Zum 25. Jahrestag des Beginns eines Genozids
Rwanda und die französische Rolle beim Völkermord von 1994

von Bernard Schmid

5-6/2019

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Nun liegt er in Bruchstücken da, der vormalige staatliche Geschichtsrevisionismus in Frankreich. Die amtierenden Spitzen der Republik, allen voraus der Staatspräsident, versuchen nur noch, das Durchdringen von Erkenntnissen über das Geschehene in geordnete Bahnen zu lenken, zu kanalisieren, seine Dynamik unter Kontrolle zu behalten. Auf dass noch ein Vierteljahrhundert vergehe, bis Verantwortlichkeiten für Verbrechen wirklich so klar benannt werden, dass auch auf französischem Boden jemand zur Rechenschaft gezogen werden könnte – für den unwahrscheinlichen Fall, dass dann noch jemand von den Schuldigen am Leben ist.

Vor nunmehr 25 Jahren fand der letzte, durch die Vereinten Nationen als solcher anerkannte Völkermord statt. 800.000 bis eine Million Menschen, überwiegend Angehörige der – rund 15 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachenden – Bevölkerungsgruppe der Tutsi, wurden vom 07. April bis Anfang Juli 1994 in Rwanda planmäßig ermordet. Beteiligt daran waren Einheiten der Armee oder FAR (Forces armées rwandaises), die Verwaltungsbürokratie in einer Mehrheit der Präfekturen des Landes, aber auch Milizen, die in den drei bis vier Jahren zuvor aufgestellt worden waren. Ihre Angehörigen beriefen sich auf das Hutu Power-Konzept, einen rassistischen Nationalismus, der sich auf die angeblichen Interessen der insgesamt 85 Prozent der Wohnbevölkerung ausmachenden Gruppe der Hutu berief. Bekannt wurden die Milizen, deren Angehörige meist eine nur rudimentäre militärische Ausbildung besaßen, unter dem Namen Interahamwe („Die zusammen kämpfen“).

In ihrem Gefolge, und angestachelt durch die mehr und mehr eliminatorische Züge annehmende Hasspropaganda in Rundfunksendern wie Radio Mille Collines – „Radio Tausend Hügel“, unter Anspielung auf die inoffizielle Landesbezeichnung Rwandas als „Land der tausend Hügel“ -, beteiligten sich auch zahlreiche Zivilisten in einer Art Mordrausch an dem massenhaften Töten. Schätzungen zufolge wurden rund 50 Prozent der Opfer mit Macheten getötet, 30 Prozent mit traditionellen Waffen oder mit Nägeln durchsetzten Holzknüppeln, und rund 20 Prozent bei kollektiven Massakern mit Schusswaffen und Granaten.

Ermöglicht hatte eine solche Mordorgie eine Rassenideologie, an deren Entstehung die deutsche Kolonialmacht seit den 1890er Jahren – die heutigen Nachbarländer Rwanda und Burundi zählten bis zum Ersten Weltkrieg zusammen mit Tansania „Deutsch-Ostafrika“, bevor sie am Ausgang des Krieges dem „Belgisch-Kongo“ zugeschlagen wurden -, ab 1918/19 dann die Belgier maßgeblich beteiligt waren. Beide glaubten, in Rwanda mit den Hutu und Tutsi zwei „Rassen“ vorzufinden. In Wirklichkeit handelte es sich um eine Art sozialer Kasten, die jedoch durchlässig waren: Tutsi waren Viehbesitzer, Hutu Ackerbauern. Wer groß gewachsen und ein guter Krieger war, konnte in den Adel aufsteigen und dadurch zum Tutsi werden. Die europäischen Kolonialmächte glaubten jedoch an die Existenz einer großwüchsigen Rasse, die aus dem Nahen Osten eingewandert sei und eine weniger intelligente, kleinere und dunkelhäutige Urbevölkerung unterworfen hatte. Dies war wissenschaftlich barer Unsinn, schien jedoch damit zu korrespondieren, dass die Tutsi oft größer waren, denn ihre körperlichen Merkmale hatten ihnen zum Aufstieg in den Kriegeradel verholfen, und ihre Familien waren durch den Zugang zu Milch und Fleisch besser ernährt. In späteren sozialen und politischen Krisen entstand daraus eine Ideologie, die sich auf die Formel „Die Tutsi, eine fremde Rasse, sind unser Unglück“ bringen ließ und sich erstmals 1959 unter Massakern noch unter belgischer Kolonialherrschaft niederschlug.

Frankreich spielte beim Genozid 1994 eine Schlüsselrolle, denn dessen damaliger Präsident François Mitterrand war überzeugt davon, die französische Einflusssphäre in Afrika retten zu müssen, indem er der rwandischen Regierung vor dem und bis zum Völkermord militärischen sowie politischen Beistand leistete. Mitterrand, dessen erstes Regierungsamt 1950/51 das des „Übersee-“, also Kolonialministers war, dachte bis zuletzt vollständig in kolonialpolitischen Schnittmustern. Ab dem 1. Oktober 1990 griff die Rwandan patriotic front (RPF), die jetzige Regierungspartei, vom englischsprachigen Nachbarland Uganda aus Ziele auf rwandischem Territorium an. Die RPF basierte auf Tutsi, deren Familien infolge von Massakern 1959 und abermals 1963 aus Rwanda geflohen waren. Mitterrand und seine militärischen Berater, an führender Stelle die Generäle Lanxade, Huchon und Lafourcade, mutmaßten eine Verschwörung zur Einnahme des französischen „Hinterhofs“ auf dem afrikanischen Kontinent. Aber 1994, als die wichtigsten Entscheidungen zu Rwanda fielen, herrschte in Frankreich eine cohabitation, also das Nebeneinander eines Staatspräsidenten und einer vom Parlament gestützten Regierung aus unterschiedlichen politischen Lagern. Mitterrand, in Wirklichkeit ein Hauptprotagonist französischer Staatskriminalität in den letzten Jahrzehnten – von seiner Rolle im Algerienkrieg bis zu jener in Rwanda – galt als „Sozialist“, Premierminister war der Konservative Edouard Balladur. Die bürgerliche Regierungsmehrheit trug das Vorgehen mit, die Schlüsselentscheidungen fielen jedoch im Elyséepalast.

Zehn bis fünfzehn Jahre nach dem Völkermord von 1994 hielt sich in Frankreich die staatsoffizielle Behauptung, in Rwanda hätten die Angehörigen der Hutu-Mehrheit mit spontanen Ausschreitungen – die sich dann eventuell bis zu Massakern ausgeweitet hätten – darauf reagiert, dass ihr Präsident, Juvénal Habyarimana, am 6. April 1994 ermordet wurde. An jenem Tag war das Präsidentenflugzeug im Himmel über Kigali abgeschossen worden. Kriminologisch ist der Tathergang nicht genau geklärt, Beweise wurden längst vernichtet. Je nach politischem Standort wurden die RPF oder Hutu-Extremisten beschuldigt, nach vorliegenden Indizien ist die letztere Spur wahrscheinlicher. In jedem Falle jedoch ist es blanker Unfug, zu behaupten, durch den Tod des Präsidenten seien spontane Racheakte ausgelöst worden. Rwanda hatte auch am Tag danach noch eine Premierministerin, Agathe Uwilingiyimana. Die 39jährige widersetzte sich den Planern des Völkermords, wurde jedoch am 07. April 1994 durch Hutu-Extremisten in den Reihen des Militärs ermordet, zusammen mit zehn belgischen Blauhelmsoldaten, die zu ihrem Schutz abgestellt waren. Es fand also ein Putsch statt, der aus dem Inneren des Regimes kam, aus jenem Flügel, dem Habyarimana längst als unzuverlässig galt und dessen Anhänger losschlagen wollten. An den darauffolgenden Tagen wurde die „rwandische Interimsregierung“ GIR gebildet, und zwar in den Räumen der französischen Botschaft und unter den Fittichen des Botschafters. GIR-Vertreter wurden Mitte Mai 1994 in Paris empfangen, wo über Waffenkäufe mit ihnen verhandelt wurde, während das Land weltweit unter Embargo stand.

Aber ab den späten Neunziger Jahren ermittelt in Frankreich ein wildgewordener konservativer Untersuchungsrichter – und späterer Abgeordneter ab 2007 -, Jean-Louis Bruguière, gegen amtierende Regierungspolitiker der RPF in Rwanda, also jener Partei, die dem Genozid durch die militärische Einnahme von Kigali im Juli 1994 ein Ende setzte. Seinen Ermittlungen lag die Behauptung zugrunde, die RPF habe die Präsidentenmaschine abgeschossen und dadurch sämtliche nachfolgenden Massaker ausgelöst.

Heute ist festzustellen, dass in Frankreich beinahe niemand, außer etwa Mitterrands damaligem Berater, dem späteren Außenminister (1997 bis 2002) Hubert Védrine, heute noch Vergleichbares zu behaupten wagt. Emmanuel Macron, selbst biographisch beim Thema Rwanda nicht belastet – während des Völkermords war er 16 -, hat eine Öffnung der bislang verschlossenen Archive in Frankreich angekündigt. Allerdings eine wohl dosierte: Ihr Inhalt soll nicht der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, sondern einer noch zu bildenden Historikerkommission unter dem Vorsitz von Vincent Duclert, der zum Konzept des Genozids forschte. Allerdings wurde Ende März dieses Jahres auch bekannt, dass zwei renommierte Forschungspersönlichkeiten mit Spezialkenntnissen zu der Region in Zentralostafrika, Stéphane Audoin-Rouzeau und Hélène Dumas, von der Kommission ausgeschlossen bleiben sollen.

Emmanuel Macron schlug die Einladung aus, an dem feierlich begangenen Jahrestag zur 25. Wiederkehr des Völkermordbeginns am ersten Aprilsonntag in Kigali teilzunehmen. Stattdessen sandte er einen Abgeordneten der Regierungspartei LREM dort hin, Hervé Berville. Dieser war selbst als fünfjähriger Waise 1994 aus Rwanda evakuiert und durch eine französische Gastfamilie adoptiert worden. Berville fragte allerdings aus eigenem Antrieb vor seiner Abreise um einen Termin für ein Treffen bei der Nichtregierungsorganisation Survie an. Survie („Überleben“), ursprünglich als linkskatholische Hilfsorganisation für Afrika entstanden, führt seit den neunziger Jahren einen dezidiert politischen Kampf gegen französischen Neokolonialismus in Afrika, gegen Rohstoffraub – und gegen die Verleugnung der französischen schuldhaften Verstrickung in den Völkermord in Rwanda.

Mitte März d.J. äußerte sich auch ein früherer französischer Militär im Rwanda-Einsatz, der mittlerweile 84jährige pensionierte General Jean Varret, in der Öffentlichkeit kritisch gegenüber den damaligen Entscheidungsträgern. 1990 habe der damalige Generalstabschef der Gendarmerie Rwandas – deren Ausbildung die französischen Streitkräfte übernommen hatten –, Pierre-Célestine Rwagafilita, ihm gegenüber erklärt, man brauche schwere Waffen, um auf schnelle Weise das Tutsi-Problem zu lösen: „Die Tutsi sind nicht sehr zahlreich, wir werden sie liquidieren.“ Varret fügte im Interview mit der linken Internetzeitung Mediapart hinzu, er habe damals die höchsten Stellen in Paris informiert. Seine Warnungen seien jedoch in den Wind geschlagen, er selbst vom Dienst vor Ort in Rwanda abgelöst worden.

Die liberale Pariser Abendzeitung Le Monde, in deren Spalten man noch 2014 – zum zwanzigsten Jahrestag – pluralistisch über die „beiden Thesen“ zur Genese des Genozids diskutieren mochte, publizierte am 06. April dieses Jahres einen scharfen Leitartikel. Darin steht zu lesen: „Die Idee zu akzeptieren, dass Frankreich fünfzig Jahre nach der Shoah von nahe oder von ferne in einen Völkermord verstrickt war“, liege nicht „im Geist der Zeit“, doch „sich dieser Idee zu öffnen, wird für den Elysée-Palast und die Historikerkommission nötig sein“.


Editorischer Hinweis

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.