Stadtumbau & Stadtteilkämpfe
Die Stadt von unten aufbauen und verteidigen
Über den momentanen Sinn und Zweck von Hausbesetzungen

von
Komitee für eine revolutionäre Perspektive

5-6/2017

trend
onlinezeitung

Wir wollen die Hausbesetzungen in Münster am Köhlweg zum Anlass nehmen, um zu analysieren, was durch die aktuelle Form der Hausbesetzungen in Münster erreicht wird, aber vor allem auch, was nicht erreicht wird. Hintergrund unserer Überlegungen sind die sechs Besetzungen die in der Stadt zwischen Oktober 2015 (Zollamt) und April 2017 (Köhlweg 17 & 19) stattfanden.

In den bisherigen Aufrufen wurden immer wieder die Ziele formuliert, durch die Besetzung eines Hauses einen Raum zu schaffen, der Ausgangspunkt werden soll für eine (Selbst-) Organisierung der Nachbar*innenschaft und somit den Aufbau von basisdemokratischen Strukturen von unten. Gleichzeitig soll ein Raum geschaffen werden, der frei ist von kapitalistischer Profitlogik, bürokratischen Strukturen und der einen Schutzraum für Menschen bietet, die von gesellschaftlicher Diskriminierung betroffen sind. Nicht zuletzt sollen die Besetzungen auch auf symbolischer Ebene auf den Leerstand und die gleichzeitige Aufwertung und Verdrängung in der Stadt aufmerksam machen.

Wir teilen weitestgehend die in den Aufrufen formulierte Analyse der jetzigen Stadtplanung:

"Menschen werden verdrängt, (Lebens-)Räume genommen. Dieses Problem ist nicht auf Münster beschränkt, sondern ist ein Prozess, der in vielen Städten Deutschlands und weltweit stattfindet. (Ungenutzte) Immobilien gelten als Investitions- und Spekulationsobjekte. Die Art von Stadtplanung orientiert sich an Profitmaximierung und den Interessen weniger handlungsbefähigter (sowie einer privilegierten Mehrheit) unter Ausschluss vieler Betroffener. Für Menschen, die finanziell oder institutionell benachteiligt sind, bleibt dort oft kein Platz und sie werden an den Stadtrand verdrängt. Städtische soziale Strukturen sind starr und bürokratisch und lassen sich kaum mitbestimmen. Im Gegensatz dazu kann die Organisation von unten, z.B. im eigenen Stadtviertel, dynamisch, kreativ und selbstbestimmt sein. Im Konsens können Nachbar_innen über das entscheiden, was sie selbst betrifft und eigene Lebensräume gestalten."
(Aus dem Aufruf der Besetzung im Köhlweg)

Uns ist jedoch nicht klar von welcher „priviligierten Mehrheit“ hier gesprochen wird. Vielmehr sehen wir in der profitorientierten Stadtplanung ein anschauliches Beispiel wie die große Mehrheit der Menschen betroffen ist vom Kapitalismus. Wir alle sind auf Lohn angewiesen; um unsere Miete zu bezahlen, die Mieten steigen in immer mehr Vierteln… Diese Verdrängungsmechanismen wirken unmittelbar oder mittelbar auf uns alle, wenn auch auf verschiedene Art und Weise: Habe ich eine Arbeit oder nicht? Bin ich von strukturellen Rassismus betroffen und einen deutschen Pass? Gelte ich als gesund? Habe ich „gute“ Beziehugen?… So sehen wir eher eine Minderheit von dieser Stadtplanung profitieren.

Mit dem Verweis auf eine Organisierung von unten gehen die Besetzer*innen über die reine Ebene der Kritik hinaus. Es werden Strukturen gesellschaftlicher Organisierung angedeutet, die eine Alternative zu den kritisierten darstellen können. Hier sehen wir ein Potenzial, an dem wir mit unserer Kritik anknüpfen wollen.

Die Überlegung, der undemokratischen kapitalistischen Stadtplanung, eine basisdemokratische Entscheidungsstruktur der Menschen von unten entgegenzusetzen, halten wir für richtig. Auch wir sehen im Stadtteil einen geeigneten Ort der Basisorganisierung. Der Weg zu einer Gesellschaft, die sich auf gemeinsamen Werten demokratisch selbst verwaltet, kann nur an der Basis der Gesellschaft beginnen. Die Nachbarschaft ist nicht nur Wohnort, sondern ein Ort, der die Möglichkeit bietet sich zu Begegnen und miteinander in Beziehung zu gehen. Hier lassen sich auch Menschen erreichen, die zum Beispiel an Selbstorganisierungsprozessen am Arbeitsplatz nicht beteiligt sein können, weil sie keiner Lohnarbeit nach gehen (können). Die Nachbarschaft kann somit einen Ausgangspunkt für soziale Kämpfe darstellen, die über unmittelbare Kämpfe um Wohnraum hinausgehen. Solidarische Strukturen können hier geschaffen und gestärkt werden. Durch diese können wir den vielen scheinbar individuellen Problemen in einem gemeinsamen Kampf entgegentreten. So überwinden wir unser Gefühl der Isoliertheit und können uns kollektiv fragen, wie wir leben wollen, was wir dafür brauchen und wo wir anfangen.

Jedoch glauben wir nicht, dass die Art und Weise wie Hausbesetzungen aktuell stattfinden einen geeigneten ersten Schritt bei dem Aufbau solidarische Strukturen von unten darstellen. An erster Stelle müssen wir, die revolutionäre Linke, uns gemeinsam mit Fragen von Basisorganisierung und dem Aufbau von nachhaltigen Strukturen von unten auseinandersetzen.

Was bedeutet Basisorganisierung und wer organisiert sich wo mit wem? Wie können Strukturen geschaffen werden, die Selbstorganisierung für Viele ermöglichen? Wie können wir aus dem Wissen der Menschen in dieser Stadt lernen und einen kollektiven Prozess der Selbstermächtigung anstoßen? Welche Rolle spielen bestehende (zivilgesellschaftliche) Akteure? Was können wir aus aktuellen und vergangenen Kämpfen der Basisorganisierung lernen? Wie können wir an den konkreten Problemen der Bevölkerung ansetzen und widerständische Alltagspraxen entwickeln, die sich nicht in Sozialarbeit verlieren? Wie können wir verhindern neoliberal und/oder staatlich vereinnahmt zu werden? Wie stellen wir sicher, dass wir das Ziel eines gesamtgesellschaftlichen Wandels im Auge behalten? Was macht Selbstorganisierungsprozesse revolutionär?

Prozesse der Aneignung und Verteidigung von selbstverwalteten Räumen und Orten sollten in strategischer Verbindung mit diesen Fragen stattfinden. Der Fokus sollte damit immer auf dem Aufbau von gesellschaftlicher Organisierung liegen, in dem die Besetzung eines Raumes durchaus ein Mittel, aber nicht das endgültige Ziel darstellen kann. Das Ziel ist gesellschaftlicher Wandel, hin zu einem guten Leben für alle.

Was durch die bisherigen Besetzungen klar erreicht wurde, ist, das Problem kapitalistischer Stadtplanung stärker in die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu rücken. Gebäude stehen leer und verfallen, während Menschen sich die Wohnungen in Münster nicht mehr leisten können und verdrängt werden. Durch die Besetzungen konnten – für eine kurze Zeit – Räume geschaffen werden, in denen sich alternative Formen der Organisierung zumindest andeuteten. In den besetzten Häusern werden Formen einer horizontalen Entscheidungsfindung (bspw. durch Konsensfindung) erprobt. Zudem gibt es Raum für Menschen, sich kreativ auszuprobieren und diesen nach gemeinsamen Vorstellungen selbst zu gestalten.


Die Prozesse der alternativen Organisierung waren bei den letzten Besetzungen jedoch nur für einen kleinen Kreis an Leuten erfahrbar und mitgestaltbar. Auch wenn der Anspruch der Besetzer*innen durchaus ist, zugänglich und anschlussfähig zu sein und stets eine offene Einladung an die Nachbar*innen ausgesprochen wurde (und auch welche vorbei gekommen sind, müssen wir uns die Frage stellen, warum aus diesen Besetzungen keine langfristigen und nachhaltigen selbstorganisierten Strukturen entstehen (konnten). Die Ansätze von Selbstorganisation erscheinen nur projekthaft und wurden nicht verstetigt.

Dies bedeutet nicht umbedingt, dass die Räume unbedingt ohne Wirkung blieben, denn sie können Ort sein, an denen sich Menschen politisieren und ein Problembewusstsein entwickeln, sowie Handlungsmöglichkeiten sehen. Meistens handelt es sich dabei aber wohl um Menschen, die der Initiativgruppe der Besetzung am ähnlichsten sind: jung und flexibel. Bisher endeten die Erfahrungen der Menschen im Viertel mit der Räumung des Hauses, wodurch der Raum sowie die Besetzer*innen  verschwanden. Über den Zeitraum der Besetzung hinaus gab es keine nachhaltige Arbeit in der Nachbar*innenschaft. Stattdessen besteht die Gefahr, dass das Versprechen, mit der Besetzung eines Hauses einen Raum für die Selbstorganisierung der Nachbar*innenschaft zu öffnen, immer mehr zur Farce verkommt. Folgebesetzungen fanden in gänzlich anderen Vierteln statt, und Prozesse, die in dem vorherigen Viertel begonnen haben, endeten damit. Durch die fehlende gesellschaftliche Basis verbleibt die Funktion der Besetzungen somit bei der eines Störfaktors für die nahtlose Umsetzung einer kapitalistischen Stadtplanung, der aber auch keine ernsthafte Gefahr für diese darstellt.

Mit der oben formulierten Perspektive einer Organisierung von unten braucht es also mehr als einen autonomen selbstorganisierten „Freiraum“, der von einer Gruppe linker Leute besetzt wird. In der kurzen Zeit der Besetzungen können oft keine nachhaltigen Beziehungen zu der Nachbar*innenschaft geknüpft werden. Nachbar*innen müssen vielmehr von Anfang an in die Organisation eines solchen Raumes eingebunden werden bzw. sollte die Besetzung aus einem gemeinsamen Prozess entstehen. Wird aus einem solchen gemeinsamen Prozess heraus dann ein Haus besetzt, um sich Raum anzueignen, besteht von vornherein ein gemeinsames Bewusstsein über den Hintergrund und den Zweck einer solchen Besetzung. Dies ist wichtig, damit Besetzungen nicht nur als eine nette Aktion von einer Gruppe linker Leute erscheinen, die im besten Fall unterstützt wird, sondern als ein Kampf gegen das System, der aus einer gemeinsamen Erkenntnis über eine notwendige Veränderung resultiert. Diese nachhaltigen Beziehungen stellen auch eine Form der (Selbst-)Verteidigung dar, wenn der Raum bedroht ist. Anwohner*in XY ist somit nicht nur Unterstützer*in eines solchen Raumes, sondern Teil dessen und wird ihn im Zweifel auch verteidigen.

Was also bedeutet das für unsere Praxis der Gesellschaftsveränderung?

Wir glauben, dass es um mehr gehen muss als um die Schaffung autonomer Räume. Räume sind als Infrastruktur ein wichtiger Teil im Kampf für eine bessere Gesellschaft. Jedoch bildet das Besetzen von Häusern - mit dem Zweck Freiräume zu schaffen - unserer Ansicht nach keine Strategie, mit der sich der gesellschaftliche Wandel vollziehen lässt, den wir anstreben. Es muss eine gesellschaftliche Bewegung von unten geschaffen werden und Strukturen aufgebaut werden, die im Alltag der Menschen ansetzen und perspektivisch in der Lage sind, die Organisation der gesamten Gesellschaft zu gewährleisten. Dafür müssen wir als radikale Linke aktiv daran arbeiten, uns aus der Marginalisierung herauszubewegen und unsere aktuellen Praxisformen in Bezug auf unsere Ziele überdenken.

Lasst uns die vorangegangenen Besetzungen zum Anlass nehmen und die hier aufgeworfenen Fragen gemeinsam diskutieren!


Komitee für eine revolutionäre Perspektive
Mai 2017

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Quelle: linksunten.indymedia.org / 29.05.2017