Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Am Tag des zweiten Durchgangs der Präsidentschaftswahl und danach
Livebericht vom Tag der Entscheidung oder Wo werden die linken Stimmen hingehen?

5-6/2017

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Derselbe Ort, zwei Wahlsonntage, zwei unterschiedliche Szenen. An diesem Sonntag, den 07. Mai gegen elf Uhr stehen die Menschen vor dem Schulgebäude, das in der Nähe des 18. Pariser Bezirksrathauses liegt, über etwa zwanzig Meter an. Einen Wahlsonntag früher, vor vierzehn Tagen, war die Schlange zur selben Uhrzeit mehr als doppelt so lang. Aber liegt es an einer gesunkenen Wahlteilnahme – oder schlicht am Wetter? Am 23. April strahlte die Sonne, und die Pariser/innen nutzten die Gunst die Stunde, um früh mit der Familie vor die Türe oder auf Ausflug zu gehen. Heute herrscht nasskalter Nieselregen.

Kurz nach Mittag kommt die Nachricht über die Wahlbeteiligung: Landesweit gingen in Frankreich bis dahin 28,23 Prozent an die Urnen. Das sind 0,31 Prozent weniger als in der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahl, also quasi stabile Verhältnisse. Lokale Schwankungen liegen also doch am Wetter. Oder nicht? Ein weiterer Unterschied fällt auf: Beim Gang über den nahen Wochenmarkt und die Straßen konnte man damals an allen Ecken politische Gesprächsfetzen aufschnappen. Hier hörte man „Mélenchon“ heraus, dort den Namen „Macron“. Heute ist nichts dergleichen zu beobachten. Zwar gehen auch an diesem zweiten Wahlsonntag zahlreiche Menschen ihren Einkäufen nach. Doch politische Gesprächsinhalte? Fehlanzeige.

Dennoch wird der Auswahlausgang auch an diesem 07. Mai von Vielen mit Anspannung erwartet. Nur eine kleine Minderheit dürfte sich positive Veränderungen erhoffen, doch viele Französinnen und Franzosen wollen wissen, ob das größere, das richtig große Übel – Marine Le Pen – nicht doch eine Chance hat, durchzukommen. Seit Mittwoch Abend hat das Fieber allerdings abgenommen: Seit ihrer grandios schlechten Darbietung in der Fernsehdebatte mit ihrem Gegenkandidaten Emmanuel Macron, in welcher sie vor allem in wirtschaftspolitischen Fragen eine fast erstaunliche Inkompetenz bewies, glaubten erheblich weniger BeobachterInnen als zuvor noch an einen potenziellen Sieg Le Pens. Doch sicher konnte sich niemand wirklich sein.

Auf zwei Wählergruppen lastete ein besonderer Druck, weil sie auch in ihrem Inneren von widerstreitenden Tendenzen geprägt wären: der Wählerschaft des Linkskandidaten Jean-Luc Mélenchon, und jener des Konservativen François Fillon. Beiden scheiterten in der ersten Runde mit rund zwanzig Prozent Stimmenanteil. Im Hinblick auf die Mélenchon-Wähler/innen legte der Front National über weite Strecken eher eine Nichtwahl- als eine Anwerbekampagne hin; ihr Ziel war es offenkundig eher, Linkswähler/innen davon abzuhalten, ihre Stimme auf Macron zu übertragen, als direkt um ihre Sympathien zu werben. So trompetete FN-Vizevorsitzender Florian Philippot in TV-Debatten, an die Mélenchon-Sympathisant/inn/en gerichtet, wollten diese mit sich und ihren Überzeugungen im Reinen sein, dann müsste sie sich „wenigsten enthalten“ – könnten jedoch nicht für einen Wirtschaftsliberalen, früheren Investmentbänker und Globalisten wie Macron stimmen.

In Paris waren Flugblätter und direkte Aufrufe des FN Seltenheitsware, Verteiler standen lediglich an einzelnen U-Bahnstationen im wohlhabenderen Pariser Westen wie Argentine im 17. Bezirk. Ansonsten kritzelten anonyme Hände am Ostbahnhof „FN gewinnt“ über Werbeplakate. Allerdings ist die französische Hauptstadt selbst auch ein schweres Pflaster für den FN – wer „Vermischung“ nicht liebt, ist ohnehin längst weggezogen. Im Stadtgebiet erhielt Marine Le Pen im ersten Durchgang hier nur 4,99 Prozent. Eine halbe Woche vor der Stichwahl tauchten hier anonyme Flugblätter auf, die nächtlich an Windschutzscheiben parkender Autos klebten. Auf ihnen prangten einige Zitate von Prominenten, die auf Macrons frühere Karrierestationen als Banker hinweisen, gefolgt von dem Hinweis auf „die Leiden einer Mehrheit der Franzosen, die durch die Globalisierung im Stich gelassen wurden“ und „die beunruhigenden Aspekte der Persönlichkeit Macrons“. Das Ganze könnte aus unterschiedlichen Richtungen kommen, trägt aber wohl eine rechtsextreme Handschrift, die sich nicht zu erkennen geben wollte – sondern formal zur „Enthaltung“ aufruft. Wollen die Leute nicht für Marine Le Pen stimmen, dann sollen sie es wenigstens auch nicht für ihren Gegenkandidaten tun.

Konservative Wähler/inn/en wollten sich nur ungern direkt äußern, zumal viele von ihnen François Fillon noch immer als Opfer eines Komplotts aus Justiz und Politik und sich als „um die Wahl betrogen“ betrachten. Doch drei Tage vor der Wahl kolportierte ein Journalist der italienischen Zeitung Corriere della Sera, Marine Le Pen – danach befragt, warum Fillon zur Wahl Emmanuel Macrons in der Stichwahl aufrufe – habe den konservativen Ex-Kandidaten ihm gegenüber wörtlich als „ein Stück Scheiße“ bezeichnet. Diesbezüglich verziehen viele Konservative nur das Gesicht., und das Gefühl bürgerlicher Wohlanständigkeit fühlt sich verletzt.

Auf der Linken gab es bis zuletzt heftige Debatten zwischen denen, die sich „erpresst“ fühlten, dazu aufgefordert, für Macron gegen Le Pen zu stimmen – wodurch sie stets zwischen schlechten Alternativen eingeklemmt blieben – und jenen, für die das Primat des Antifaschismus gilt. Jean-Marie etwa zählt zu den Ersteren. Der Mélenchon-Wähler, Gewerkschafter und Ingenieur meint, Macron sei sich doch eines Wahlsiegs ohnehin sicher. Um aber Menschen von der Suche nach sozialen und politischen Alternativen abzuhalten, stifte man Panik unter ihnen über einen möglichen Wahlsieg Le Pens, „wie 2002, und dann bekam ihr Vater am Ende doch nur 17 Prozent“. Und selbst wenn Le Pen gewählt würde, fügt derselbe hinzu, „dann könnte sie ohnehin nicht wirklich regieren: Sie hätte die EU, die Börse gegen sich und keine Mehrheit im Parlament.“

Jean-Louis, Techniker im Gesundheitswesen und im vorigen Jahr häufiger Teilnehmer der Platzbesetzerbewegung Nuit debout - er gab im ersten Wahlgang seine Stimme dem Linksradikalen Philippe Poutou – hat seinerseits seine Auffassung dazu geändert. „Auch ich hielt Marine Le Pen für durch die Umfrageinstitute überbewertet, ich rechnete gar nicht mit ihrem Einzug in die Stichwahl. Doch ich sage mir: Sollte sie je gewinnen, dann wird dies, ganz unabhängig von den realen politischen Spielräumen, eine Welle rassistischer Gewalt gegen die Schwächsten auslösen. Wie die rassistischen Taten nach dem Brexit-Votum in England oder nach der Wahl Donald Trumps in den USA.“ Er erwog deswegen zuletzt, mit einigem Zögern doch noch einen Stimmzettel für Macron in die Urne zu werfen. (Letztlich tat er es dann allerdings nicht, nach Beobachtung der ersten Prognosen, die im Laufe des Nachmittags bei belgischen und schweizerischen Medien online erschienen und Marine Le Pen deutlich besiegt aussehen ließen.)

Auf der für Petitionen reservierten Webseite Chance.org bot jemand eine Idee an, die innerhalb von wenigen Tagen dort 60.000 Unterschriften erntete: Man solle wählen gehen, doch „erst nach 17 Uhr“. Denn dann bliebe die Wahlbeteiligung erst relativ gering, um dann dank der Letzte-Minute-Wähler/innen doch noch anzusteigen. Dies sei - erklärte er - ein Mittel neben anderen, um zu belegen, dass man keineswegs für Macron stimme. Sondern ausschließlich gegen Le Pen.

Editorischer Hinweis
Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe. Erstveröffentlicht bei der Tageszeitung Neues Deutschland (ND) am Montag, den 08.05.17.