des Arbeitsrechts am Parlament vorbei aufgebe, um Wähler/innen gegen Le Pen zu sammeln. Macron schlug dieses Angebot jedoch am Montag aus: Es komme nicht in Frage, auf die Umkrempelung des Arbeitsrechts zu verzichten.

Am Freitag, den 28. April 17 musste der Front National in Windeseilen seinen Interimsvorsitzenden Jean-François Jalkh absetzen, der den Parteivorsitz zwei Tage vorher von Marine Le Pen übernommen hatte. Ein Journalist der katholischen Zeitung La Croix hatte ein Zitat von Jalkh – Mitglied des FN seit 1974 – aus dem Jahr 2000 aufgefunden. Darin behauptet er, Massenvergasungen in den nationalsozialistischen Lagern habe es nicht geben können, weil die Belüftungstechnik dies nicht zugelassen hätte.

Mélenchon dürfte von seinen Überzeugungen her klar gegen Marine Le Pen ausgerichtet sein. Zugleich ist er jedoch betont pessimistisch, was das soziale und politische Kräfteverhältnis betrifft: In einem Zitat von 2014 hatte er bedauert, zwar sei der soziale „Vulkan“ in Frankreich „explodiert“, doch – wie er hinzufügte – „der Berg hat sich auf der falschen Seite geöffnet“. Dies bedeutete, dass die Opfer, die das sich verschärfende kapitalistische Krisenregime fordert, politisch die extreme Rechte und nicht die Linke stärkten.

Unterdessen hat Marine Le Pen aus einem Teil der bürgerlichen Rechten Zulauf erhalten, vor allem durch die Unterstützungserklärung des EU-skeptischen Präsidentschaftskandidaten Nicolas Dupont-Aignan vom Freitag Abend (28. April d.J.). Er erhielt in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl 4,7 Prozent der abgegebenen Stimmen. Am Samstag, den 29. April 17 unterzeichneten beide einen „Koalitionsvertrag“. Möglicherweise erlaubt dieses Dokument dem FN, dessen Forderung nach EU-Austritt bislang die Kapitelverbände gegen seinen Regierungseintritt plädieren ließ, doch noch die Quadratur des Kreises. Die rechtsextreme Partei bleibt bei ihrer Gegnerschaft zu EU und Euro, was einen Teil ihrer Basis mobilisiert. Im „Regierungsvertrag“ mit Dupont-Aignan, dem Le Pen im Falle ihres Wahlsiegs den Posten eines Premierministers verspricht, steht jedoch auch, ein Austritt aus dem Euro sei „nicht die Voraussetzung für jegliche Wirtschaftspolitik“, was andeutet, dass man diesen Rahmen vorläufig akzeptieren könne. Vielleicht lässt dies den FN „regierungsfähig“ erscheinen.

Editorischer Hinweis
Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe. Eine gekürzte Fassung dieses Artikels erschien am Donnerstag, den 04. Mai 17 in der Wochenzeitung ,Jungle World’. Er wurde am 02. Mai d.J. verfasst. Die damals sich abzeichnenden Prognosen wurden in dieser Textfassung beibehalten, auch wenn die Situation sich später verändert hat.