Das
erheblich größere Übel hat verloren: Die
neofaschistische Kandidatin Marine Le Pen erhielt in
der zweiten Runde der französischen
Präsidentschaftswahl 33,9 % der Stimmen. Dies war
weniger als erwartet und ist vor allem auf ihr
miserables Abschneiden bei der Fernsehdebatte mit
ihrem damaligen Gegenkandidaten und jetzigen
Präsidenten, dem liberalen Ex-Wirtschaftsminister
Emmanuel Macron, am 03. Mai 17 zurückzuführen. Dabei
bewies Le Pen vor allem in wirtschaftlichen Fragen
eine beinahe erstaunliche Inkompetenz, nachdem der
FN jahrelang auf „Professionalisierung“ und
„Intellektualisierung“ gesetzt hatte. Aufgrund ihrer
Ahnungslosigkeit in wirtschaftlichen Fragen
behandelte Emmanuel Macron seine Herausfordererin
streckenweise ähnlich, wie ein Lehrer eine
ungehörige Schülerin zurechtweisen würde. Le Pen
brachte dieses Lehrer-Schülerin-Verhältnis sogar an
einer Stelle selbst zur Sprache, um sich darüber zu
beklagen.
Dennoch schnitt Marine
Le Pen, die insgesamt knapp elf Millionen Stimmen –
ein neuer historischer Rekord für den FN – einfuhr,
in einigen Landstrichen und sozialen Gruppen
bedenklich hoch ab. 56 Prozent der
Produktionsbeschäftigten in der Industrie, sofern
sie überhaupt zur Wahl gingen (und überhaupt das
Stimmrecht innehatten), wählten Marine Le Pen. In 45
von 577 Wahlkreisen erhielt sie eine absolute
Stimmenmehrheit, und in zwei von knapp einhundert
französischen Départements oder Bezirken: Aisne und
Pas-de-Calais. Beide liegen im von der industriellen
Krise gebeutelten Nordosten Frankreich. In weiteren
66 Wahlkreisen lag Marine Le Pen über 45 Prozent.
Auf diese insgesamt 111 Stimmkreise von 577 will der
FN sich nun bei den im Juni d.J. bevorstehenden
Parlamentswahlen konzentrieren. Aufgrund des
Mehrheitswahlrechts dürfte der FN nur dort
realistische Chancen haben, einige Mandate zu
erlangen.
Doch spätestens, wenn
diese anstehenden Wahlen vorüber sind, wird der
ideologische Ausrichtungsstreit voll aufbrechen –
bis dahin wird der Flügelkampf noch zurückgestellt,
um den Erfolg nicht zu gefährden.
Zwei grundlegende
Orientierungen stehen sich dabei innerhalb der
Partei gegenüber. Die eine besteht darin, sich als
entschiedene Rechtspartei auf einer
Links-Rechts-Achse zu verordnen. Dies impliziert,
„die Sozialisten“ – wen immer man darunter versteht
- neben dem Islam und der Einwanderung als
Hauptgegner zu betrachten. Angriffspunkte dieser
Linie im rechten Lager sind folglich vor allem die
„Attacken der Linksregierung auf tradierte Werte“,
wie durch die Zulassung der Ehe für homosexuelle
Paare seit einem Gesetz vom 17. Mai 2013.
Die andere Linie
jedoch verwirft das Links-Rechts-Schema generell und
gibt an, als Repräsentantin einer fundamentalen
Alternative sei die eigene Partei „weder links noch
rechts, sondern national“. Eine Grundidee dahinter
lautet: Die wirkliche politische Frontlinie verlaufe
nicht mehr zwischen den traditionellen Ideologien
der so genannten Altparteien – die Gedankengebäude
von gestern seien -, sondern zwischen dem
Nationalismus, d.h. in ihrem Duktus „den
Verteidigern der eingewurzelten Identitäten“
einerseits und den „Globalisten“ andererseits. Im
Wahlkampf für die Endrunde gegen den „Banker und
Globalisten“ Emmanuel Macron fand diese Orientierung
ihr beinahe optimales Testfeld und Anwendungsgebiet.
Zu dieser Linie, die
an prominenter Stelle durch den FN-Vizevorsitzenden
Florian Philippot repräsentiert wird, zählt
insbesondere eine starke Betonung der sozialen
Demagogie, da es Stimmen aus der Linken anzuziehen
gelte, die von François Hollandes Bilanz enttäuscht
seien. Zur Durchsetzung der eigenen sozialen
Versprechungen wird wiederum der Austritt aus dem
Euro – zwecks „Erlangung finanz- und
wirtschaftspolitischer Souveränität“ – durch diese
Strömung als zentral betrachtet. Umgekehrt werden
„moralische“ und gesellschaftspolitische Fragen,
etwa die Ablehnung der Homosexuellenehe, auf diesem
Flügel allenfalls als peripher betrachtet.
Die
„Philippot-Linie“, die umso mehr mit dem Namen des
jungen Vizevorsitzenden verknüpft wird, als dieser
nach verlorener Wahl nun verstärkt unter Beschuss
gerät, rückt nun seit den Tagen nach der Stichwahl
in die Kritik. Die Vernachlässigung des reaktionären
„Kulturkampfs“ bei gleichzeitiger Betonung sozialer
Themen wird als schwerer Fehler dargestellt. Ein
anonym bleibender Regionalverordneter des FN
verweist in der Le Monde vom 10. Mai
17 darauf, nur sieben Prozent der zwischen den
beiden Durchgängen der Präsidentschaftswahl mit viel
sozialer Demagogie umworbenen Wählerschaft des
Linkskandidaten Jean-Luc Mélenchon, doch zwanzig
Prozent jener des Konservativen François Fillon in
der ersten Runde hätten in der Stichwahl Le Pen
gewählt. Der Energieaufwand gegenüber der
erstgenannten Gruppe sei demzufolge weitgehend
umsonst gewesen. (Dabei hatte ein Journalist der
italienischen Zeitung Corriere delle Sera
drei Tage vor der Stichwahl kolportiert, Marine
Le Pen habe ihm gegenüber den konservativen
Ex-Kandidaten Fillon wörtlich als „ein Stück
Scheiße“ bezeichnet – als Antwort auf die
Frage, wie dessen Wahlaufruf für Macron in der
Endrunde zu bewerten sei. Dies schockiert die
bürgerlich-konservative Wohlanständigkeit und dürfte
viele Stimmen von dieser Seite für Marine Le Pen
verhindert haben.)
Zudem verweisen die innerparteilichen kritischen
Stimmen darauf, der Euro-Austritt mache vielen
zwischen Konservativen und FN zögernden Individuen
nach wie vor Angst – Kleinunternehmen und
Pensionierte etwa fürchten bei einer
Währungsumstellung um ihre Ersparnisse -, und diese
Forderung müsse relativiert werden. Dasjenige Lager,
das eine stärkeren Annäherung an rechte Konservative
verficht, ist dabei tendenziell bereit dazu, die EU-
und Eurokritik hintanzustellen, und könnte auch mit
einer Bezugnahme auf ein „weißes und
christliches Abendland“ innerhalb des
EU-Rahmens mehr oder minder gut leben. Dies wird in
einer Stellungnahme des rechtsextremen
Bürgermeisters von Béziers – Robert Ménard – vom 09.
Mai erkennbar. Er verkündete, es gelte nicht immer
den Fehler in Brüssel zu suchen, wenn es in
Frankreich „an Autorität mangelt“ und
es „Einwanderungsprobleme“ gebe. Nicht
die EU sei an den – aus einer Sicht – gravierenden
Fehlentwicklungen schuld, vielmehr sei
„Frankreich ist groß genug, eigene Dummheiten zu
machen“.
Auch in anderen Reaktionen deutet sich an, dass
nunmehr bevorzugt die Euro-Austrittsforderung sowie
einige soziale Diskurselemente unter Beschuss kommen
könnten. Beispielsweise erklärte ein ungenannter
„FN-Mandatsträger aus Südfrankreich“, den
eine AFP-Meldung zitiert, er wolle nicht in der
Partei bleiben, „um soziale Forderungen wie
die nach einem Rentenalter mit 60 (Anm;: es
wurde im Jahr 2010 unter Nicolas Sarkozy
abgeschafft, der FN forderte zeitweilig eine
Rückkehr) (...) aufrecht zu erhalten oder die
Idee eines Euro-Austritts innerhalb von acht Tagen
zu verteidigen“. Es scheint also klar zu
werden, wohin die Stoßrichtung der Kritik zielte und
wohin sie den Front National treiben möchte.
Emmanuel Macron seinerseits wird sich auf seinem
Wahlergebnis nicht wirklich ausruhen können. Zwar
wurde er mit 66,1 Prozent der Stimmen klarer Sieger,
doch dies hat er vor allem der Tatsache zu
verdanken, dass er eben Marine Le Pen als Gegenüber
hatte. Nimmt man die Stimmberechtigten insgesamt,
dann wählten 43 Prozent von ihnen Macron, 25 Prozent
gar nicht, 23 Prozent Le Pen – und neun Prozent der
gesamten stimmberechtigten Bevölkerung stimmten
ungültig, auch dies ist eine Rekordzahl. (Allerdings
haben jene Teile der radikalen Linken, die diese
sehr relative Ausgangsbasis für Emmanuel Macron
bereits als Vorzeichen für flammende soziale
Proteste und eine gewaltige Instabilität der
kommenden Regierung halten, ihrerseits Unrecht. Mit
Ausnahme von Jacques Chirac im Mai 2002, der damals
Jean-Marie Le Pen als Gegenüber hatte, schaffte es
kein Staatspräsident seit 1965, über fünfzig Prozent
der Wahlberechtigten – nicht nur der
Wahlteilnehmenden – hinter sich zu scharen. Insofern
ist das jetzige Ergebnis kein gar so starker
Ausreißer, wie mancherorts der Anschein erweckt
wird.)
Innerhalb der Wählerschaft Emmanuel Macrons wiederum
geben jedoch mindestens 43 Prozent (anderen Umfragen
zufolge jedoch bis zu 60 Prozent) an, ihn
hauptsächlich aufgrund ihrer Ablehnung Marine Le
Pens gewählt zu haben. 33 Prozent nennen als
Wahlmotiv „die politische Erneuerung“,
also die Vorstellung, neue Gesichter in der Politik
und einen jungen Präsidenten – erstmals zieht ein
unter Vierzigjähriger in den Elyséepalast ein – zu
haben. Nur 16 Prozent nannten Macrons
„Programm“, das im Übrigen über weite
Strecken hin vage blieb und bleibt, da Macron von
Anfang an hauptsächlich einen Personenwahlkampf
führte; neben einigen Bekenntnissen zu „Europa“
(gemeint war die EU), aber durchaus auch zu
Multikulturalität und Toleranz, gekoppelt allerdings
mit einer effektiveren Kontrolle der
EU-Außengrenzen.
Bedenklicher noch für ihn ist, dass 61 Prozent nicht
wünschen, dass Macron über eine zu seinen Ideen
konforme Mehrheit in der Nationalversammlung
verfügt, die nun am 11. und 18. Juni d.J. neu
gewählt wird. Es dürfte also mit Koalitionen oder,
ebenfalls nicht unwahrscheinlich, mit wechselnden
Mehrheiten zu rechnen sein. Macron wird sich dabei
auf den rechten Flügel der nunmehr
auseinanderbrechenden Sozialdemokratie – ihr
Bewerber Benoît Hamon erhielt nur 6,3 Prozent der
Stimmen im ersten Durchgang – und/oder den
gemäßigten Flügel der Konservativen stützen.
Macron gibt dazu die Parole Et de droite, et
de gauche („Sowohl Links als auch Rechts“)
zur politischen Standortbeschreibung aus. Dies ist
sowohl als Abgrenzung zum Front National und dessen
Slogan Ni droite ni gauche, Français
(„Weder rechts noch links, französisch“) gemeint als
auch Bekenntnis zu einer Art „großen Koalition
der Vernünftigen rund um die Mitte“, die
„bei den bevorstehenden Reformen mit anpacken
möchten“.
Ein
erstes heißes Eisen wird die für Juli dieses Jahres
angekündigte „Reform des Arbeitsrecht“ sein, die auf
dem Verordnungsweg – also am Parlament vorbei –
durchgesetzt werden soll. Dazu existiert das
Instrument der ordonnances, bei denen
es sich um Verordnungen der Regierung mit
Gesetzeskraft handelt; allerdings ist ein dazu ein
vorab verabschiedetes, allgemein gehaltenes
Ermächtigungsgesetz (loi d’habilitation)
erforderlich. Als letzter Regierungschef hatte
Dominique de Villepin 2005 mit diesem Instrument
regiert, was ihm in den ersten Jahresmonaten 2006
eine breite und militante Protestbewegung gegen die
Angriffe auf den Kündigungsschutz eintrug. Die
Villepin-Regierung war damals zugleich die bisher
letzte, welcher durch soziale Proteste eine
Niederlage beigebracht wurde. Ob dies heute wieder
funktionieren könnte, muss allerdings vorläufig
offen bleiben.
Macron möchte auf diesem Wege einige Punkte, die
2016 im damals heftig umkämpften „Arbeitsgesetz“ (Loi
travail) enthalten waren und infolge des
Konflikts als zu radikal ausgeklammert wurden, doch
noch durchsetzen. Dazu gehört eine für die
Arbeitsgerichte verbindliche Obergrenze für
Abfindungszahlungen bei ungerechtfertigen
Kündigungen sowie die generelle Möglichkeit, durch
Vereinbarungen im Unternehmen „nach unten“ - aus
Beschäftigtensicht – vom Flächentarif oder gar dem
Gesetz abzuweichen. Darin dürfte jedoch auch 2017
noch Zündstoff stecken.
Stand: 10.05.17
Editorischer Hinweis
Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese
Ausgabe. Gekürzte Erstveröffentlichung bei analyse
& kritik (ak)
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