Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Vor der französischen Parlamentswahl

Jean-Luc Mélenchon und die Linkssozialdemokratie

5-6/2017

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François Hollande ist so ein Typ, der bestimmt als Junge den Fliegen ihre Flügel ausgerissen hat und dann in aller Gemütsruhe zuschaute,  wie sie sich abzappeln.“ Diese Aussage, die die grundlegende Bösartigkeit des früheren Staatspräsidenten – und wie Viele meinen – Totengräbers der in den vergangenen fünf Jahren regierenden Sozialistischen Partei unter Beweis stellen soll, stammt von dem diesjährigen Präsidentschafts- und nunmehr Parlamentskandidaten Jean-Luc Mélenchon. Es ist bekannt, dass der Linkssozialdemokrat und Linksnationalist eine gewisse Neigung dazu hat, seine politische Aussagen mit einem mitunter cholerisch ausfallenden Temperament zu unterstreichen (...das durch seine derzeitige Ermüdung infolge eines mehrmonatigen Wahlkampfs mitunter noch stärker zu Wutanfällen neigt). Aber auch, dass er ein ausgeprägtes Talent für metaphorische Formulierungen hat.

In dieser Woche attackierte der 65jährige nun die politische Bilanz seines ehemaligen Parteifreunds – bis 2008, als Mélenchon sich mit seiner Linkspartei (Parti de Gauche) von der Sozialdemokratie abspaltete -, Hollande. In seinen Worten ist Letzterer „ein armer Typ, der noch nie im Leben etwas auf die Reihe bekommen hat.“

Nicht nur Mélenchons Kommentar zur Regierungsbilanz François Hollandes, die auch sonst kaum jemand im Land als gelungen betrachtet, bescherte ihm in den vergangenen zehn Tagen in Frankreich einige Aufmerksamkeit. Auch die Attacke, die er vor anderthalb Wochen gegen den früheren Innen- sowie kurzzeitigen Premierminister Hollandes ritt, ließ Medien und Öffentlichkeit aufhorchen. Der Kandidat, der am 23. April dieses Jahres mit 19,6 Prozent der Stimmen ein stolzes Ergebnis einfuhr, bezeichnete Bernard Cazeneuve „und seine Bande“ rundheraus als Mordkomplizen: „Er hat sich persönlich um den Mord an Rémi Fraisse gekümmert.“

Fraisse war ein 21jähriger Umweltaktivist. Er wurde in der Nacht zum 26. Oktober 2014 bei einem Polizeieinsatz gegen eine Demonstration, die sich gegen ein umweltzerstörerisches Großprojekt in Sivens (Südwestfrankreich) richtete, getötet: Eine durch einen Gendarmeriebeamten abgeschossene Granate mit Metallfüllung riss ihm die obere Hälfte des Rückens ab. Juristisch hat Mélenchon dennoch einen schweren Stand, denn der Gendarm, der für den Granatenabschuss verantwortlich zeichnete, wurde kürzlich durch die Justiz freigesprochen, weil keine individuelle Tötungs- oder Verletzungsabsicht vorgelegen habe. Die politische Bewertung steht natürlich auf einem anderen Blatt. Cazeneuve erstattete an diesem Dienstag Strafanzeige. Mélenchon erklärte, er freue sich darüber, da nur dies eine gerichtliche Debatte über den Tod des jungen Demonstranten nachträglich erlaube. Eine Entschuldigung gegenüber dem früheren Regierungsmitglied Cazeneuve hatte er zuvor abgelehnt. Die Grünenpolitikerin Cécile Duflot sprach ihrerseits von einem Angriff auf die Würde des Toten Rémi Fraisse, da dieser nun zu Wahlkampfzwecken instrumentalisiert werde.

Jean-Luc Mélenchon fehlt es also nicht an öffentlicher Aufmerksamkeit. Auch nicht in seinem Wahlkreis im Zentrum von Marseille, den er sich auserkoren hat, um an den kommenden beiden Sonntagen zur französischen Nationalversammlung zu kandidieren. Dort kann er Umfragen zufolge mit rund vierzig Prozent der Stimmen in der ersten Runden und realen Chancen, gewählt zu werden, rechnen.

Gleichzeitig ist Mélenchon allerdings einer der wenigen BewerberInnen seiner Bewegung La France insoumise (LFI, „Das nicht unterworfene Frankreich“), die auf hohe Wahlchancen bauen können. Landesweit sieht es, unter den Bedingungen des geltenden Mehrheitswahlrechts, da sehr viel kritischer aus. Zumal die Stimmabsichten für die LFI-Kandidaturen in den vergangenen Wochen in den Umfragen ehr zurückgingen, von 15 bis 16 Prozent kurz nach der Präsidentschaftswahl auf nun noch zwischen 11,5 und 13 Prozent. Dazu trägt bei, dass viele der lokalen Bewerber/innen nicht derart bekannt sind wie Mélenchon, dessen Anhänger/innen bislang im Parlament über keinen einzigen Sitz verfügten. Dort existierte zwar in der Legislaturperiode 2012 bis 17 eine Linksfraktion, doch diese bestand aus Abgeordneten der französischen KP im Bündnis mit den Mandatsträger/inne/n von lokalen Kräften aus den „Überseegebieten“. Mélenchon stand allein der Abgeordnete Marc Dolez nahe, der sich nach wenigen Monaten zurückzog.

Ein Hemmschuh liegt darin, dass ein Wahlbündnis zwischen LFI und der französischen KP – wie vor den Präsidentschaftswahlen – dieses Mal nicht zustande kam. Beide Seiten blieben sich uneinig über die Verteilung der künftigen Parteienfinanzierung, die nach den Parlamentswahlergebnissen bemessen wird, aber auch zum genauen Profil eventueller gemeinsamer Kandidaturen: Mélenchon wünschte ein inhaltliches Abkommen auf nationaler Ebene, das etwa auch die Abgrenzung von der Rest-Sozialdemokratie beinhaltet hätte. Die KP wollte sich an der Stelle sehr viel mehr Manövrierspielraum bewahren und favorisierte eine Vereinbarung, die lediglich eine Aufteilung des Territoriums vorsehen sollte.

Zwar wiegt die französische KP selbst in den Umfragen frankreichweit derzeit nur zwei bis drei Prozent, doch weist sie örtlich stark verankerte Kandidat/inn/en auf, die als Bürgermeister oder bisherige Abgeordnete bekannt sind, was bei LFI nicht der Fall ist. Nur in 18 Wahlkreisen treten LFI und französische KP miteinander an, sonst gegeneinander. Es bleibt für die Linke zu hoffen, dass dies nicht vielerorts entscheidende Stimmen für den Einzug in die Stichwahlen kostet. Dazu muss ein/e Kandidat/in von mindestens 12,5 Prozent der Wahlberechtigten – nicht der realen Teilnehmer/innen – gewählt worden sein; danach beginnen dann die Diskussionen unter verschiedenen Parteien um ein eventuelle Rücksichtnahme auf besser platzierte Bewerber/innen in der Stichwahl. Allerdings dürften entsprechende Diskussionen mit der Sozialdemokratie, die nur noch landesweit sechs bis acht Prozent der Stimmabsichten aufweist, in diesem Jahr größtenteils ausfallen.

Stand: 9.6.2017

Editorische Hinweise:

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe. Eine aus Platzgründen deutlich gekürzte Fassung erschien in der Tageszeitung ,Neues Deutschland’ (ND) vom 10. Juni 2017