Zusammenfassung
in Leitsätzen

5-6/2019

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Zur Verfassungsmäßigkeit der Sozialisierung von Immobilien privater Wohnungswirtschaftsunternehmen im Land Berlin

Rechtsgutachten

erstattet im Auftrag vom BBU
Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen e.V.

von Universitätsprofessor Dr. iur. habil. Helge Sodan

Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht,
Öffentliches Wirtschaftsrecht und Sozialrecht
an der Freien Universität Berlin

Präsident des Verfassungsgerichtshofes des Landes Berlin a. D.


Berlin, im März 2019

[S.102-108]

Wesentliche Ergebnisse der gesamten Untersuchung lassen sich in Leitsätzen wie folgt zusammenfassen:

1. In Berlin hat sich eine Initiative gebildet, die ein Volksbegehren mit dem plakativen Namen „Deutsche Wohnen & Co. enteignen" durchfuhren möchte. Der Beschlusstext des Volksbegehrens wurde am 23. November 2018 an die Senatsverwaltung für Inneres und Sport gesandt, versehen mit dem Antrag auf Einleitung der amtlichen Kostenschätzung. Der Beschlusstext fordert den „Senat von Berlin zur Erarbeitung eines Gesetzes zur Überführung von Immobilien sowie Grund und Boden in Gemeineigentum zum Zwecke der Vergesellschaftung nach Art. 15 Grundgesetz" auf. Damit wird der Übergang des Eigentums an den Wohnungen bzw. den Grundstücken angestrebt, und zwar auf eine in der Zukunft zur Verwaltung des sozialisierten Wohnungsbestandes zu gründende Anstalt des öffentlichen Rechts. Die Satzung der Anstalt soll eine Regelung enthalten, wo­nach der Bestand nicht privatisiert werden darf.

2. Unstreitig ist der Sache nach, dass eine Vergesellschaftung erhebliche Ent­schädigungen auslösen würde. Die prognostizierten Entschädigungshöhen diver­gieren dabei stark: Die Initiatoren beziffern die Kosten auf zwischen 7,3 und 13,7 Milliarden Euro. Vorsichtige Schätzungen vom BBU Verband Berlin-Branden­burgischer Wohnungsunternehmen e.V. gehen von 25 Milliarden Euro aus. Nach der amtlichen Kostenschätzung der Senatsverwaltung für Inneres und Sport sind allein für die Entschädigungen 28,8 bis 36 Milliarden Euro erforderlich.

3. Die Vergesellschaftung von Grund und Boden ist in Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes zugeordnet. Die Erforderlich­keit einer bundesgesetzlichen Regelung, wie die Subsidiaritätsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG sie voraussetzt, ließe sich unter Verweis auf die Entwicklung der Lebensverhältnisse in den Ballungsgebieten der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich zu derjenigen in ländlichen Gebieten begründen. Der Bund hat eine Reihe von gesetzgeberischen Maßnahmen getroffen, deren Zielrichtungen sich mit denjenigen der Vergesellschaftung decken. Dass der Bund allerdings durch bestimmte Vorschriften oder das absichtsvolle Unterlassen der Regelung einer Vergesellschaftung abschließend Gebrauch von seiner Kompetenz gemacht hat, ist nicht zu erkennen. Die Zuständigkeit för den Erlass des Gesetzes zur Vergesellschaftung von Grund und Boden liegt also gemäß Art. 70 Abs. 1 GG beim Land Berlin.

4. Gemäß Art. 15 S. 1 GG können Grund und Boden, Naturschätze und Pro­duktionsmittel zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden. Nach Satz 2 gelten für die Entschädigung Art. 14 Abs. 3 S. 3 und 4 GG entsprechend. Rechtssichere Aussagen zu den Voraussetzungen einer Vergesellschaftung gemäß Art. 15 GG zu treffen, ist mit der besonderen Schwierigkeit verbunden, dass ausschließlich auf Literatur zu­rückgegriffen werden kann. Da der Bund bislang kein Gesetz im Sinne des Art. 15 GG auf der Grundlage des Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG erlassen hat, liegt insofern auch keine verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zu einer konkreten Sozialisierung vor.

5. Art. 15 GG setzt Individualeigentum als Einrichtung der Privatrechts- und Wirtschaftsordnung voraus und steht in einem nicht umkehrbaren Regel-Ausnahme Verhältnis zu Art. 14 GG. Das Bundesverfassungsgericht bezeichnete die Sozialisierung als eine der „traditionellen Beschränkungen des Eigentums". Art. 15 GG beinhaltet ein zwar eng mit der Enteignung verbundenes, aber den­noch eigenständiges Rechtsinstitut, das sich in Voraussetzungen, Formtypik und Zielsetzung von der Enteignung unterscheidet. Einen „Verfassungsauftrag zur Sozialisierung" oder gar eine objektive Wertentscheidung zugunsten einer Sozia­lisierung entnimmt das Bundesverfassungsgericht dem Art. 15 GG nicht. Neben der Ermächtigung zur Vergesellschaftung enthält Art. 15 GG ein Abwehrrecht von Eigentümern gegen eine Sozialisierung, die andere als die in der Norm genannten Produktionsmittel betrifft oder die durch Art. 15 GG aufgestellten Voraussetzungen nicht erfüllt. Weil Art. 15 GG eine Rechtfertigungsmöglichkeit für Eingriffe in das Grundrecht der Eigentumsfreiheit enthält, wird die Norm überwiegend als Teil der Schrankensystematik zu Art. 14 GG angesehen. Als Beschränkung des Eigentumsrechts ist die Sozialisierung demnach an der Gewährleistung des Eigentums in Art. 14 GG zu messen.

6. Mit Art. 14 trifft das Grundgesetz eine grundlegende Wertentscheidung zugunsten des Privateigentums. Eigentumsfähig im Sinne des Art. 14 GG sind alle konkreten, Vermögenswerten Rechtspositionen, die dem Einzelnen als Aus­schließlichkeitsrechte zur privaten Nutzung und zur eigenen Verfügung zugeord­net sind. Dies gilt unabhängig davon, ob es sich um dingliche oder sonstige absolute, d. h. gegenüber jedem wirkende Rechte oder um relative Rechtspositio­nen handelt. Was von der Eigentumsfreiheit zu einem bestimmten Zeitpunkt konkret geschützt ist, ergibt sich aus einer Gesamtbetrachtung der „einfachen" Gesetze, die den Inhalt des Eigentums bestimmen.

7. Das Gesetz zur Vergesellschaftung von Grund und Boden sähe die Verge­sellschaftung von Wohnungen und Grundstücken vor. Indem eine Schwelle von 3.000 Wohnungen für den Anwendungsbereich des Gesetzes gelten soll, würde es überwiegend auf Unternehmen abzielen, die sich auf die Vermietung und Bewirt­schaftung von Wohnraum spezialisiert haben. Das Eigentum der Unternehmen an den Grundstücken wird durch das bürgerliche Recht und damit durch die Ausge­staltung der „einfachen" Gesetze den Unternehmen ausschließlich zur privaten Nutzung zugewiesen. Damit handelt es sich bei den Grundstücken mitsamt der Wohnimmobilien um Eigentum im Sinne des Art. 14 GG.

8. Das Gesetz zur Vergesellschaftung von Grund und Boden soll nach dem Beschlusstext der Initiative das Eigentum an Wohnungen und Grundstücken in das Eigentum einer zur Verwaltung des Bestandes zu gründenden Anstalt des öffentlichen Rechts übertragen. Die sich daraus ergebende Vergesellschaftung würde die grundrechtlich durch Art. 14 GG gewährleistete Freiheit privater Wohnungswirtschaftsunternehmen final, rechtsförmig und unmittelbar einschrän­ken, so dass sie einen Eingriff in das Grundrecht der Eigentumsfreiheit darstellte.

9. Art. 15 S. 1 GG verlangt für die Vergesellschaftung von Grund und Boden eine gesetzliche Regelung, die Art und Ausmaß der Entschädigung bestimmt. Anders als beispielsweise eine Enteignung gemäß Art. 14 Abs. 3 GG kann die Sozialisierung also nicht auf der Grundlage eines Gesetzes, sondern ausschließ­lich durch ein Gesetz erfolgen. Die Junktimklausel dient folgenden beiden Zwe­cken: Sie wirkt zunächst grundrechtssichernd; der Eigentümer soll einer Enteig­nung nur dann ausgesetzt sein, wenn der Gesetzgeber auch umfassend über die Entschädigung entschieden hat. Des Weiteren schützt die Junktimklausel die Haushaltsprärogative des Gesetzgebers; dieser soll vor unvorhergesehenen Belas­tungen des Staatshaushalts bewahrt werden.

10. Bei den Grundstücken sowie den darauf errichteten Wohnimmobilien, die nach den Vorstellungen der Initiative von der Vergesellschaftung betroffen sein sollen, handelt es sich nicht um sozialisierungsfähige Güter. Zwar eröffnet Art. 15 S. 1 GG die Möglichkeit zur Vergesellschaftung von Grund und Boden, so dass prinzipiell Grundstücke und darauf befindliche Immobilien erfasst sind. Der enge Anwendungsbereich des Begriffs Produktionsmittel fuhrt jedoch dazu, dass das Merkmal Grund und Boden teleologisch zu reduzieren ist. Aus dem Umstand, dass eine Vergesellschaftung der in Rede stehenden Wohnimmobilien als Produktionsmittel unzulässig ist, folgt eine Sperrwirkung für die Anwendung des Merkmals Grund und Boden. Weil die mit Wohnimmobilien bebauten Grundstücke keine vergesellschaftungsfähigen Güter darstellen, wäre eine Sozialisierung
der Grundstücke unzulässig.

11. Das angestrebte Gesetz zur Vergesellschaftung von Grund und Boden in Berlin wäre unverhältnismäßig. Fragwürdig ist schon, ob hinter der Vergesell­schaftung ein legitimer Zweck stünde. Durch diese Maßnahme würde das Woh­nungsangebot in keiner Weise ausgeweitet. Lediglich den jetzigen Mietern würde ein anderer, nämlich staatlicher Vermieter gegenübergestellt.

12. Nähme man diese Prämisse dennoch an, wäre eine Sozialisierung aber nicht erforderlich. Mildere Mittel, welche mit gleicher Effektivität die Grund­rechtsträger weniger stark belasteten, sind durchaus ersichtlich. Ein solches Mittel wäre etwa der rechtsgeschäftliche Erwerb der Grundstücke mitsamt den darauf befindlichen Immobilien. Ein Versuch des rechtsgeschäftlichen Erwerbs der Immobilien von bis zu zehn Unternehmen als Vertragspartnern wäre dabei zu­mutbar. Ferner steht den Bezirken insbesondere zur Erhaltung der Zusammenset­zung der Wohnbevölkerung die Möglichkeit offen, über sogenannte Erhaltungs­verordnungen (vgl. § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BauGB) im Interesse des „Milieu­schutzes" den Rückbau, die Änderung oder die Nutzungsänderung baulicher Anlagen einer Genehmigungspflicht zu unterwerfen. Hierdurch können die umgangssprachlich als „Luxussanierungen" bezeichneten und für einen sprung­haften Anstieg der Mieten ursächlich gemachten Änderungen beschränkt und Mieter vor dem Verlust ihrer Wohnungen geschützt werden. Selbst wenn man annähme, dass sich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit lediglich auf die nähere Ausgestaltung der Vergesellschaftung bezöge, wäre diese in ihrer konkre­ten Form nicht erforderlich. Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb einigen weni­gen Grundrechtsträgern die gewährleistete Freiheit durch Verlust des Eigentums an allen Grundstücken entzogen werden sollte.

13. Schließlich wäre das Gesetz nicht verhältnismäßig im engeren Sinne. Die Gemeinwohlgründe könnten den schwerwiegenden Eingriff nicht rechtfertigen. Der Entziehung aller Grundstücke der betroffenen Unternehmen stünde unmittel­bar lediglich das Interesse derzeitiger Mieter entgegen. Das Interesse der Allge­meinheit hingegen wäre nur von sekundärer Bedeutung. Deshalb griffe die Ver­gesellschaftung unzumutbar in das Grundrecht der Eigentumsfreiheit privater Wohnungswirtschaftsunternehmen ein.

14. Art. 3 Abs. 1 GG enthält als Positivierung der grundlegenden Gerechtig­keitsidee der Gleichheit vor dem Gesetz ein allgemeines Gebot der Gleichbe­handlung der Grundrechtsträger seitens der Staatsgewalt. Durch die Beschrän­kung des Anwendungsbereichs auf Unternehmen mit Gewinnerzielungsabsicht, das Erfordernis einer bestimmten Anzahl von Wohnungen und den Ausnahmetat­bestand läge im Falle des Gesetzes zur Vergesellschaftung von Grund und Boden jeweils eine Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem vor. Rechtfertigen ließe sich insoweit nur die Ungleichbehandlung von Unternehmen, die mit und solchen, die ohne Gewinnerzielungsabsicht wirtschaften. Für eine durch den Gesetzgeber gezogene Schwelle von 3.000 Wohnungen, die über den Anwendungsbereich des Gesetzes entscheiden soll, ist jedoch kein sachliches Kriterium ersichtlich. Stellt man auf ein gestiegenes Gefahrpotenzial ab, das sich im Ver­hältnis zum einzelnen Mieter aus der Größe eines Vermieters ergeben könnte, müsste dieses zum einen zahlenmäßig belegt werden; zum anderen wäre der Ausnahmetatbestand zugunsten bestimmter großer Unternehmen nicht zu recht­fertigen. Ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG läge also vor.

15. Nach den Vorstellungen der Initiative soll die für die Vergesellschaftung zu leistende Entschädigungssumme zu 20 % durch das Land Berlin über eine Eigenkapitaleinlage in die zu gründende Anstalt des öffentlichen Rechts gedeckt werden; für die restlichen 80 % ist eine Finanzierung aus den Mitteln der Anstalt vorgesehen, wobei für hierfür notwendige Kredite das Land Berlin gegebenen­falls Bürgschaften leisten soll. Die Senatsverwaltung für Inneres und Sport geht unter Berücksichtigung der weiteren einmaligen Kosten von einer Summe von rund sechs bis acht Milliarden Euro für die vom Land Berlin über den Landes­haushalt zu leistende Eigenkapitaleinlage aus. Ob das Land Berlin in der Lage wäre, diese Summe aufzubringen, dürfte sehr zweifelhaft sein. Noch größere Probleme ergäben sich, wenn dem Land Berlin die von der Anstalt in einer Höhe von 23 bis 28,8 Milliarden Euro aufgenommenen Kredite zugerechnet würden. Die Einhaltung der grundgesetzlichen Vorgaben für die in Art. 109 Abs. 3 S. 1 und 5 GG geregelte sogenannte Schuldenbremse, an die der Haushaltsgesetzgeber ab dem Haushaltsjahr 2020 (vgl. Art. 143d Abs. 1 S. 4 GG) gebunden ist, und die Aufstellung eines verfassungsgemäßen Haushalts dürften dem Land Berlin dann unmöglich sein.

16. Gemäß Art. 142 GG bleiben Bestimmungen der Landesverfassungen un­geachtet der Vorschrift des Art. 31 GG („Bundesrecht bricht Landesrecht") auch insoweit in Kraft, als sie in Übereinstimmung mit den Art. 1 bis 18 GG Grund­rechte gewährleisten. In Art. 23 Abs. 1 VvB wird das Eigentum gewährleistet; sein Inhalt und seine Schranken ergeben sich aus den Gesetzen. Der Wortlaut dieser Gewährleistung stimmt im Wesentlichen mit demjenigen des Art. 14 Abs. 1 GG überein. Deshalb spricht der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin von einer gegenüber Art. 14 Abs. 1 S. 1 „inhaltsgleichen Eigentumsge­währleistung ".

17. Soweit ein Bundesgrundrecht nicht den Normbefehl enthält, einen weiter­reichenden Schutz der grundgesetzlich gewährleisteten Freiheit zu unterlassen, gelten die Landesgrundrechte fort, die einen höheren Schutz vermitteln. Aufgrund der bundesrechtlichen Eingriffsermächtigung des Art. 15 GG stellt die Eigen­tumsfreiheit des Art. 14 GG im Verhältais zu der entsprechenden Gewährleistung der Verfassung von Berlin, die eine Ermächtigung zur Vergesellschaftung nicht enthält, das engere Grundrecht dar. Art. 14 GG lässt aber - auch in Verbindung mit Art. 15 GG - in keiner Weise erkennen, dass ein weitergehender Schutz des Eigentums zu unterlassen ist. Der Umstand, dass die Verfassung von Berlin eine Bestimmung wie Art. 15 GG nicht enthält, hindert den Landesgesetzgeber -soweit er nicht Bundesrecht umsetzt - daran, eine Vergesellschaftung im Land Berlin zu regeln. Ein Rückgriff auf die Ermächtigung in Art. 15 S. 1 GG ist durch die verfassungsmäßige Begrenzung der Landesstaatsgewalt ausgeschlossen.

18. Selbst wenn aber dem Landesgesetzgeber grundsätzlich die Möglichkeit einer Vergesellschaftung von Grund und Boden eröffnet wäre, müssten hier die Erwägungen zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auf die Verfassung von Berlin übertragen werden. Eine Sozialisierung wäre danach auch nach Landes­recht unverhältnismäßig und verstieße gegen die in Art. 23 Abs. 1 S. 1 VvB gewährleistete Eigentumsfreiheit privater Wohnungswirtschaftsunternehmen.

19. Gemäß Art. 28 Abs. 1 S. 1 VvB hat jeder Mensch das Recht auf ange­messenen Wohnraum. Bei dieser Norm handelt es sich nach der ganz herrschen­den Meinung allerdings nicht um ein Grundrecht, sondern um eine Staatszielbe­stimmung. Der in Art. 28 Abs. 1 S. 2 VvB enthaltene „Verfassungsauftrag" präzisiert das Staatsziel, indem es dort heißt, dass das Land Berlin die Schaffung und Erhaltung von angemessenem Wohnraum fordert, insbesondere für Men­schen mit geringem Einkommen, sowie die Bildung von Wohnungseigentum. Aus dieser Bestimmung lässt sich daher kein subjektives Recht ableiten, welches etwa darauf gerichtet wäre, dass Menschen mit geringem Einkommen angemes­sener Wohnraum zur Verfügung zu stellen ist. Einen einklagbaren Anspruch vermittelt die Norm nicht, auch nicht für den Schutz vor Obdachlosigkeit. Ferner fuhren das Staatsziel und der damit verbundene Verfassungsauftrag nicht dazu, dass ein Gesetz zur Vergesellschaftung von Grund und Boden hierdurch zulässig würde.

20. Gemäß Art. 24 S. 1 VvB ist jeder Missbrauch wirtschaftlicher Macht wi­derrechtlich. Nach Art. 24 S. 2 VvB stellen insbesondere alle auf Produktions­und Marktbeherrschung gerichteten privaten Monopolorganisationen einen Miss­brauch wirtschaftlicher Macht dar und sind verboten. Auch die programmatische Norm des Art. 24 VvB enthält jedoch kein einklagbares subjektives Verfassungs­recht, sondern lediglich eine Staatszielbestimmung. Wegen der in Nutzung der Gesetzgebungskompetenz des Art. 74 Abs. 1 Nr. 16 GG abschließenden bundes­rechtlichen Regelung durch das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen ist dem Landesgesetzgeber hier aber ein Tätigwerden verwehrt. Insofern kann aus Art. 24 S. 1 VvB kein Recht abgeleitet werden, durch das die Sozialisierung zulässig oder rechtmäßig würde.

21. "Vergesellschaftungsreif' sind nach der Konzeption des Beschlusstextes Unternehmen unabhängig von ihrer Rechtsform, wenn sie mit der Vermietung von Wohnimmobilien Gewinn zu erwirtschaften suchen und ihnen mehr als 2.999 Wohnungen gehören, die zum dauerhaften Wohnen gewidmet sind oder verwen­det werden. Die Vergesellschaftungsreife wäre mit der Rechtsfolge verknüpft, dass alle Grundstücke der die Schwelle überschreitenden Unternehmen soziali­siert würden. Ausgenommen werden sollen Unternehmen im öffentlichen oder bereits kollektiven Besitz der Mieterschaft sowie gemeinwirtschaftlich verwaltete Unternehmen. Die angesetzte Schwelle von Wohnungen führt dazu, dass von dem Gesetz im Regelfall private Unternehmen betroffen sein würden, die sich auf die Bewirtschaftung von Wohnraum spezialisiert haben.

22) Gemäß Art. 15 S. 1 GG muss ein Gesetz, das die Überführung in die Ge­meinwirtschaft regelt, sowohl Art als auch Ausmaß der Entschädigung regeln. Selbst bei einer verfassungsmäßigen, also insbesondere verhältnismäßigen Sozia­lisierung muss - wie bei der Enteignung gemäß Art. 14 Abs. 3 GG - als Kompen­sation also eine Entschädigung geleistet werden. Hinsichtlich der Entschädigung verweist Art. 15 S. 2 GG auf Art. 14 Abs. 3 S. 3 und 4 GG. Gemäß Art. 14 Abs. 3 S. 4 GG steht wegen der Höhe der Entschädigung im Streitfall der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten offen. Nach Art. 14 Abs. 3 S. 3 GG ist die Entschädi­gung unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Betei­ligten zu bestimmen. Bei Art. 15 S. 2 GG handelt es sich um eine Rechtsfolgen­verweisung. Es gelten für die Bestimmung der Höhe der Entschädigung grund­sätzlich keine anderen Maßstäbe als bei der Enteignung. Bei einer Vergesell­schaftung müssen im Rahmen der Abwägung allerdings nicht nur die Interessen eines Privaten, sondern die vielfach gleichgerichteten Interessen mehrerer Priva­ter Berücksichtigung finden. Die Abwägung bei einer Enteignung kann also zu anderen Ergebnissen fuhren als diejenige bei einer Vergesellschaftung. Der Entschädigung kommt jedenfalls mehr als nur ein Billigkeitscharakter zu. Aus­gangspunkt der Abwägung ist der Verkehrswert des Objekts. Hiervon kann der Gesetzgeber allerdings abweichen, wenn Interessen der Allgemeinheit oder der Betroffenen im Einzelfall zu Besonderheiten führen. Unzulässig ist es jedoch, eine Entschädigung festzusetzen, die „deutlich unterhalb des Marktwertes" ansetzt.

Berlin, am 15. März 2019                   Universitätsprofessor Dr. Helge Sodan
 

Quelle: https://bbu.de/sites/default/files/press-releases/bbu-sodan-rechtsgutachten-2019-endfassung.pdf