Nun liegt er in Bruchstücken
da, der vormalige staatliche
Geschichtsrevisionismus in Frankreich. Die
amtierenden Spitzen der Republik, allen voraus
der Staatspräsident, versuchen nur noch, das
Durchdringen von Erkenntnissen über das
Geschehene in geordnete Bahnen zu lenken, zu
kanalisieren, seine Dynamik unter Kontrolle zu
behalten. Auf dass noch ein Vierteljahrhundert
vergehe, bis Verantwortlichkeiten für
Verbrechen wirklich so klar benannt werden,
dass auch auf französischem Boden jemand zur
Rechenschaft gezogen werden könnte – für den
unwahrscheinlichen Fall, dass dann noch jemand
von den Schuldigen am Leben ist.
Vor nunmehr 25 Jahren fand
der letzte, durch die Vereinten Nationen als
solcher anerkannte Völkermord statt. 800.000
bis eine Million Menschen, überwiegend
Angehörige der – rund 15 Prozent der
Gesamtbevölkerung ausmachenden –
Bevölkerungsgruppe der Tutsi, wurden vom 07.
April bis Anfang Juli 1994 in Rwanda planmäßig
ermordet. Beteiligt daran waren Einheiten der
Armee oder FAR (Forces armées rwandaises),
die Verwaltungsbürokratie in einer Mehrheit der
Präfekturen des Landes, aber auch Milizen, die
in den drei bis vier Jahren zuvor aufgestellt
worden waren. Ihre Angehörigen beriefen sich
auf das Hutu Power-Konzept, einen
rassistischen Nationalismus, der sich auf die
angeblichen Interessen der insgesamt 85 Prozent
der Wohnbevölkerung ausmachenden Gruppe der
Hutu berief. Bekannt wurden die Milizen, deren
Angehörige meist eine nur rudimentäre
militärische Ausbildung besaßen, unter dem
Namen Interahamwe („Die zusammen
kämpfen“).
In ihrem Gefolge, und
angestachelt durch die mehr und mehr
eliminatorische Züge annehmende Hasspropaganda
in Rundfunksendern wie Radio Mille Collines
– „Radio Tausend Hügel“, unter Anspielung
auf die inoffizielle Landesbezeichnung Rwandas
als „Land der tausend Hügel“ -, beteiligten
sich auch zahlreiche Zivilisten in einer Art
Mordrausch an dem massenhaften Töten.
Schätzungen zufolge wurden rund 50 Prozent der
Opfer mit Macheten getötet, 30 Prozent mit
traditionellen Waffen oder mit Nägeln
durchsetzten Holzknüppeln, und rund 20 Prozent
bei kollektiven Massakern mit Schusswaffen und
Granaten.
Ermöglicht hatte eine solche
Mordorgie eine Rassenideologie, an deren
Entstehung die deutsche Kolonialmacht seit den
1890er Jahren – die heutigen Nachbarländer
Rwanda und Burundi zählten bis zum Ersten
Weltkrieg zusammen mit Tansania
„Deutsch-Ostafrika“, bevor sie am Ausgang des
Krieges dem „Belgisch-Kongo“ zugeschlagen
wurden -, ab 1918/19 dann die Belgier
maßgeblich beteiligt waren. Beide glaubten, in
Rwanda mit den Hutu und Tutsi zwei „Rassen“
vorzufinden. In Wirklichkeit handelte es sich
um eine Art sozialer Kasten, die jedoch
durchlässig waren: Tutsi waren Viehbesitzer,
Hutu Ackerbauern. Wer groß gewachsen und ein
guter Krieger war, konnte in den Adel
aufsteigen und dadurch zum Tutsi werden. Die
europäischen Kolonialmächte glaubten jedoch an
die Existenz einer großwüchsigen Rasse, die aus
dem Nahen Osten eingewandert sei und eine
weniger intelligente, kleinere und
dunkelhäutige Urbevölkerung unterworfen hatte.
Dies war wissenschaftlich barer Unsinn, schien
jedoch damit zu korrespondieren, dass die Tutsi
oft größer waren, denn ihre körperlichen
Merkmale hatten ihnen zum Aufstieg in den
Kriegeradel verholfen, und ihre Familien waren
durch den Zugang zu Milch und Fleisch besser
ernährt. In späteren sozialen und politischen
Krisen entstand daraus eine Ideologie, die sich
auf die Formel „Die Tutsi, eine fremde Rasse,
sind unser Unglück“ bringen ließ und sich
erstmals 1959 unter Massakern noch unter
belgischer Kolonialherrschaft niederschlug.
Frankreich spielte beim
Genozid 1994 eine Schlüsselrolle, denn dessen
damaliger Präsident François Mitterrand war
überzeugt davon, die französische
Einflusssphäre in Afrika retten zu müssen,
indem er der rwandischen Regierung vor dem und
bis zum Völkermord militärischen sowie
politischen Beistand leistete. Mitterrand,
dessen erstes Regierungsamt 1950/51 das des
„Übersee-“, also Kolonialministers war, dachte
bis zuletzt vollständig in kolonialpolitischen
Schnittmustern. Ab dem 1. Oktober 1990 griff
die Rwandan patriotic front
(RPF), die jetzige Regierungspartei, vom
englischsprachigen Nachbarland Uganda aus Ziele
auf rwandischem Territorium an. Die RPF
basierte auf Tutsi, deren Familien infolge von
Massakern 1959 und abermals 1963 aus Rwanda
geflohen waren. Mitterrand und seine
militärischen Berater, an führender Stelle die
Generäle Lanxade, Huchon und Lafourcade,
mutmaßten eine Verschwörung zur Einnahme des
französischen „Hinterhofs“ auf dem
afrikanischen Kontinent. Aber 1994, als die
wichtigsten Entscheidungen zu Rwanda fielen,
herrschte in Frankreich eine cohabitation,
also das Nebeneinander eines Staatspräsidenten
und einer vom Parlament gestützten Regierung
aus unterschiedlichen politischen Lagern.
Mitterrand, in Wirklichkeit ein
Hauptprotagonist französischer
Staatskriminalität in den letzten Jahrzehnten –
von seiner Rolle im Algerienkrieg bis zu jener
in Rwanda – galt als „Sozialist“,
Premierminister war der Konservative Edouard
Balladur. Die bürgerliche Regierungsmehrheit
trug das Vorgehen mit, die
Schlüsselentscheidungen fielen jedoch im
Elyséepalast.
Zehn bis fünfzehn Jahre nach
dem Völkermord von 1994 hielt sich in
Frankreich die staatsoffizielle Behauptung, in
Rwanda hätten die Angehörigen der Hutu-Mehrheit
mit spontanen Ausschreitungen – die sich dann
eventuell bis zu Massakern ausgeweitet hätten –
darauf reagiert, dass ihr Präsident, Juvénal
Habyarimana, am 6. April 1994 ermordet wurde.
An jenem Tag war das Präsidentenflugzeug im
Himmel über Kigali abgeschossen worden.
Kriminologisch ist der Tathergang nicht genau
geklärt, Beweise wurden längst vernichtet. Je
nach politischem Standort wurden die RPF oder
Hutu-Extremisten beschuldigt, nach vorliegenden
Indizien ist die letztere Spur
wahrscheinlicher. In jedem Falle jedoch ist es
blanker Unfug, zu behaupten, durch den Tod des
Präsidenten seien spontane Racheakte ausgelöst
worden. Rwanda hatte auch am Tag danach noch
eine Premierministerin, Agathe Uwilingiyimana.
Die 39jährige widersetzte sich den Planern des
Völkermords, wurde jedoch am 07. April 1994
durch Hutu-Extremisten in den Reihen des
Militärs ermordet, zusammen mit zehn belgischen
Blauhelmsoldaten, die zu ihrem Schutz
abgestellt waren. Es fand also ein Putsch
statt, der aus dem Inneren des Regimes kam, aus
jenem Flügel, dem Habyarimana längst als
unzuverlässig galt und dessen Anhänger
losschlagen wollten. An den darauffolgenden
Tagen wurde die „rwandische Interimsregierung“
GIR gebildet, und zwar in den Räumen der
französischen Botschaft und unter den Fittichen
des Botschafters. GIR-Vertreter wurden Mitte
Mai 1994 in Paris empfangen, wo über
Waffenkäufe mit ihnen verhandelt wurde, während
das Land weltweit unter Embargo stand.
Aber ab den
späten Neunziger Jahren ermittelt in Frankreich
ein wildgewordener konservativer
Untersuchungsrichter – und späterer
Abgeordneter ab 2007 -, Jean-Louis Bruguière,
gegen amtierende Regierungspolitiker der RPF in
Rwanda, also jener Partei, die dem Genozid
durch die militärische Einnahme von Kigali im
Juli 1994 ein Ende setzte. Seinen Ermittlungen
lag die Behauptung zugrunde, die RPF habe die
Präsidentenmaschine abgeschossen und dadurch
sämtliche nachfolgenden Massaker ausgelöst.
Heute ist festzustellen,
dass in Frankreich beinahe niemand, außer etwa
Mitterrands damaligem Berater, dem späteren
Außenminister (1997 bis 2002) Hubert Védrine,
heute noch Vergleichbares zu behaupten wagt.
Emmanuel Macron, selbst biographisch beim Thema
Rwanda nicht belastet – während des Völkermords
war er 16 -, hat eine Öffnung der bislang
verschlossenen Archive in Frankreich
angekündigt. Allerdings eine wohl dosierte: Ihr
Inhalt soll nicht der breiten Öffentlichkeit
zugänglich gemacht werden, sondern einer noch
zu bildenden Historikerkommission unter dem
Vorsitz von Vincent Duclert, der zum Konzept
des Genozids forschte. Allerdings wurde Ende
März dieses Jahres auch bekannt, dass zwei
renommierte Forschungspersönlichkeiten mit
Spezialkenntnissen zu der Region in
Zentralostafrika, Stéphane Audoin-Rouzeau und
Hélène Dumas, von der Kommission ausgeschlossen
bleiben sollen.
Emmanuel Macron schlug die
Einladung aus, an dem feierlich begangenen
Jahrestag zur 25. Wiederkehr des
Völkermordbeginns am ersten Aprilsonntag in
Kigali teilzunehmen. Stattdessen sandte er
einen Abgeordneten der Regierungspartei LREM
dort hin, Hervé Berville. Dieser war selbst als
fünfjähriger Waise 1994 aus Rwanda evakuiert
und durch eine französische Gastfamilie
adoptiert worden. Berville fragte allerdings
aus eigenem Antrieb vor seiner Abreise um einen
Termin für ein Treffen bei der
Nichtregierungsorganisation Survie
an. Survie („Überleben“), ursprünglich als
linkskatholische Hilfsorganisation für Afrika
entstanden, führt seit den neunziger Jahren
einen dezidiert politischen Kampf gegen
französischen Neokolonialismus in Afrika, gegen
Rohstoffraub – und gegen die Verleugnung der
französischen schuldhaften Verstrickung in den
Völkermord in Rwanda.
Mitte März d.J. äußerte sich
auch ein früherer französischer Militär im
Rwanda-Einsatz, der mittlerweile 84jährige
pensionierte General Jean Varret, in der
Öffentlichkeit kritisch gegenüber den damaligen
Entscheidungsträgern. 1990 habe der damalige
Generalstabschef der Gendarmerie Rwandas –
deren Ausbildung die französischen Streitkräfte
übernommen hatten –, Pierre-Célestine
Rwagafilita, ihm gegenüber erklärt, man brauche
schwere Waffen, um auf schnelle Weise das
Tutsi-Problem zu lösen: „Die Tutsi sind
nicht sehr zahlreich, wir werden sie
liquidieren.“ Varret fügte im Interview
mit der linken Internetzeitung Mediapart
hinzu, er habe damals die höchsten
Stellen in Paris informiert. Seine Warnungen
seien jedoch in den Wind geschlagen, er selbst
vom Dienst vor Ort in Rwanda abgelöst worden.
Die liberale Pariser
Abendzeitung Le Monde, in deren
Spalten man noch 2014 – zum zwanzigsten
Jahrestag – pluralistisch über die „beiden
Thesen“ zur Genese des Genozids diskutieren
mochte, publizierte am 06. April dieses Jahres
einen scharfen Leitartikel. Darin steht zu
lesen: „Die Idee zu akzeptieren, dass
Frankreich fünfzig Jahre nach der Shoah von
nahe oder von ferne in einen Völkermord
verstrickt war“, liege nicht „im
Geist der Zeit“, doch „sich
dieser Idee zu öffnen, wird für den
Elysée-Palast und die Historikerkommission
nötig sein“.
Editorischer
Hinweis
Wir erhielten
den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.
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