Die Deiche haben
noch einmal gehalten und ein politisches System,
das in weiten Kreisen als diskreditiert
bezeichnet worden war, erfolgreich vor den
Stürmen der Zeit abgeschirmt. Aber viele, sehr
viele Menschen bleiben außerhalb
der Deichmauern stehen und werden sich nicht
angesprochen fühlen von dem, was innerhalb der
von ihnen gebildeten Festung passieren wird.
Jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, zu dem aus dem
Inneren neue Anordnungen ergehen, die auch sie
betreffen werden, weil sie in ihr Alltagsleben
eingreifen. Dies könnte vielleicht in Bälde
passieren.
Ungefähr so ließen
sich die politischen Vorgänge im Frankreich der
vergangenen Wochen kurz zusammenfassen. Das
Präsidialsystem der 1958 begründeten Fünften
Republik wurde noch bis vor kurzem als reichlich
abgewirtschaftet betrachtet. Die sozialen
Erwartungen der Wählerschaft traten nach jeder
wichtigen Wahl über kurz oder lang in krassen
Widerspruch zur Realität der, unzweifelhaft vom
Kapital diktierten Regierungspolitik. Daraus
erwuchsen gesellschaftliche Spannungen, mitunter
Protestbewegungen und Streiks wie 1995, 2003, 2006,
2010 oder 2016. Die jeweiligen Staatsoberhäupter
stellten in den vergangenen
Jahrzehnten immer neue Unpopularitäts-Rekorde auf:
Jacques Chirac erreichte vor allem in seinem
letzten Amtsjahr 2006/07 Tiefstwerte, Nicolas
Sarkozy stellte in seiner insgesamt nur
fünfjährigen Amtszeit einen neuen Negativrekord
auf, und sein Nachfolger François Hollande über-
respektive untertraf ihn dann noch.
Das System der durch Charles de Gaulle 1958
gegründeten Wahlmonarchie schien definitiv an seine
Grenzen zu stoßen: Einerseits vereinigt es so viel
Macht wie in kaum einem anderen demokratisch
verfassten Land bei einer Person. Auf der anderen
Seite führen der starke Verlust an
Regierungsfähigkeit des bürgerlichen Staats
gegenüber den Klassen, die den Gang der Ökonomie
bestimmen, aber auch die Existenz – im Kontext
einer der ältesten bürgerlichen Demokratien, mit
widerspruchsreicher Geschichte – echter sozialer
Gegenkräfte dazu, dass ein hohes Risiko des
Legitimationverlusts besteht.
Viele politische Akeure hatten nun darauf gesetzt,
dass dieses politische System – das im Kern besser
zu einem autoritär verfassten Staat passen würde –
so in der Krise steckt, dass das Versprechen seiner
Überwindung Zustimmung bringt. Der
Linkssozialdemokrat und Linksnationalist Jean-Luc
Mélenchon etwa sprach in diesem Frühjahr davon, er
wolle sich zum „letzten Präsidenten der Fünften
Republik“ wählen lassen, denn unmittlbar danach
werde er darangehen, dieses Präsidialsystem per
Verfassungsänderung abzuschaffen. Und er führte in
jüngster Zeit den Begriff des dégagisme,
abgeleitet vom Verb dégager (abhauen,
Leine ziehen) in die französische Politik ein.
Dieser Neologismus wurde 2011 in Tunesien kreiert
und bedeutete die Aufforderung an alle Vertreter
des damaligen alten Systems, sich vom Acker zu
machen. Que se vayan todos, wie es
2001 in Argentinien hieß - und Mélenchon in seinem
Wahlkampf vor fünf Jahren wiederholte.
Und nun kam alles anders. Denn während Mélenchon
bei der Präsidentschaftswahl mit 19,6 Prozent nur
knapp den Einzug in die Stichwahl verpasste, gewann
diese ein Kandidat – Emmanuel Macron -, der
keineswegs den Bruch mit der Fünften Republik und
ihren Institutionen versprach. Macron spricht
vielmehr offen aus: „Ich stehe zu
dieser Vertikalität der Politik“ – was so
viel bedeuten soll wie, dass alles Gute von oben
kommt -, und er sprach im Februar dieses Jahres
auch von einer „christusähnlichen Dimension“ (dimension
christique), sprich messianischen
Komponente der Politik. Das Präsidentenamt, wie er
es gerne sähe, vergliche er mit der „Statur
des Jupiter“, ein Ausspruch, der es Ende
vergangener Woche auf die Titelseite des
Wochenmagazins Le Point schaffte:
„Jupiter im Elysée“. Und „mehr
Demokratie wagen“, wie 1969 ein Wahlkampfslogan in
Westdeutschland lautete, ist Macrons Programm
nicht: Er stellte im Wahlkampf in Aussicht, das
Parlament um ein Drittel verkleinern und seine
Sitzungsperiode zu Gesetzesberatungen von derzeit
neun Monaten im Jahr auf drei einschränken zu
wollen. Zudem sollen Änderungsanträge zu Gesetzen,
die in fachlich zuständigen Ausschüssen keine
Mehrheit finden – also nicht durch die stärksten
Parteien mitgetraten werden – gar nicht zur
Aussprache im Plenarsaal zugelassen werden.
Die Wählerschaft hat
es, wenn nicht goutiert, dann ihm doch verziehen
und es vorgezogen, sein jung-dynamisch-forsches
Auftreten wahrznehmen. Auch wenn eine Ankündigungen
künftiger Politik, die nicht unumstritten bleiben
dürfte, schon vor dem ersten Durchgang der
Parlamentswahlen erfolgten. Zum Thema „Innere
Sicherheit“ kündigte die Regierung unter Macrons
rechtem Premierminister Edouard Philippe am vorigen
Mittwoch an, fast alle Bestimmungen des seit
anderthalb Jahren geltenden Ausnahmezustands in das
gewöhnliche Straf- und Strafprozessrecht zu
überführen und ihn damit zur permanenten
Einrichtung zu machen. Und die Pläne zum
Arbeitsrecht sind potenziell explosiv.
Am
Pfingstmontag (05. Juni 17) veröffentlichte
zunächst die Boulevardzeitung Le Parisien
einige „Reform“pläne zum Thema. Die Regierung
dementierte: Es habe sich nur um Planspiele eines
externen Juristen gehandelt, hinter denen man nicht
– notwendig – stehe. Am übernächsten Tag (Mittwoch,
den 07. Juni) folgten neuen Enthüllungen in der
Tageszeitung Libération, doch dieses
Mal trugen die Dokumente den Stempel des
Arbeitsministeriums und kamen aus dem Hause selbst.
Die Ministerin hat inzwischen Strafanzeige wegen
des Abdrucks erstattet, was bei Verteidigerinnen
der Pressefreiheit für Empörung sorgt. Geplant ist
demnach etwa, die Tür für „nach unten“, also zu
Ungunsten der Lohnabhängigen vom Gesetz oder vom
Flächentarifvertrag abweichende Abkommen in den
einzelnen Unternehmen noch viel weiter zu öffnen,
als dies das „Arbeitsgesetz“ vom August 2016
bereits tut.
Letzteres erlaubt, dass Vereinbarungen, die vom
Arbeitgeber mit Minderheitsgewerkschaften (ab
dreißig Prozent Stimmenanteil) getroffen, doch
durch die Mehrheitsgewerkschaften abgelehnt werden,
in Kraft treten zu lassen. Voraussetzung dafür ist,
dass eine Mehrheit der Belegschaft sie in einer
Abstimmung durchwinkt. Bislang darf der
Abstimmungswahlkampf für oder gegen eine solche
Vereinbarung, die etwa im Namen der
Beschäftigungssicherung die Arbeitswochen ausweitet
und je nach Bedarf des Unternehmens flexibilisiert,
nur durch die Gewekschaften geführt werden. Der so
genannte Arbeitgeber darf sich nicht einmischen.
Nach den neuen Plänen soll hingegen der Arbeitgeber
selbst neue, und für die Beschäftigten ungünstige,
Vereinbarungen auch ohne gewerkschaftliche Stütze
direkt zur Abstimmung stellen können. Dabei darf er
sich selbst in die Kampagne einmischen. Dies
bedeutet, dass der Erpressung mit dem
„Arbeitsplätze-Argument“ alle Türen, Fenster und
Scheunentore geöffnet werden. Ferner sollen, unter
noch zu definierenden Bedingungen etwa bei den
Mehrheitserfordernissen, auch Themen wie
Kündigungsmotive oder Befristungsgründe bei
Arbeitsverträge durch Vereinbarungen geregelt
werden können. Auch hier würde also eine Abweichung
„nach unten“ vom Gesetz ermöglicht.
Bislang scheint, nach
dem ersten Durchgang der französischen
Parlamentswahlen vom vorigen Sonntag, den 11. Juni
d.J., alles wie gewünscht für Emmanuel Macron zu
verlaufen. Prognosen vor den Stichwahlen am
kommenden Wochenende sagen ihm eine satte Mehrheit
von über zwei Dritteln der Sitze in der
Nationalversammlung voraus, die Rede ist von 415
bis 455 von insgesamt 577 Mandaten. Das
Mehrheitswahlrecht macht es möglich. Denn 63
Prozent erklärten zwar in Umfragen, keine absolute
Mehrheit für Macron zu wünschen, doch das geltende
Wahlsystem erlaubt es, mit einer einfachen Mehrheit
der abgegebenen Stimmen einen Sitz zu erhalten.
Wer nicht mit Macron und seinen Plänen
einverstanden ist, zog es bislang jedenfalls vor,
eher der Wahl fernzubleiben als sich für
parteipolitische Alternativen zu entscheiden. Bei
den diversen Oppositionskräften auf verschiedenen
Seiten des politischen Spektrums ist die Luft
vorläufig draußen: Jean-Luc Mélenchons
Wahlplattform La France insoumise
(Das widerspenstige Frankreich) fiel von 19,6
Prozent bei der Präsidentschafts- auf 11 Prozent
bei der Parlamentsfraktion. Sie könnte jedoch mit
den Überresten der nur noch 2,7 Prozent auf sich
vereinigenden KP eventuell Fraktionsstärke
erreichen. Der Front National (FN), dessen Anführer
bereits seit der Stichwahl um die
Präsidentschaftswahl an Entmotivierung leiden und
Richtungskämpfe ausfechten – über Marine Le Pen
wird von einer wochenlangen Depression berichtet -,
fiel auf noch 13,2 Prozent der Stimmen zurück. Er
wird nur eine Handvoll Mandate erlangen und keine
Fraktion bilden können. Und die Sozialdemokratie
fiel, nach fünfjähriger Regierungszeit, auf
lediglich 9,5 Prozent der Stimmen mit verbündeten
Linksliberalen.
Vor diesem Hintergrund wird Macron durchregieren
können, auch wenn er seine Popularität vorläufig
vor allem Medien wie dem Fernsehen und der
inhaltsfreien Regenbogenpresse verdankt – keine
Ausgabe von Gala kommt ohne die werte
Gattin Brigitte Macron aus. Doch die 32,32 Prozent
der abgegeben Stimmen für seine Wahlbewegung La
République en marche (LRM) entsprechen nur 16
Prozent der Stimmen der in die Wählerverzeichnisse
eingetragenen Wahlberechtigten, und nur 11 Prozent
der Gesamtbevölkerung. Dabei dürfte es sich
überwiegend um die oberen Einkommenssegmente
handeln: Macron unterstützen vor allem jene Teile
der Oberklassen, die neben einem komfortablen
Einkommen auch über eine optimistische Einstellung
verfügen, „Europa“ im Sinne der real existierenden
EU befürworten und kulturell „weltoffen“ sind.
Ferner erhielten Nicolas Sarkozy damalige UMP und
François Hollandes Parti Socialiste bei den
Parlamentswahlen, die auf die von ihnen gewonnen
Präsidentschaftsentscheidungen von 2007 und 2012
folgten, als jeweilige Regierungsparteien deutlich
höhere Stimmenanteile. Auch prozentual.
Allen dreien kam dabei zugute, dass das
Präsidialsystem seit 2000/01 noch verstärkt worden
ist. Bis dahin hatte der Präsident eine sieben-,
das Parlament jedoch eine fünfjährige Amtszeit. Um
die Existenz gegenläufiger Mehrheiten
unwahrscheinlich zu machen und die Rolle derjenigen
Parteien, die jeweils das Staatsoberhaupt stellen,
zu stärken, wurden beide Amtsperioden durch eine
Verfassungsreform 2000 aneinander angeglichen. Und
seinem Wahlgesetz von 2001 wurden die Parlamentswahlen
hinter jene des Staatschefs gestellt. Seitdem
entzieht Letztere regelmäßig den Parlamentswahlen
jegliche Dynamik.
Noch einmal ist es
aus Sicht der Befürworter dieses politischen
Systems gut gegangen. Auch wenn 51,3 Prozent
Enthaltung dagegen sprechen, das die
innenpolitische Situation auf die Dauer stabil und
ruhig bleiben wird, selbst wenn „Jupiter“ Macron
nun auf einer dicken Wolke schwebt und die Welt von
oben betrachtet.
Stand: 13.6.2017
Editorische Hinweise:
Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese
Ausgabe. Eine erheblich gekürzte Textfassung
erschien in der Berliner Wochenzeitung ,Jungle
World’ in ihrer Ausgabe vom 15. Juni 17
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