Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Nach dem ersten Durchgang der französischen Parlamentswahl

Die Deiche haben noch einmal gehalten

5-6/2017

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Die Deiche haben noch einmal gehalten und ein politisches System, das in weiten Kreisen als diskreditiert bezeichnet worden war, erfolgreich vor den Stürmen der Zeit abgeschirmt. Aber viele, sehr viele Menschen bleiben außerhalb der Deichmauern stehen und werden sich nicht angesprochen fühlen von dem, was innerhalb der von ihnen gebildeten Festung passieren wird. Jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, zu dem aus dem Inneren neue Anordnungen ergehen, die auch sie betreffen werden, weil sie in ihr Alltagsleben eingreifen. Dies könnte vielleicht in Bälde passieren.

Ungefähr so ließen sich die politischen Vorgänge im Frankreich der vergangenen Wochen kurz zusammenfassen. Das Präsidialsystem der 1958 begründeten Fünften Republik wurde noch bis vor kurzem als reichlich abgewirtschaftet betrachtet. Die sozialen Erwartungen der Wählerschaft traten nach jeder wichtigen Wahl über kurz oder lang in krassen Widerspruch zur Realität der, unzweifelhaft vom Kapital diktierten Regierungspolitik. Daraus erwuchsen gesellschaftliche Spannungen, mitunter Protestbewegungen und Streiks wie 1995, 2003, 2006, 2010 oder 2016. Die jeweiligen Staatsoberhäupter stellten in den vergangenen Jahrzehnten immer neue Unpopularitäts-Rekorde auf: Jacques Chirac erreichte vor allem in seinem letzten Amtsjahr 2006/07 Tiefstwerte, Nicolas Sarkozy stellte in seiner insgesamt nur fünfjährigen Amtszeit einen neuen Negativrekord auf, und sein Nachfolger François Hollande über- respektive untertraf ihn dann noch.

Das System der durch Charles de Gaulle 1958 gegründeten Wahlmonarchie schien definitiv an seine Grenzen zu stoßen: Einerseits vereinigt es so viel Macht wie in kaum einem anderen demokratisch verfassten Land bei einer Person. Auf der anderen Seite führen der starke Verlust an Regierungsfähigkeit des bürgerlichen Staats gegenüber den Klassen, die den Gang der Ökonomie bestimmen, aber auch die Existenz – im Kontext einer der ältesten bürgerlichen Demokratien, mit widerspruchsreicher Geschichte – echter sozialer Gegenkräfte dazu, dass ein hohes Risiko des Legitimationverlusts besteht.

Viele politische Akeure hatten nun darauf gesetzt, dass dieses politische System – das im Kern besser zu einem autoritär verfassten Staat passen würde – so in der Krise steckt, dass das Versprechen seiner Überwindung Zustimmung bringt. Der Linkssozialdemokrat und Linksnationalist Jean-Luc Mélenchon etwa sprach in diesem Frühjahr davon, er wolle sich zum „letzten Präsidenten der Fünften Republik“ wählen lassen, denn unmittlbar danach werde er darangehen, dieses Präsidialsystem per Verfassungsänderung abzuschaffen. Und er führte in jüngster Zeit den Begriff des dégagisme, abgeleitet vom Verb dégager (abhauen, Leine ziehen) in die französische Politik ein. Dieser Neologismus wurde 2011 in Tunesien kreiert und bedeutete die Aufforderung an alle Vertreter des damaligen alten Systems, sich vom Acker zu machen. Que se vayan todos, wie es 2001 in Argentinien hieß - und Mélenchon in seinem Wahlkampf vor fünf Jahren wiederholte.

Und nun kam alles anders. Denn während Mélenchon bei der Präsidentschaftswahl mit 19,6 Prozent nur knapp den Einzug in die Stichwahl verpasste, gewann diese ein Kandidat – Emmanuel Macron -, der keineswegs den Bruch mit der Fünften Republik und ihren Institutionen versprach. Macron spricht vielmehr offen aus: „Ich stehe zu dieser Vertikalität der Politik“ – was so viel bedeuten soll wie, dass alles Gute von oben kommt -, und er sprach im Februar dieses Jahres auch von einer „christusähnlichen Dimension“ (dimension christique), sprich messianischen Komponente der Politik. Das Präsidentenamt, wie er es gerne sähe, vergliche er mit der „Statur des Jupiter“, ein Ausspruch, der es Ende vergangener Woche auf die Titelseite des Wochenmagazins Le Point schaffte: „Jupiter im Elysée“. Und „mehr Demokratie wagen“, wie 1969 ein Wahlkampfslogan in Westdeutschland lautete, ist Macrons Programm nicht: Er stellte im Wahlkampf in Aussicht, das Parlament um ein Drittel verkleinern und seine Sitzungsperiode zu Gesetzesberatungen von derzeit neun Monaten im Jahr auf drei einschränken zu wollen. Zudem sollen Änderungsanträge zu Gesetzen, die in fachlich zuständigen Ausschüssen keine Mehrheit finden – also nicht durch die stärksten Parteien mitgetraten werden – gar nicht zur Aussprache im Plenarsaal zugelassen werden.

Die Wählerschaft hat es, wenn nicht goutiert, dann ihm doch verziehen und es vorgezogen, sein jung-dynamisch-forsches Auftreten wahrznehmen. Auch wenn eine Ankündigungen künftiger Politik, die nicht unumstritten bleiben dürfte, schon vor dem ersten Durchgang der Parlamentswahlen erfolgten. Zum Thema „Innere Sicherheit“ kündigte die Regierung unter Macrons rechtem Premierminister Edouard Philippe am vorigen Mittwoch an, fast alle Bestimmungen des seit anderthalb Jahren geltenden Ausnahmezustands in das gewöhnliche Straf- und Strafprozessrecht zu überführen und ihn damit zur permanenten Einrichtung zu machen. Und die Pläne zum Arbeitsrecht sind potenziell explosiv.

Am Pfingstmontag (05. Juni 17) veröffentlichte zunächst die Boulevardzeitung Le Parisien einige „Reform“pläne zum Thema. Die Regierung dementierte: Es habe sich nur um Planspiele eines externen Juristen gehandelt, hinter denen man nicht – notwendig – stehe. Am übernächsten Tag (Mittwoch, den 07. Juni) folgten neuen Enthüllungen in der Tageszeitung Libération, doch dieses Mal trugen die Dokumente den Stempel des Arbeitsministeriums und kamen aus dem Hause selbst. Die Ministerin hat inzwischen Strafanzeige wegen des Abdrucks erstattet, was bei Verteidigerinnen der Pressefreiheit für Empörung sorgt. Geplant ist demnach etwa, die Tür für „nach unten“, also zu Ungunsten der Lohnabhängigen vom Gesetz oder vom Flächentarifvertrag abweichende Abkommen in den einzelnen Unternehmen noch viel weiter zu öffnen, als dies das „Arbeitsgesetz“ vom August 2016 bereits tut.

Letzteres erlaubt, dass Vereinbarungen, die vom Arbeitgeber mit Minderheitsgewerkschaften (ab dreißig Prozent Stimmenanteil) getroffen, doch durch die Mehrheitsgewerkschaften abgelehnt werden, in Kraft treten zu lassen. Voraussetzung dafür ist, dass eine Mehrheit der Belegschaft sie in einer Abstimmung durchwinkt. Bislang darf der Abstimmungswahlkampf für oder gegen eine solche Vereinbarung, die etwa im Namen der Beschäftigungssicherung die Arbeitswochen ausweitet und je nach Bedarf des Unternehmens flexibilisiert, nur durch die Gewekschaften geführt werden. Der so genannte Arbeitgeber darf sich nicht einmischen. Nach den neuen Plänen soll hingegen der Arbeitgeber selbst neue, und für die Beschäftigten ungünstige, Vereinbarungen auch ohne gewerkschaftliche Stütze direkt zur Abstimmung stellen können. Dabei darf er sich selbst in die Kampagne einmischen. Dies bedeutet, dass der Erpressung mit dem „Arbeitsplätze-Argument“ alle Türen, Fenster und Scheunentore geöffnet werden. Ferner sollen, unter noch zu definierenden Bedingungen etwa bei den Mehrheitserfordernissen, auch Themen wie Kündigungsmotive oder Befristungsgründe bei Arbeitsverträge durch Vereinbarungen geregelt werden können. Auch hier würde also eine Abweichung „nach unten“ vom Gesetz ermöglicht.

Bislang scheint, nach dem ersten Durchgang der französischen Parlamentswahlen vom vorigen Sonntag, den 11. Juni d.J., alles wie gewünscht für Emmanuel Macron zu verlaufen. Prognosen vor den Stichwahlen am kommenden Wochenende sagen ihm eine satte Mehrheit von über zwei Dritteln der Sitze in der Nationalversammlung voraus, die Rede ist von 415 bis 455 von insgesamt 577 Mandaten. Das Mehrheitswahlrecht macht es möglich. Denn 63 Prozent erklärten zwar in Umfragen, keine absolute Mehrheit für Macron zu wünschen, doch das geltende Wahlsystem erlaubt es, mit einer einfachen Mehrheit der abgegebenen Stimmen einen Sitz zu erhalten.

Wer nicht mit Macron und seinen Plänen einverstanden ist, zog es bislang jedenfalls vor, eher der Wahl fernzubleiben als sich für parteipolitische Alternativen zu entscheiden. Bei den diversen Oppositionskräften auf verschiedenen Seiten des politischen Spektrums ist die Luft vorläufig draußen: Jean-Luc Mélenchons Wahlplattform La France insoumise (Das widerspenstige Frankreich) fiel von 19,6 Prozent bei der Präsidentschafts- auf 11 Prozent bei der Parlamentsfraktion. Sie könnte jedoch mit den Überresten der nur noch 2,7 Prozent auf sich vereinigenden KP eventuell Fraktionsstärke erreichen. Der Front National (FN), dessen Anführer bereits seit der Stichwahl um die Präsidentschaftswahl an Entmotivierung leiden und Richtungskämpfe ausfechten – über Marine Le Pen wird von einer wochenlangen Depression berichtet -, fiel auf noch 13,2 Prozent der Stimmen zurück. Er wird nur eine Handvoll Mandate erlangen und keine Fraktion bilden können. Und die Sozialdemokratie fiel, nach fünfjähriger Regierungszeit, auf lediglich 9,5 Prozent der Stimmen mit verbündeten Linksliberalen.

Vor diesem Hintergrund wird Macron durchregieren können, auch wenn er seine Popularität vorläufig vor allem Medien wie dem Fernsehen und der inhaltsfreien Regenbogenpresse verdankt – keine Ausgabe von Gala kommt ohne die werte Gattin Brigitte Macron aus. Doch die 32,32 Prozent der abgegeben Stimmen für seine Wahlbewegung La République en marche (LRM) entsprechen nur 16 Prozent der Stimmen der in die Wählerverzeichnisse eingetragenen Wahlberechtigten, und nur 11 Prozent der Gesamtbevölkerung. Dabei dürfte es sich überwiegend um die oberen Einkommenssegmente handeln: Macron unterstützen vor allem jene Teile der Oberklassen, die neben einem komfortablen Einkommen auch über eine optimistische Einstellung verfügen, „Europa“ im Sinne der real existierenden EU befürworten und kulturell „weltoffen“ sind. Ferner erhielten Nicolas Sarkozy damalige UMP und François Hollandes Parti Socialiste bei den Parlamentswahlen, die auf die von ihnen gewonnen Präsidentschaftsentscheidungen von 2007 und 2012 folgten, als jeweilige Regierungsparteien deutlich höhere Stimmenanteile. Auch prozentual.

Allen dreien kam dabei zugute, dass das Präsidialsystem seit 2000/01 noch verstärkt worden ist. Bis dahin hatte der Präsident eine sieben-, das Parlament jedoch eine fünfjährige Amtszeit. Um die Existenz gegenläufiger Mehrheiten unwahrscheinlich zu machen und die Rolle derjenigen Parteien, die jeweils das Staatsoberhaupt stellen, zu stärken, wurden beide Amtsperioden durch eine Verfassungsreform 2000 aneinander angeglichen. Und seinem Wahlgesetz von 2001 wurden die Parlamentswahlen hinter jene des Staatschefs gestellt. Seitdem entzieht Letztere regelmäßig den Parlamentswahlen jegliche Dynamik.

Noch einmal ist es aus Sicht der Befürworter dieses politischen Systems gut gegangen. Auch wenn 51,3 Prozent Enthaltung dagegen sprechen, das die innenpolitische Situation auf die Dauer stabil und ruhig bleiben wird, selbst wenn „Jupiter“ Macron nun auf einer dicken Wolke schwebt und die Welt von oben betrachtet.

Stand: 13.6.2017

Editorische Hinweise:

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe. Eine erheblich gekürzte Textfassung erschien in der Berliner Wochenzeitung ,Jungle World’ in ihrer Ausgabe vom 15. Juni 17