Derselbe Ort, zwei Wahlsonntage,
zwei unterschiedliche Szenen. An diesem Sonntag,
den 07. Mai gegen elf Uhr stehen die Menschen vor
dem Schulgebäude, das in der Nähe des 18. Pariser
Bezirksrathauses liegt, über etwa zwanzig Meter an.
Einen Wahlsonntag früher, vor vierzehn Tagen, war
die Schlange zur selben Uhrzeit mehr als doppelt so
lang. Aber liegt es an einer gesunkenen
Wahlteilnahme – oder schlicht am Wetter? Am 23.
April strahlte die Sonne, und die Pariser/innen
nutzten die Gunst die Stunde, um früh mit der
Familie vor die Türe oder auf Ausflug zu gehen.
Heute herrscht nasskalter Nieselregen.
Kurz nach Mittag kommt die
Nachricht über die Wahlbeteiligung: Landesweit
gingen in Frankreich bis dahin 28,23 Prozent an die
Urnen. Das sind 0,31 Prozent weniger als in der
ersten Runde der französischen
Präsidentschaftswahl, also quasi stabile
Verhältnisse. Lokale Schwankungen liegen also doch
am Wetter. Oder nicht? Ein weiterer Unterschied
fällt auf: Beim Gang über den nahen Wochenmarkt und
die Straßen
konnte man damals an allen Ecken politische
Gesprächsfetzen aufschnappen. Hier hörte man
„Mélenchon“ heraus, dort den Namen „Macron“. Heute
ist nichts dergleichen zu beobachten. Zwar gehen
auch an diesem zweiten Wahlsonntag zahlreiche
Menschen ihren Einkäufen nach. Doch politische
Gesprächsinhalte? Fehlanzeige.
Dennoch wird der Auswahlausgang
auch an diesem 07. Mai von Vielen mit Anspannung
erwartet. Nur eine kleine Minderheit dürfte sich
positive Veränderungen erhoffen, doch viele
Französinnen und Franzosen wollen wissen, ob das
größere,
das richtig große
Übel – Marine Le Pen – nicht doch eine Chance hat,
durchzukommen. Seit Mittwoch Abend hat das Fieber
allerdings abgenommen: Seit ihrer grandios
schlechten Darbietung in der Fernsehdebatte mit
ihrem Gegenkandidaten Emmanuel Macron, in welcher
sie vor allem in wirtschaftspolitischen Fragen eine
fast erstaunliche Inkompetenz bewies, glaubten
erheblich weniger BeobachterInnen als zuvor noch an
einen potenziellen Sieg Le Pens. Doch sicher konnte
sich niemand wirklich sein.
Auf zwei Wählergruppen lastete
ein besonderer Druck, weil sie auch in ihrem
Inneren von widerstreitenden Tendenzen geprägt
wären: der Wählerschaft des Linkskandidaten
Jean-Luc Mélenchon, und jener des Konservativen
François Fillon. Beiden scheiterten in der ersten
Runde mit rund zwanzig Prozent Stimmenanteil. Im
Hinblick auf die Mélenchon-Wähler/innen legte der
Front National über weite Strecken eher eine
Nichtwahl- als eine Anwerbekampagne hin; ihr Ziel
war es offenkundig eher, Linkswähler/innen davon
abzuhalten, ihre Stimme auf Macron zu übertragen,
als direkt um ihre Sympathien zu werben. So
trompetete FN-Vizevorsitzender Florian Philippot in
TV-Debatten, an die Mélenchon-Sympathisant/inn/en
gerichtet, wollten diese mit sich und ihren
Überzeugungen im Reinen sein, dann müsste sie sich
„wenigsten enthalten“ – könnten jedoch nicht für
einen Wirtschaftsliberalen, früheren
Investmentbänker und Globalisten wie Macron
stimmen.
In Paris waren Flugblätter und
direkte Aufrufe des FN Seltenheitsware, Verteiler
standen lediglich an einzelnen U-Bahnstationen im
wohlhabenderen Pariser Westen wie Argentine im 17.
Bezirk. Ansonsten kritzelten anonyme Hände am
Ostbahnhof „FN gewinnt“ über Werbeplakate.
Allerdings ist die französische Hauptstadt selbst
auch ein schweres Pflaster für den FN – wer
„Vermischung“ nicht liebt, ist ohnehin längst
weggezogen. Im Stadtgebiet erhielt Marine Le Pen im
ersten Durchgang hier nur 4,99 Prozent. Eine halbe
Woche vor der Stichwahl tauchten hier anonyme
Flugblätter auf, die nächtlich an
Windschutzscheiben parkender Autos klebten. Auf
ihnen prangten einige Zitate von Prominenten, die
auf Macrons frühere Karrierestationen als Banker
hinweisen, gefolgt von dem Hinweis auf „die
Leiden einer Mehrheit der Franzosen, die durch die
Globalisierung im Stich gelassen wurden“
und „die beunruhigenden Aspekte der
Persönlichkeit Macrons“. Das Ganze könnte
aus unterschiedlichen Richtungen kommen, trägt aber
wohl eine rechtsextreme Handschrift, die sich nicht
zu erkennen geben wollte – sondern formal zur
„Enthaltung“ aufruft. Wollen die Leute nicht für
Marine Le Pen stimmen, dann sollen sie es
wenigstens auch nicht für ihren Gegenkandidaten
tun.
Konservative Wähler/inn/en
wollten sich nur ungern direkt äußern,
zumal viele von ihnen François Fillon noch immer
als Opfer eines Komplotts aus Justiz und Politik
und sich als „um die Wahl betrogen“ betrachten.
Doch drei Tage vor der Wahl kolportierte ein
Journalist der italienischen Zeitung Corriere
della Sera, Marine Le Pen – danach befragt,
warum Fillon zur Wahl Emmanuel Macrons in der
Stichwahl aufrufe – habe den konservativen
Ex-Kandidaten ihm gegenüber wörtlich als „ein
Stück Scheiße“
bezeichnet. Diesbezüglich verziehen viele
Konservative nur das Gesicht., und das Gefühl
bürgerlicher Wohlanständigkeit fühlt sich verletzt.
Auf der Linken gab es bis
zuletzt heftige Debatten zwischen denen, die sich
„erpresst“ fühlten, dazu aufgefordert, für Macron
gegen Le Pen zu stimmen – wodurch sie stets
zwischen schlechten Alternativen eingeklemmt
blieben – und jenen, für die das Primat des
Antifaschismus gilt. Jean-Marie etwa zählt zu den
Ersteren. Der Mélenchon-Wähler, Gewerkschafter und
Ingenieur meint, Macron sei sich doch eines
Wahlsiegs ohnehin sicher. Um aber Menschen von der
Suche nach sozialen und politischen Alternativen
abzuhalten, stifte man Panik unter ihnen über einen
möglichen Wahlsieg Le Pens, „wie 2002, und
dann bekam ihr Vater am Ende doch nur 17 Prozent“.
Und selbst wenn Le Pen gewählt würde, fügt derselbe
hinzu, „dann könnte sie ohnehin nicht
wirklich regieren: Sie hätte die EU, die Börse
gegen sich und keine Mehrheit im Parlament.“
Jean-Louis, Techniker im
Gesundheitswesen und im vorigen Jahr häufiger
Teilnehmer der Platzbesetzerbewegung Nuit
debout - er gab im ersten Wahlgang seine
Stimme dem Linksradikalen Philippe Poutou – hat
seinerseits seine Auffassung dazu geändert.
„Auch ich hielt Marine Le Pen für durch die
Umfrageinstitute überbewertet, ich rechnete gar
nicht mit ihrem Einzug in die Stichwahl. Doch ich
sage mir: Sollte sie je gewinnen, dann wird dies,
ganz unabhängig von den realen politischen
Spielräumen, eine Welle rassistischer Gewalt gegen
die Schwächsten auslösen. Wie die rassistischen
Taten nach dem Brexit-Votum in England oder nach
der Wahl Donald Trumps in den USA.“ Er
erwog deswegen zuletzt, mit einigem Zögern doch
noch einen Stimmzettel für Macron in die Urne zu
werfen. (Letztlich tat er es dann allerdings nicht,
nach Beobachtung der ersten Prognosen, die im Laufe
des Nachmittags bei belgischen und schweizerischen
Medien online erschienen und Marine Le Pen deutlich
besiegt aussehen ließen.)
Auf der für Petitionen reservierten Webseite
Chance.org bot jemand eine Idee an, die innerhalb
von wenigen Tagen dort 60.000 Unterschriften
erntete: Man solle wählen gehen, doch „erst
nach 17 Uhr“. Denn dann bliebe die
Wahlbeteiligung erst relativ gering, um dann dank
der Letzte-Minute-Wähler/innen doch noch
anzusteigen. Dies sei - erklärte er - ein Mittel
neben anderen, um zu belegen, dass man keineswegs
für Macron stimme. Sondern ausschließlich
gegen Le Pen.
Editorischer Hinweis
Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese
Ausgabe. Erstveröffentlicht bei der Tageszeitung
Neues Deutschland (ND) am Montag, den 08.05.17.
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