Rechtsphilosophie
Leseauszug aus "Allgemeine Rechtslehre und Marxismus"

von Eugen Paschukanis

5-6/2019

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Das Recht als Form ist außerhalb seiner engsten Definitionen unerfaßbar. Es existiert nur in Gegensatzpaaren: objektives Recht - subjektives Recht; öffentliches Recht - Privatrecht usw. Aber alle diese grundlegenden Abgrenzungen werden sich als der Grundformel mechanisch angehängt erweisen, wenn diese von uns so aufgestellt wird, daß sie alle Epochen und Stadien der gesellschaftlichen Entwicklung umfassen soll, darunter auch solche, die die oben angeführten Gegensätze überhaupt nicht kannten.

Nur die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft schafft alle notwendigen Bedingungen dafür, daß das juristische Moment in den gesellschaftlichen Beziehungen vollständige Bestimmtheit erlange.

Läßt man auch die Kultur der primitiven Völker - wo man das Recht überhaupt nur mit Mühe aus der gesamten Masse sozialer Erscheinungen normativer Art herausschälen kann - ganz beiseite, so findet man, daß sogar noch im mittelalterlichen Europa die Rechtsformen äußerst unentwickelt sind. Alle oben angeführten Gegensätze fließen in ein undifferenziertes Ganzes zusammen. Es fehlt die Grenze zwischen dem Recht als objektiver Norm und dem Recht als Berechtigung. Die allgemeine Norm unterscheidet sich nicht von ihrer konkreten Anwendung; dementsprechend fließt die Tätigkeit des Richters und des Gesetzgebers in eins zusammen. Der Gegensatz zwischen öffentlichem und privatem Recht ist sowohl bei der Markgenossenschaft als auch bei der Organisation der feudalen Macht vollständig verwischt. Es fehlt überhaupt der für die bürgerliche Epoche so bezeichnende Gegensatz zwischen dem Menschen als Privatperson und dem Menschen als Mitglied eines politischen Verbandes. Damit sich alle diese Facetten der Rechtsform mit voller Präzision herauskristallisieren konnten, bedurfte es eines langen Entwicklungsprozesses, dessen wichtigster Schauplatz die Städte waren.

So liefert uns die dialektische Entwicklung der grundlegenden juristischen Begriffe nicht nur die Rechtsform in voll entfalteter, gegliederter Gestalt, sondern spiegelt auch den realen historischen Entwicklungsprozeß wider, der nichts anderes ist als der Entwicklungsprozeß der bürgerlichen Gesellschaft.

Gegen die allgemeine Rechtslehre, wie wir sie auffassen, kann nicht der Einwand erhoben werden, daß diese Disziplin es nur mit formalen, bedingten Definitionen und künstlichen Konstruktionen zu tun hätte. Niemand bezweifelt, daß die Nationalökonomie etwas wirklich Existierendes studiert, obwohl schon Marx darauf aufmerksam gemacht hat, daß Dinge wie Wert, Kapital, Profit, Rente usw. »nicht mit Hilfe des Mikroskops und der chemischen Analyse entdeckt« werden können. Die Rechtslehre arbeitet mit Abstraktionen, die nicht weniger »künstlich« sind: ein »Rechtsverhältnis« oder »Rechtssubjekt« kann ebenso nicht mit den Methoden der naturwissenschaftlichen Forschung entdeckt werden, und doch stecken auch hinter diesen Abstraktionen ganz reale gesellschaftliche Kräfte.

Vom Standpunkt eines Menschen aus naturalwirtschaftlichem Milieu wird die Ökonomik der Wertverhältnisse als ebenso künstliche Entstellung einfacher und natürlicher Dinge erscheinen, wie die juristische Denkweise dem »gesunden Menschenverstand« des Durchschnittsmenschen.

Es muß bemerkt werden, daß der juristische Gesichtspunkt dem Bewußtsein des »Durchschnittsmenschen« unvergleichlich fremder ist als der ökonomische. Denn auch im Falle, wenn das ökonomische Verhältnis gleichzeitig auch als juristisches verwirklicht wird, ist für die Beteiligten in diesem Verhältnis in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle gerade die ökonomische Seite das Aktuelle, während das juristische Moment im Hintergrunde bleibt und mit vollständiger Klarheit nur in Ausnahmefällen zutage tritt (Prozeß, Rechtsstreit). Andererseits treten als Träger des »juristischen Moments« im Stadium seiner Aktivität gewöhnlich die Mitglieder einer besonderen Kaste (Juristen, Richter) auf. Darum ist für den Durchschnittsmenschen das Denken in ökonomischen Kategorien gewohnter und natürlicher als das Denken in juristischen Kategorien.

Wenn man glaubt, daß die juristischen Begriffe, die den Sinn der Rechtsform ausdrücken, das Produkt irgendwelcher willkürlicher Erfindung darstellen, verfällt man in den Fehler, den Marx bei den Aufklärern des 18. Jahrhunderts aufgezeigt hat. Da die letzteren nach Marxens Wort die Entstehung und Entwicklung der rätselhaften Gestalten menschlicher Verhältnisse noch nicht erklären konnten, versuchten sie, diesen den unverständlichen Charakter dadurch zu nehmen, daß sie erklärten, es wären eben menschliche Erfindungen und seien nicht vom Himmel gefallen (MEW 23, 106).

Es kann übrigens nicht in Abrede gestellt werden, daß ein großer Teil der juristischen Konstruktionen tatsächlich außerordentlich strittig und willkürlich sind. So zum Beispiel die meisten Konstruktionen des öffentlichen Rechts. Wir werden im folgenden versuchen, die Ursachen dieser Erscheinung zu klären. Vorläufig beschränken wir uns auf die Bemerkung, daß die Wertform unter den Bedingungen einer entwickelten Warenwirtschaft universell wird, neben der primären noch verschiedene abgeleitete und fiktive Ausdrucksformen annimmt und als Preis von Gegenständen auftritt, die keine Arbeitsprodukte sind (Boden) oder gar mit dem Produktionsprozeß überhaupt nichts zu tun haben (zum Beispiel von einem Spion gekaufte militärische Geheimnisse). Dies verhindert aber nicht, daß der Wert als ökonomische Kategorie nur vom Standpunkt gesellschaftlich notwendiger Verausgabung von Arbeit begriffen werden kann, die zur Produktion irgendeines Produkts erforderlich ist. Genau so braucht der Universalismus der Rechtsform uns nicht bei der Suche nach jenen Beziehungen Halt zu gebieten, die ihre reale Grundlage bilden. Im weiteren hoffen wir nachweisen zu können, daß diese Grundlage nicht jene Verhältnisse sind, die öffentlich-rechtliche genannt werden.

Ein anderer Einwand gegen die von uns vertretene Auffassung der Aufgaben der allgemeinen Rechtslehre besteht darin, daß man die Abstraktionen, die dieser zugrunde liegen, als nur dem bürgerlichen Recht eigene betrachtet. Das proletarische Recht - sagt man uns -müsse andere verallgemeinerte Begriffe finden, und die Suche nach solchen sollte die Aufgabe der marxistischen Rechtslehre sein.

Dieser Einwand scheint auf den ersten Blick ein sehr ernster zu sein. Er beruht jedoch auf einem Mißverständnis. Indem sie für das proletarische Recht neue eigene verallgemeinernde Begriffe fordert, scheint diese Richtung par excellence revolutionär zu sein. Tatsächlich proklamiert sie aber die Unsterblichkeit der Rechtsform, denn sie strebt danach, diese Form aus den bestimmten geschichtlichen Bedingungen herauszureißen, die ihr zur vollen Blüte verholfen hatten, und sie als der ständigen Erneuerung fähig hinzustellen. Das Absterben gewisser Kategorien (gerade von Kategorien und nicht der einen oder anderen Vorschrift) des bürgerlichen Rechts bedeutet keineswegs ihre Ersetzung durch neue Kategorien des proletarischen Rechts, genau so wie das Absterben der Kategorien des Wertes, Kapitals, Profits usw. bei dem Übergang zum entfalteten Sozialismus nicht das Auftauchen neuer proletarischer Kategorien des Werts, Kapitals usw. bedeuten wird.

Das Absterben von Kategorien des bürgerlichen Rechts wird unter diesen Bedingungen das Absterben des Rechts überhaupt bedeuten, das heißt das Verschwinden des juristischen Moments aus den Beziehungen der Menschen zueinander.

Für die Übergangszeit aber ist - wie dies Marx in der Kritik des Gothaer Programms gezeigt hat - die Tatsache bezeichnend, daß die Beziehungen der Menschen zueinander während einer gewissen Periode gezwungenerweise in dem »engen bürgerlichen Rechtshorizont« (MEW 19, 21) eingeschlossen bleiben werden. Es ist interessant zu analysieren, worin denn nach der Marxschen Auffassung dieser enge bürgerliche Rechtshorizont besteht. Marx nimmt als Voraussetzung eine Gesellschaftsordnung, in der die Produktionsmittel der ganzen Gesellschaft gehören und in der die Produzenten ihre Produkte nicht austauschen. Folglich nimmt er eine höhere Entwicklungsstufe an als die gegenwärtig von uns erlebte »neue ökonomische Politik«. Der Markt ist bereits gänzlich durch einen organisierten Zusammenhang ersetzt und dementsprechend

erscheint ebensowenig hier die auf Produkte verwandte Arbeit als Wert dieser Produkte, als eine von ihnen besessene sachliche Eigenschaft, da jetzt, im Gegensatz zur kapitalistischen Gesellschaft, die individuellen Arbeiten nicht mehr auf einem Umweg, sondern unmittelbar als Bestandteile der Gesamtarbeit existieren (MEW 19, 19f.).

Aber sogar bei vollständiger Abschaffung des Marktes und des

Marktaustausches muß die neue kommunistische Gesellschaft - wie

Marx sagt -

in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet sein mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie hervorkommt (ebd., 20).

Das zeigt sich auch im Prinzip der Verteilung, wonach

der einzelne Produzent - nach den Abzügen - exakt zurückerhält, was er ihr (der Gesellschaft) gibt (ebd.).

Marx betont, daß trotz der radikalen Veränderung von Form und Inhalt

dasselbe Prinzip herrscht, wie beim Austausch von Warenäquivalenten: es wird gleichviel Arbeit in einer Form gegen gleichviel Arbeit in einer anderen umgetauscht (ebd.).

Insoweit das Verhältnis des einzelnen Produzenten und der Gesellschaft weiter die Form des Austausches von Äquivalenten beibehält, soweit behält es auch die Form des Rechts bei, denn »das Recht kann seiner Natur nach nur in Anwendung von gleichem Maßstab bestehen« (ebd.). Da aber hierbei die natürliche Ungleichheit der individuellen Begabung nicht berücksichtigt wird, so ist dieses Recht »ein Recht der Ungleichheit, seinem Inhalt nach, wie alles Recht«(ebd., 21). Marx erwähnt nicht die Notwendigkeit einer Staatsgewalt, die durch ihren Zwang die Durchführung dieser Normen des »ungleichen«, ihre »bürgerliche Schranke« (ebd., 20) beibehaltenden Rechts sichert, aber dies versteht sich ja von selbst. Lenin zieht diesen Schluß:

Das bürgerliche Recht auf dem Gebiet der Verteilung der Konsumtionsmittel setzt natürlich auch den bürgerlichen Staat voraus, denn das Recht ist nichts ohne einen Apparat, der imstande ist, die Einhaltung der Rechtsnormen zu erzwingen. Es ergibt sich also, daß nicht nur unter dem Kommunismus das bürgerliche Recht eine gewisse Zeit bestehen bleibt, sondern sogar der bürgerliche Staat - ohne Bourgeoisie. (1960, 485)

Ist einmal die Form des Austauschs von Äquivalenten gegeben, so ist auch die Form des Rechts, die Form der öffentlichen, das heißt staatlichen Gewalt gegeben, die demzufolge noch einige Zeit bestehen bleibt, sogar wenn die Gliederung in Klassen nicht mehr existiert. Das Absterben des Rechts und mit ihm des Staats erfolgt nach der Auffassung Marx' erst dann, wenn

die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden (MEW 19, 21),

wenn mit der allseitigen Entwicklung des Individuums zugleich die Produktivkräfte anwachsen, wenn alle freiwillig nach ihren Fähigkeiten arbeiten werden oder - wie Lenin sagt -

keiner mit der Hartherzigkeit eines Shylock darauf bedacht sein wird, ja nicht eine halbe Stunde länger als der andere zu arbeiten (1960,483),

mit einem Wort, wenn die Form des Äquivalentverhältnisses endgültig überwunden sein wird.

Den Übergang zum entwickelten Kommunismus stellt sich Marx folglich nicht als einen Übergang zu neuen Rechtsformen vor, sondern als ein Absterben der juristischen Form als solcher, als eine Befreiung von diesem Erbe der bürgerlichen Epoche, dem es beschieden ist, die Bourgeoisie selbst zu überleben.

Zugleich zeigt Marx die grundlegende, in der ökonomischen Gestaltung der Gesellschaft selbst wurzelnde Bedingung der Existenz der Rechtsform auf, das heißt die Zusammenfassung der Arbeitsleistungen nach dem Prinzip des äquivalenten Austauschs. Damit deckt er den tiefen inneren Zusammenhang zwischen Rechtsform und Warenform auf. Eine Gesellschaft, die durch den Stand ihrer Produktivkräfte gezwungen ist, ein Äquivalentverhältnis zwischen Arbeitsverausgabung und Vergütung in einer Form beizubehalten, die auch nur entfernt an den Austausch von Warenwerten erinnert, wird gezwungen sein, auch die Rechtsform beizubehalten. Nur wenn man von diesem grundlegenden Moment ausgeht, kann man begreifen, warum eine ganze Reihe anderer gesellschaftlicher Beziehungen juristische Formen annimmt. Daraus aber folgern, daß Gerichte und Gesetze immer bestehen bleiben müßten, weil sogar bei größtmöglicher wirtschaftlicher Versorgung nicht alle Vergehen gegen die Person verschwinden würden, hieße eben sekundäre, untergeordnete Momente für die wesentlichen und grundlegenden zu halten. Sogar die bürgerliche fortschrittliche Kriminalistik ist ja in der Theorie zur Überzeugung gekommen, daß der Kampf gegen das Verbrechertum an und für sich als medizinisch-pädagogische Aufgabe betrachtet werden kann, zu deren Lösung die Juristen mit ihren »Tatbeständen«, Gesetzbüchern, mit ihren Begriffen der »Schuld«, der »vollen oder verminderten Zurechnungsfähigkeit«, mit ihren feinen Unterscheidungen zwischen Mittäterschaft, Beihilfe, Anstiftung usw. überhaupt nicht gebraucht werden. Und wenn diese theoretische Überzeugung bisher noch nicht zur Abschaffung der Strafgesetzbücher und Kriminalgerichte geführt hat, so freilich nur darum, weil die Überwindung der Rechtsform nicht nur an ein Hinausgehen über den Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft gebunden ist, sondern auch an eine radikale Emanzipation von allen ihren Überbleibseln.

Die Kritik der bürgerlichen Jurisprudenz vom Standpunkt des wissenschaftlichen Sozialismus muß sich an der Kritik der bürgerlichen politischen Ökonomie, wie sie uns von Marx gegeben wurde, ein Beispiel nehmen. Dazu muß sich diese Kritik vor allem in das Gebiet des Feindes begeben, das heißt die Verallgemeinerung und Abstraktion nicht beiseite werfen, die von bürgerlichen, von den Bedürfnissen ihrer Zeit und ihrer Klasse ausgehenden Juristen ausgearbeitet worden sind, sondern, diese abstrakten Kategorien analysierend, ihre wirkliche Bedeutung dartun, das heißt mit anderen Worten, die historische Bedingtheit der Rechtsform aufdecken.

Jede Ideologie stirbt mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, die sie hervorgebracht haben. Diesem endgültigen Verschwinden geht aber ein Moment voraus, wo die Ideologie unter den Schlägen der gegen sie gerichteten Kritik die Fähigkeit verliert, die gesellschaftlichen Verhältnisse, aus der sie hervorgegangen ist, zuzudecken und zu verhüllen. Die Bloßlegung der Wurzeln einer Ideologie ist ein sicheres Zeichen ihres herannahenden Endes. Denn wie Lassalle sagte: »Das Anbrechen einer neuen Zeit besteht immer nur in dem erlangten Bewußtsein über das, was die bisher vorhandene Wirklichkeit an sich gewesen ist.« (1861, 31 )

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus dem Kapitel "Die Aufgaben der allgemeinen Rechtslehre" von Eugen Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus - Versuch einer Kritik der juristischen Grundbegriffe, 1923, dt.1929, erneut veröffentlicht Frankfurt/M. 1966, Freiburg i.Brg. 2003; S.51-56

Digitalisierte Fassung: http://kommunismus.narod.ru/knigi/pdf/Eugen_Paschukanis_-_Allgemeine_Rechtslehre_und_Marxismus.pdf