Algerien
Zur aktuellen innenpolitischen Lage in dem nordafrikanischen Land

von Bernard Schmid

5-6/2017

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An relativ ungewöhnlichen Aufforderungen mangelte es nicht im Vorfeld der diesjährigen Parlamentswahlen in Algerien, die am Donnerstag, den 04. Mai 17 stattfanden. Dabei war weniger das Ergebnis von Interesse, was die Sitzverteilung zwischen den staatstragenden Parteien betrifft - sondern die Umstände, unter die sie abliefen und die einen Ausdruck der tiefen Krise des politischen Systems in dem nordafrikanischen Land darstellen.

Eine Aufforderung zum Thema gab etwa der amtierende Premierminister Abdelmalek Sellal ab: Er lud am 30. April d.J. in Sétif das weibliche Publikum dazu ein, die Ehefrauen mögen ihre Männer verprügeln, falls diese nicht wählen gehen wollten. Hinter dem Scherzspruch steckte zweifellos auch die reale Befürchtung, die Neigung unter den insgesamt 23 Millionen Stimmberechtigten, sich an dem Wahlgang zu beteiligen, könne ausgesprochen gering ausfallen.

Und so kam es denn auch. Selbst die Behörden trauten sich nicht, in ihren Zahlen über die offiziell angegebenen 38,25 Prozent Beteiligung hinauszugehen – und auch diese Zahl könnte noch geschönt sein. Videos bei der französischsprachigen algerischen Tageszeitung Le Matin zeigen etwa Szenen, die belegen, wie der diesjährige Wahlbetrug konkret ablief. Dabei ging es überhaupt nicht darum, die Verteilung der Mandate zu beeinflussen, die ohnehin die meisten Beobachter höchstens am Rande interessierte, sondern die Wahlteilnahme künstlich in die Höhe zu treiben. So sieht man Bilder, die zeigen, wie im Wahllokal vor der Auszählung alle Lichter ausgehen – das dürfte der Moment sein, in dem Kuverts voll mit Stimmzetteln in die Wahlurnen ausgeschüttet werden -, oder wie junge Leute inmitten der anwesenden Wähler eine Urne umringen, um diese dann mehr oder weniger ungesehen vollzustopfen.

Über zwei Millionen Menschen, das entspricht über einem Viertel der offiziell verzeichneten Wahlteilnehmerinnen und –teilnehmer, stimmten darüber hinaus ungültig. Dies ist zunächst einmal auf das weitgehende Desinteresse der wahlberechtigten Bevölkerung zurückzuführen, die sich ohnehin keine positive Veränderung erwartet, aber auf die Weise ihren Unmut demonstrierten wollte. Dazu hatten daneben auch mehrere Oppositionskräfte aufgerufen wie etwa die Partei Dschil Dschadid (Neue Generation) unter Soufiane Djilali oder auch die „Avantgarde der Freiheitsrechte“ (Talaye el-Houriyat) unter Ali Benflis.

Letztere hatte dereinst vor fünfzehn Jahren als Premierminister des damaligen und jetzigen Staatspräsidenten Abdelaziz Bouteflika (Boutefliqa) amtiert, war dann jedoch im April 2004 bei der inzwischen vor-vorletzten Präsidentschaftswahl gegen ihn angetreten und dabei mit offiziell nur sechs Prozent der Stimmen abgespeist worden. Zwischen Benflis und Bouteflika hatten damals, anders zwischen den meisten heute mitregierenden Personen und Parteien echte Differenzen bestanden: Es ging um die Wirtschaftspolitik und das Ausmaß der Privatisierungen. Zu Anfang des Jahrhunderts schien Bouteflika sich zunächst in einen Ausverkauf der wenigen Rohstoffreichtümer des Landes an das westliche oder eher nördliche Ausland zu stürzen und dabei auch vor den 1971 verstaatlichen Erdölquellen nicht mehr halt zu machen, was auch Teile der - aus Staatsbürokratie, Militär und einer vom Staatssektor abhängigen mafiösen Privatbourgeoisie bestehenden - Eliten aufschreckte. Späterhin ist dieser Streit zunächst dadurch stillgelegt worden, dass die aufgrund der ab 2007/08 angestiegenen Rohölpreise hinein der Staatsmacht solche Privatisierungsentscheidungen ersparten.

Seit 2014 gingen die Rohölpreise zwar wieder deutlich zurück. Doch bisher bricht der Orientierungsstreit innerhalb der Eliten nicht erneut auf, da die Auseinandersetzungen in deren Reihen vorläufig stillgelegt sind: Alle warten darauf, wann und wie schnell der seit 1999 amtierende Präsident Boutefliqa (Bouteflika) endlich das Zeitliche segnet, nachdem er schon bei seiner letzten Wiederwahl im April 2014 stark von Krankheit und körperlichem Abbau gezeichnet war. Am 20. Februar dieses Jahres wurde etwa ein vorgesehener Staatsbesuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel bei Abdelaziz Bouteflika abgesagt, am 12. März 17 jener des iranischen Staatspräsidenten Hassan Rohani: Dessen algerischer Amtskollege war zu geschwächt und zu krank, um zu empfangen. Die Amtsgeschäfte werden unterdessen zum Teil vom Präsidentenbruder Said Bouteflika erledigt. Doch dessen Tag in der Nähe der Staatsspitze sind gezählt, denn sobald sein Bruder amtsunfähig oder tot sein wird, dürfte er schnell in der Versenkung verschwinden.

Eine unerwartet Aufforderung erging jedoch laut einem Bericht der Webseite Tout sur l’Algérie (TSA) auch an die Militärs, deren verschiedene Korps – jedenfalls deren Spitzen – zum inneren Kreis der Macht im Lande gehören: Die Armeeangehörigen waren demnach dazu angehalten, ungültig zu wählen, um nicht zwischen den verschiedenen um Machtbeteiligung ringenden Seilschaften entscheiden zu müssen, sondern sich lieber auf die Zeit nach der jetzigen Stagnationsphase vorzubereiten. Auch dies dürfte die hohe Zahl von ungültigen Stimmen begünstigt haben.

Was die Sitzverteilung betrifft, so ging die Partei „Nationale Befreiungsfront“ (FLN) – die frühere Einheitspartei zwischen 1962 und 1989 – von zuvor 215 auf 164 zurück. Allerdings gewann ihr „Klon“, die in den späten neunziger Jahren abgespaltene Partei „Nationale demokratisch Sammlung“ (RND), von zuvor 70 auf 97 Sitze hinzu.

Die legal agierenden Islamistenparteien kamen auf 33 Sitze für die Partei MSP/Hamas, die aus den Muslimbrüdern hervorging und mit der „Front für Veränderung“ (TV) verbündet ist, zuzüglich 15 Sitze für das Bündnis En-Nahdha sowie 19 Mandate für die „Sammlung Hoffnung für Algerien“ (TAJ). Vor allem aus ihrer Ecke kamen anfänglich Wahlbetrugsvorwürfe, die angeblich die legalen Islamisten um ihren Wahlsieg betrogen hätten. Deren Ausstrahlungskraft, nach früherer Regierungsteilnahme besonders der Partei MSP/Hamas, ist jedoch ziemlich gering. Die algerische Tageszeitung El Watan berichtete jedoch am Freitag, den 12. Mai 17, die Partei MSP/Hamas unter Abderrazak Makri werde mutmaßlich als Juniorpartner in die nächste Regierung von Abdelmalek Sellal aufgenommen. Darüber werde hinter den Kulissen seit Monaten verhandelt.

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.