Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Nachrichten vom Eisenbahnerstreik
 

5-6/2018

trend
onlinezeitung

23. April 2018: Streikbewegung tritt in eine riskante Phase ein

Vorbemerkung:

Seitdem hat es, zwischen dem Verfassen dieses Zwischenstandsberichts und dem Redaktionsschluss dieses Artikels (Ende April 18), vergleichsweise WENIG Anlass zum Optimismus gegeben, was die Entfaltung der aktuellen sozialen Protestbewegungen betrifft. An einer Kundgebung von Linkskräften zur umfassenden Solidarität mit sozialen Kämpfen, am frühen Abend des 30. April d.J. in Paris, nahmen nur 200 bis 300 Menschen im Eisregen teil…

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Resümee: Die Bahndirektion kommuniziert massiv über „Abbröckeln“ des Streiks (auch unter Rückgriff auf handelsübliche Manipulationen) – Gewerkschaften kontern mit Ankündigung eines Streiks auch im Hochsommer, SNCF-Direktor koffert zurück: „Es wird keinen Streik im Sommer geben“ – Regierung verweigert die gewerkschaftliche Forderung, direkt auf Chefebene statt mit der diskreditierten Transportministerin zu diskutieren - Räumung mehrerer blockierter Universitäten; in Grenoble und Montpellier war sie am Montag Mittag im Gange, nach jener von Tolbiac und Sciences Po in Paris – Die große strategische Lücke bleiben im Augenblick die Verbindungen zu den Oberschüler/inne/n

Klar ist: An Manipulationen zu diesem Thema hat nie ein Mangel bestanden. Gerne werden Streikbeteiligungsquoten heruntergerechnet oder in Graphiken kleingezeichnet (vgl. dazu anschaulich: https://www.marianne.net), eine „Dynamik zur Wiederaufnahme der Arbeit“ wird herbeizuschreiben versucht usw. Es ist nicht neu, dass bei Transportstreiks in Frankreich weite Teile der bürgerlichen Presse gegen den Arbeitskampf anschreiben. Dem war etwa auch im „historischen“ Streikherbst vom November/Dezember 1995 so. Nur verfing die Propaganda damals kaum oder gar nicht, und die Streikbewegung blieb von Anfang bis Ende populär.

Auch heute wird mit sehr ähnlichen Methoden gegen die Streikbewegung agiert und agitiert. Zusätzlich wird ein Neiddiskurs gegen die vermeintlich „privilegierten“ Bahnbeschäftigten bemüht, den es auch 1995 gegeben hat, welcher jedoch heute stärker verfängt – eine Reihe von Niederlagen sozialer Kämpfe haben die Gesellschaft seitdem (mit)geprägt, die Entsolidarisierung wuchs. Richtiger wird die Medienpropaganda dadurch in der Sache nicht. Argumentiert wird etwa mitunter, die Bahnbeschäftigten seien „privilegiert“, weil sie bereits früh in Rente gehen könnten, angeblich mit fünfzig. Real sind es seit den letzten „Reformen“, je nach Berufsgruppe, 52,5 Jahre (Lokführer/innen, Bordpersonal, Mechaniker/innen) oder 57,5 Jahre (für andere Bahnbeschäftigte wie Schalterbedienstete). Dies ist aber nur das gesetzliche Mindestalter. Wie andere Lohnabhängige auch müssen sie jedoch, nach Jahrgang, 40 bis 41,5 Jahre Beiträge aufweisen, um einen vollen Anspruch auf eine Pension ohne Abschläge zu haben; für jedes fehlende Beitragsjahr gibt es Abzüge. Bei einem Renteneintritt mit 52,5 Jahren wird also real niemand von der Pension leben können oder wollen.

Dennoch, auch wenn der Bahnstreik derzeit ziemlich massiv haben: Es dürfte wohl Konsequenzen haben, wenn man beobachtet, in welchem Ausmaß derzeit auf vielen Kanälen eine „Tendenz zum Abbröckeln“ beschworen wird. An diesem Montag, den 23. April 18 – er zählt zu den insgesamt 36, vorab festgelegten Streiktagen zwischen Anfang April und Ende Juni d.J. – verkehrten laut Angaben der Bahndirektion 35 Prozent der Hochgeschwindigkeitszüge vom Typ TGV; in anderen Quellen (in den bürgerlichen Medien) war auch von 40 % die Rede. ( Vgl. http://www.lefigaro.fr/) Zu Anfang des Arbeitskampfs am 03./04. April dieses Jahres waren es, laut derselben Quelle, circa 12,5 Prozent gewesen. Die Anzahl der Streikenden wurde im Laufe mit „insgesamt 17,45 % des Personals, doch 62 % unter den Lokführer/inne/n“ angegeben. (Vgl. https://www.francetvinfo.fr/ )

Insofern, als Gewerkschaftsstrukturen bei der Bahngesellschaft SNCF zugleich in Aussicht stellen, der Streik könne sich über den bisher geplanten Schluss ( also die beiden letzten bislang angekündigten Streiktage am 27./28. Juni 18 ) hinaus auch auf die Urlaubs- und Sommermonate Juli und August d.J. ausdehnen – vgl. http://www.leparisien.fr sowie http://www.lepoint.fr/societe/sncf-la-greve-partie-pour-durer-tout-l-ete-22-04-2018-2212549_23.php und https://www.20minutes.fr/ -, erscheint diese Tendenz bedenklich. Denn dafür würde man einen ausgesprochen langen Atem und viel Ausdauer benötigen. Aber auch einen starken Rückhalt in der öffentlichen Meinung; und ( Medienmanipulationen hin oder her, dnn diese hat es auch bereits 1995 in vergleichbarer Weise gegeben ) diesbezüglich besteht derzeit, gelinde ausgedrückt, zu keinem übertriebenen Optimismus Anlass. ( Vgl. zur jüngsten Umfrage: https://www.lejdd.fr/)

Am vorigen Donnerstag, den 19. April hatten die vier als „repräsentativ“ (ungefähr: „tariffähig“) anerkannten Branchengewerkschaften bei der Bahngesellschaft SNCF ihre „Aussetzung“ der Verhandlungen mit der Transportministerin Elisabeth Borne erklärt und verlangt, gefälligst eine Etage höher empfangen zu werden, also beim Regierungschef Edouard Philippe. (Vgl. https://www.huffingtonpost.fr/ und http://www.europe1.fr oder https://www.challenges.fr/ ) Denn die Transportministerin wiederhole ohnehin nur immer dieselben Leerformeln. Borne war bereits 1997 beim konservativen Premierministerin Alain Juppé – der damals kurz zuvor, Ende 1995, durch einen massiven und populären Bahnstreik „besiegt“ und zu politischen Rückzieher gezwungen worden war – Beraterin für Transportwesen. (Vgl. http://www.bfmtv.com/) Man darf sie als unbelehrbar betrachten, auch wenn man der Versuchung widersteht, sie mit einem Wortspiel als borniert (französisch: borné) zu bezeichnen.. Premierminister Philippe lehnte dieses Ansinnen jedoch rundheraus schlicht ab: Die „Konzertierungsgespräche“ fänden auch weiterhin mit Elisabeth Borne statt, punktum. Er lehnte es mit diesen Worten rundheraus ab, Gewerkschaftsvertreter/innen zu empfangen. (Vgl. http://www.lemonde.fr/).

NACHTRÄGLICH ANMERKUNG: Mittlerweile wurde allerdings angekündigt, Premierminister Philippe werde die Bahngewerkschaften (einzeln, also getrennt voneinander) am Montag, den 07. Mai 18 empfangen.

Frankreichs „Bahnchef“ Guillaum Pépy seinerseits hat es sich jedenfalls herausgenommen, die Ankündigung der Mehrheitsgewerkschaften, ihren Streik eventuell auch über den Hochsommer 2018 hinweg auszudehnen, kurzerhand mit einer einfachen Handbewegung und autoritär vom Tisch zu wischen: „Es wird keinen Zugstreik im Sommer geben.“ (Vgl. http://www.lefigaro.fr/ und https://www.francetvinfo.fr/) Der Herr scheint sich relativ sicher zu sein, dass das Kräfeverhältnis zu seinen Gunsten arbeitet, oder tut jedenfalls so. Hier rächt sich vielleicht auch, dass die Mehrheitsgewerkschaften – gegen die Auffassung von SUD Rail - den Streik nicht gleich schnell und stark hochfuhren, sondern ihn auf lange Sicht mit einem vermeintlich langen Atem geplant hatten, im fünftägigen Stop-and-Go-Rhythmus mit je zwei Tagen Streik und je drei Tagen Wiederaufnahme der Arbeit…

Jedenfalls scheint die Streikbewegung offensichtlich in eine für sie selbst gefährliche Phase einzutreten. Helfen könnte ihr hier das Zusammengehen mit Kämpfen in anderen Sektoren, die berühmte und viel beschworene convergence des luttes. An dieser Front jedoch tut sich nicht viel, jedenfalls bei weitem nicht so viel, wie es erforderlich wäre. Und auch die Beteiligung an der Demonstration am vorigen Donnerstag, den 19. April 18 (wir berichteten) dürfte da erst einmal keine Abhilfe verschafft haben. Vgl. auch https://www.francetvinfo.fr/ – Gut, als Nächstes kommen vorläufig noch der 01. Mai und eine geplante Eisenbahner-Kundgebung an zentralem Ort in Paris (am 03. Mai 18) sowie die Mobilisierung gegen Macrons Politik am 05. Mai d.J.; danach wird man wirklich weitersehen.

An der Protestfront der Studierenden gibt es derzeit ebenfalls eher Schwierigkeiten zu vermelden, da nun eine lange Urlaubsphase begonnen hat. Zwar haben die Studierenden jeder einzelnen Universität nur einen, maximal zwei Wochen Frühjahrsferien; doch aufgrund der unterschiedlichen Urlaubszeiten in den verschiedenen „Akademien“ ( in denen mehrere Universitäten regional zusammengefasst sind ) sind diese nun über einen Mega-Zeitraum von sechs Wochen gestreckt. Üblich sind in sonstigen Jahren insgesamt vier Wochen Zeitspanne, doch aufgrund der Urlaubstage im Mai – 1. Mai, dann in der zweiten Maiwoche sowohl der 8. Mai (in Frankreich gesetzlicher Feiertag wg. Dem 08. Mai 1945) als auch der 10. Mai – haben mehrere „Akademien“ wie Orléans, Nantes und Rennes in diesem Jahr ausnahmsweise die Frühjahrsferien in den Mai statt in den April gelegt…

Was nun auf dem Spiel steht, ist die Frage, ob die Oberschüler/innen noch vor dem Abitursbeginn am 18. Juni d.J. mobilisiert werden können. Ab dem Ende der Hochschulferien wollen deswegen die am Protest beteiligten Studierenden ausschwärmen und an die verschiedenen Oberschulen gehen. Bislang sind die Oberschüler/nnen – als die Hauptbetroffenen, da für den diesjährigen Abiturs-Jahrgang mit dem Gesetz Loi ORE erstmals die Einschränkungen beim Hochschulzugang greifen werden – deutlich unterdurchschnittlich in dieser Protestbewegung vertreten. Diese wird weitaus eher von hochschulpolitisch engagierten, oppositionellen Teilen der Studierendenschaft getragen. Die Oberschüler/innen fürchten zum Gutteil, sich eventuell die Abiturprüfungen zu vergeigen – vor allem aber, durch eine negative Beurteilung an der Schule, just aufgrund ihrer Beteiligung am Protest, bei den zukünftigen Zugangsmodalitäten zur Universität benachteiligt zu werden und durch den Rost zu fallen. In der Sache ein Grund mehr zum Protest, doch in der Realität auch ein Anlass zu seiner Lähmung… (Vgl. dazu auch http://lirelactu.fr/ und http://www.lemonde.fr/ )

Und auch innerhalb der Studierendenschaft handelt es sich um eine, wenngleich vergleichsweise große und aktive (also über die ohnehin organisierten Linksradikalen jedenfalls an manchen Hochschulen hinaus gehende), Minderheit. An mehreren Universität fanden solcherart studentische „Vollversammlungen“ (Assemblée générales oder AGs) mit vierstelliger Teilnehmer/innen/zahl statt. Andererseits fand, anders als etwa beim „historischen“ Studierendenprotest im Spätherbst 1986 – der die damalige Regierung zum Aufgeben des bisher letzten Versuchs einer Einschränkung des Universitätszugangs zwinge, konnte – oder auch bei der massiven Bewegung gegen den CPE ( Contrat première embauche, d.h. die Einschränkung des Kündigungsschutzes für unter 30jährige ) zu Angang des Jahres 2006 -, bislang keine wirkliche Massendemonstration von Studierenden mit Hunderttausenden von Teilnehmer/inne/n statt. Aktuell findet der Protest innerhalb der Hochschulen mit AGs, zum Teil mit Blockaden vor der erzwungenen Verschiebung mancher Prüfungen (wie vorige Woche in Nanterre) statt; jedoch mit eher geringer Präsenz auf den Straßen.

Am heutigen Montag um die Mittagszeit waren in Grenoble (vgl. AFP-Meldung dazu: http://www.lefigaro.fr/f) und in Montpellier (vgl. http://www.lefigaro.fr ) polizeiliche Räumungsaktionen an den dortigen Universitäten im Gange.

In Paris wurde Ende vergangener Woche, neben der sozialwissenschaftlichen Fakultät von Tolbiac (wir berichteten am Freitag, den 20. April 18 ausführlich), auch die Elitehochschule Sciences Po Paris oder IEP polizeilich geräumt; vgl. https://www.lci.fr/ . Diese war kurzzeitig ebenfalls in den Hochschulprotest einbezogen gewesen. (Vgl. http://etudiant.lefigaro.fr/)

NACHTRÄGLICHE ANMERKUNG: Am frühen Freitag, den 27. April 18 hat es einen erneuten Versuch gegeben, diese Elitehochschule (IEP in Paris) zu blockieren. Letztendlich standen dann aber nur ein Dutzend Leutchen vor dem Gebäude im Polizeikessel… Am Nachmittag desselben Tagen wurden einige Hörsäle der sozialwissenschaftlichen Elitehochschule EHESS besetzt.

In der Öffentlichkeit propagandistisch ausgeschlachtet wird nachträglich nun vor allem die Räumung von Tolbiac. Der dort zuständige Hochschulpräsident Georges Haddad hatte zuvor mittels willfähriger Medien und in apokalyptischen Farben das dort herrschende Sodom und Gomorrha ausgemalt: „Gewalt, Drogen, ja sogar Sex“ seien in den besetzten Hochschulräumen anzutreffen. (Vgl. bspw. https://www.francetvinfo.fr/) Im Nachhinein behauptet derselbe nun, die insgesamt rund vierwöchige Besetzung von TEILEN der Universitätsgebäude habe angeblich „mehrere Hunderttausend Euro“ Sachschäden hinterlassen. (Vgl. http://www.lefigaro.fr/) Die behaupteten, weitaus übertriebenen Folgekosten resultieren vor allem aus Graffitys – respektive dem Wunsch, diese unbedingt zu überpinseln, ja die Wände vollständig neu zu streichen – sowie von Sachschäden bei der brutalen polizeilichen Räumung. Zusätzlich ist ferner anzunehmen, dass die Leitung nun über einen bequemen Vorwand verfügt, um ohnehin (d.h. bereits zuvor) bestehenden Renovierungsbedarf anzumelden. Eine mit dem Autor befreundete juristische Lehrkraft hat jedenfalls angegeben, bei einem Besuch im Hochschulzentrum von Tolbiac VOR dessen Besetzung habe sie sich unter materiellen Bedingungen wie in einem Universitätsgebäude in Bangladesh gefühlt..

Um dem Publikum nun richtig den Schauer über den Rücken zu jagen, gibt die Hochschulleitung mittlerweile an, Tolbiac werde für den Lehrbetriebe „nicht vor September d.J.“ wieder eröffnet… (Vgl. http://www.lefigaro.fr/ und http://www.europe1.fr/)

Noch jagen sich die Bourgeois etwas Angst mit der aktuellen Protestbewegung ein. Allerdings wird es für diese erforderlich sei, aus ihren aktuellen strategischen Schwierigkeiten herauszuwachsen. Und dies wäre bald, bald nötig… Sonst besteht für Optimismus eher geringer Anlass.

Editorischer Hinweis

Diesen Bericht erhielten wir von B. Schmid für diese Ausgabe.