Die Enttäuschung
ist herb, das Erwachen ein böses: Nach den
immensen Erwartungen, die im Vorfeld der
Präsidentschaftswahl beim französischen
rechtsextremen Front National (FN) geweckt
wurden, findet dieser sich nun auf dem Boden
ziemlich harter Tatsachen wieder. Dorthin holten
ihn spätestens die Ergebnisse der ersten Runde
der Parlamentswahlen am Sonntag, den 11. Juni
zurück. Nach den 10,6 Millionen Stimmen, die im
Durchgang der Präsidentschaftswahl Anfang Mai
d.J. für die Chefin und Kandidatin der Partei,
Marine Le Pen, abgegeben wurden, holte dieselbe
nun nur noch 2,964 Millionen Stimmen.
Das sind nicht nur
wesentlich weniger Wählerinnen und Wähler als bei
der Präsidentschaftswahl. Dies wäre noch normal,
denn im Vergleich zur Wahl des Staatsoberhaupts –
vor allem unter den Bedingungen der „Wahlmonarchie“
der Fünften Republik – mobilisiert jene zur
Nationalversammlung gewöhnlich weniger. Dass es
jedoch so viel weniger Stimmen wurden, ist dann
doch bemerkenswert. Der Front National erhielt bei
den diesjährigen Parlamentswahlen auch 538.000
Stimmen weniger als bei den letzten vergleichbaren
Wahlen, also jenen zur Nationalversammlung vom Juni
2012, die auch damals wenige Wochen nach einer
Präsidentschaftswahl stattfanden. Der prozentuale
Anteil am gesamten Stimmenaufkommen beträgt in
diesem Jahr 13,2 Prozent. Vor fünf Jahren betrug er
noch 13,6 Prozent.
Dabei bezahlte der FN vor allem einen hohen Preis
an die Stimmenthaltung, die bei der diesjährigen
Parlamentswahl in seiner - potenziellen –
Anhängerschaft ganz besonders hoch ausfiel. 57
Prozent der Wählerinnen und Wähler von Marine Le
Pen bei der ersten Runde der Präsidentschaftwahl
gingen lt. Ipsos-Institut nun, acht Wochen später,
gar nicht erst zur Wahl. Zwar liegt die
Stimmenthaltung an diesem 11. Juni insgesamt sehr
hoch, im landesweiten Durchschnitt beträgt sie 51,3
Prozent. Doch die rechtsextreme Partei ist davon
überdurchschnittlich stark betroffen. Bei der
Partei von Staatspräsident Emmanuel Macron, La
République en marche (LRM), sowie der
voraussichtlich stärksten Oppositionskraft – der
konservativen Partei Les Républicains (LR) – liegt
die Enthaltung jeweils bei 38 Prozent. Gemessen an
der jeweiligen Wählerschaft dieser Parteien bei der
ersten Runde der Präsidentschaftswahl vom 23. April
dieses Jahres.
Worin liegen die Ursachen? Zuvörderst in der
Enttäuschung über das Abschneiden von Marine Le Pen
in der entscheidenden Stichwahl um die
Präsidentschaft, das letztendlich erheblich tiefer
ausfiel als erwartet. Bei 33,9 Prozent landete sie,
Umfragen hatten sie nach der ersten Runde
vorübergehend bei bis zu 41 Prozent platziert. In
den Gesprächen mit potenziellen Wählerinnen und
Wählern –räumt der FN-Kandidat in Calais, Philippe
Olivier, ein Schwager von Marine Le Pen, in der
Öffentlichkeit ein – werde auch immer wieder die
Fernsehdebatte zwischen Marine Le Pen und Emmanuel
Macron vom 03. Mai, also vier Tage vor der
Stichwahl, zitiert. Dabei machte Marine Le Pen vor
allem aufgrund erkennbarer Inkompetenz in Fragen,
die rund um die Wirtschaft kreisen, eine sehr
schlechte Figur.
Marine Le Pen soll sich nach der
Präsidentschaftswahl in einer Depression befunden
und das Haus eine Woche lang kaum bis gar nicht
verlassen haben, wie die Wochenzeitung Le
Canard enchaîné Ende Mai d.J. berichtete.
Auch einige Führungsmitglieder ihrer Partei litten
unter erkennbarem Motivationsverlust. Ihr
Vizevorsitzender Florian Philippot trat im
ostfranzösischen Forbach (Lothringen) als Kandidat
auf, wo er mit 23,79 Prozent der Stimmen immerhin
als stärkster Bewerber in der ersten Runde
abschnitt – jedoch nunmehr wohl keine Chance hat,
die Stichwahl am kommenden Sonntag erfolgreich zu
überstehen. Im Unterschied zu früheren Wahlgängen
wie etwa auch den Kommunalwahlen von 2014, bei
denen die durch Philippot geführte Rathausliste in
Forbach rund 46 Prozent erhielt, betrieb Philippot
jedoch offensichtlich fast keinen aktiven Wahlkampf
vor Ort. Die Pariser Abendzeitung Le Monde
kolportierte etwa, Philippot begnüge sich
weitgehend mit Fahrten im TGV zwischen Paris und
Forbach („eine Stunde und 46 Minuten“) und halte
sich am Ort vorwiegend im Bistro gegenüber vom
Bahnhof auf. Auf Journalistenfragen zu seinem
Wahlprogramm verweise er lediglich auf das
Flugblatt („Steht alles drin“), und eine Agenda
seiner Auftritte habe er im Gegensatz zu anderen
Kandidaten nicht veröffentlicht. Offensichtlich
glaubte Philippot in dieser Situation nicht mehr so
richtig an einen Erfolg.
Die von ihm
verkörperte Linie, die an prominenter Stelle den
Austritt aus der europäischen Währung Euro
beinhaltet – die offensichtlich zu den bei
potenziellen Wählern am wenigsten populären
Forderungen der Partei zählt -, geriet
innerparteilich bereits seit der vergeigten
Präsidentschaftswahl unter schweren Beschuss.
Mehrere prominente Führungsmitglieder forderten
bereits seit Anfang Mai eine Abkehr von dieser
Linie. Zu ihnen zählen der Bürgermeister von
Béziers, Robert Ménard; er ist formal parteilos und
vertritt eine relativ harte Linie in „Identitäts“-
und Migrationsfragen, will aber auch eine
Annäherung an den rechten Rand der Konservativen.
Am
Dienstag nach der Parlamentswahl, dem 13. Juni,
erneuerte er seine Angriffe auf die Forderung nach
Euro-Austritt sowie auf „realitätsfremde
wirtschaftspolitische Vorstellungen“ in
Teilen der bisherigen Parteiführung, vor allem bei
der Philippot-Fraktion. Auch FN-Generalsekretär
Nicolas Bay distanzierte sich am 12. Juni teilweise
von Philippot. Insbesondere kritisierte er die
Tatsache, dass dieser kurz nach den
Präsidentschaftswahlen einen eigenen Verein
eintragen ließ, der neben der Partei
existiert. Er trägt den Namen
Les Patriotes. Es ist bekannt, dass Philippot eine
Umbennung der Partei unter diesem Titel anstrebt.
Dafür hatte er bereits 2014/15 Vorstöße
unternommen, damals ließ
er den möglichen Organisationsnamen beim Patentamt
für sich eintragen.
Aller Voraussicht
nach dürfte der FN in der künftigen französischen
Nationalversammlung keine Fraktion bilden können,
wofür fünfzehn Abgeordnete erforderlich sind,
sondern nur zwischen einem und fünf Sitze
innehaben. Wahrscheinlich wird Marine Le Pen
künftig erstmals ein Abgeordnetenmandat erringen;
in ihrem Wahlkreis im nordostfranzösischen
Hénin-Beaumont – dort regiert der FN seit 2014 im
Rathaus – holte sie in der ersten Runde über 46
Prozent. Aber die sonstigen Wahlchancen der Partei
sind dünn gesät.
Hauptverantwortlich
dafür ist auch das Wahlrecht, kombiniert mit der
sehr hohen Stimmenthaltung. Das französische
Mehrheitswahlrecht sieht vor, dass jene
BewerberInnen aus der ersten Runde in die
Stichwahlen einziehen können, die durch mindestens
12,5 Prozent der Wahlberechtigten gewählt wurden –
nicht der realen WahlteilnehmerInnen, sondern der
Stimmberechtigten. Auf diese Weise wurde die
Relevanzschwelle festgelegt. Je höher jedoch die
Enthaltung ausfällt, desto höher liegt die Hürde,
in Prozentanteilen der abgegebenen Stimmen
gemessen. Gingen bspw. fünfzig Prozent im Wahlkreis
nicht zur Wahl, dann liegt die Barriere bei 25
Prozent der abgegebenen Stimmen.
Aus diesem Grunde gibt es in diesem Jahr fast keine
triangulaires, also
Dreiecks-Konstellationen (Linke, Konservative und
FN), in denen eine einfache Mehrheit für den Sieg
in der Stichwahl genügt. Dazu kam es am 11. Juni in
nur einem einzigen Wahlkreis. Insgesamt ist der FN
zwar noch in 110 von 577 Wahlkreisen bei der
Stichwahl dabei, aber fast immer steht ihm nur je
ein/e Gegenkandidat/in gegenüber. Deswegen ist zum
Wahlsieg dort dann eine absolute Mehrheit
erforderlich. Eine solche dürfte der FN jedoch fast
nirgendwo schaffen.
Stand: 14.6.2017
Editorische Hinweise:
Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese
Ausgabe.
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