Kapitaltheorie und Gemeinwirtschaft

5-6/2019

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Grundgesetz Art. 15
Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden. Für die Entschädigung gilt Artikel 14 Abs. 3 Satz 3 und 4 entsprechend.

"Gemeinwirtschaft muß, in welchen Formen auch immer, auf Gemeineigentum fußen. Ohne dies ist eine Funktionsausrichtung an den Zielen „Gesamtwirtschaft", „Bevöl­kerung" o.a. kaum denkbar, es sei denn, man dekretiert die Verfolgung privater Inter­essen und Ziele als letztlich dem Allgemeinwohl dienlich. Dies ist bekanntlich heute das Programm der Marktwirtschaftspropagandisten. Zu Ende gedacht erübrigen sich damit, die Funktionsfähigkeit des Marktwirtschaftsmodells vorausgesetzt, aber For­men gemeinwirtschaftlichen Wirtschaftens. Trotzdem bestehen sie nicht erst seit ge­stern und heute. Sie könnten also nur mit Bedingungen begründet werden, unter denen infolge eines unterentwickelten Standes der Produktivkräfte oder aus anderen Gründen kapitalistische Produktion und Kapitalverwertung bzw. private Produktion und Eigentumsverwertung nicht oder noch nicht möglich, d.h. nicht rentabel ist. So­weit eine solche Produktion für die Verwertungsfähigkeit der übrigen Kapitale unab­dingbar ist, wäre es schwierig, vom Zweck des Allgemeinwohls zu sprechen, denn es ginge ja nur um die begrenzten Interessen jener, deren Privatinteressen mit einer erfolgreichen Kapitalverwertung zusammenfallen. In diesem Sinne muß eine gemein­wirtschaftliche Charakterisierung des staatlich-öffentlichen Sektors generell hinterfragt werden, da Form und Funktion auseinanderfallen.

Freilich ragen in ihren historischen Verlängerungen Relikte realer Gemeinwirtschaft bis in den heutigen Kapitalismus und zwar soweit es gemeinsame Nutzungsrechte an Grund und Boden betrifft, die noch in der Gentilgesellschaft, also einer Gesellschaft ohne Pri­vateigentum an Grund und Boden, ihren Ursprung hatten. DieseTraditionen leben wei­ter und erstehen neu auf veränderter gesellschaftlicher Grundlage mit der kapitalisti­schen Industrialisierung im letzten Jahrhundert. Sie bilden sich zwischen traditionellen Produktionsweisen und kapitalistischer Produktion als Selbsthilfeinitiativen, Genos­senschaften usw. und beziehen sich somit auf Zwecke außerhalb des privaten Gewinn-strebens und der staatlichen Aktivität und werden von Kollektivinteressen getragen. Diese Kollektivinteressen konstitutieren sich nicht nur - und noch nicht einmal (beach­tet man die quantitativen Dimensionen) in erster Linie-in der Arbeiterklasse, sondern mehr noch bei den selbständigen Mittelschichten, den Bauern, Handwerkern, aber auch bei den verschiedenen Schichten der Bourgeoise. Genannt werden können auch tradierte Institutionen, wie die Kirchen, die ihre ökonomischen Aktivitäten und Unter­nehmen aus dem Feudalismus mitbringen und im Kapitalismus neu ordnen.

Soweit die hier eingesetzten Mittel (Ressourcen und Arbeitskräfte) der Produktion materieller Waren oder Dienste dienen oder Zirkulationsfunktionen ausüben, fungie­ren sie als Bestandteile des Gesamtkapitals der Gesellschaft."

"Das Gesamtkapital ist immer mehr als die Summe der individuellen Kapitale. Es bil­det sich mit dem Reproduktionsprozeß des Kapitels, in den auch die nichtkapitalisti­schen Produzenten (kleine Selbständige, Bauern usw.) und die Konsumenten einbezo­gen sind.

Machen wir uns klar, daß Kapital zuerst einmal als ein sich selbst verwertender Wert erscheint, als eine angehäufte Summe toter, vergegenständlichter Arbeit, die sich am Ende des Prozesses vergrößert haben muß, wenn sie verwertet sein soll. Wert entsteht aber nur dort, wo lebendige Arbeit verausgabt wird, wo die tote Arbeit durch die lebendige Arbeit in Bewegung gesetzt, also gearbeitet wird. Ein Teil des in diesem Prozeß neugeschaffenen Wertes - der Lohn - ist notwendig zur Erhaltung der Arbei­ter, als den Trägern der Arbeitskraft, und der andere Teil, der Mehrwert, dient der Vergrößerung des Kapitals. An seiner Summe und Rate mißt sich die Verwertung des Kapitals. Die Verwertung des Kapitals erfolgt somit durch die Produktion des Mehr­werts, oder anders ausgedrückt: die Ausbeutung der Lohnarbeit. Die Verwertung des Gesamtkapitals hängt von dem Gesamtmehrwert ab. Ihn zu erhö­hen, ist das grundlegende Klasseninteresse des Kapitals. Obwohl sich der Ausbeu­tungsprozeß in jedem einzelnen Betrieb vollzieht, werden seine grundlegenden Be­dingungen gesamtgesellschaftlich gesetzt, denn Lohn, Arbeitszeit usw. werden in der Hauptsache durch die gesamtgesellschaftlichen Kräfteverhältnisse bestimmt.

Das einzelne Kapital bekommt in der Regel jedoch nicht den (ganzen) Mehrwert, den es seinen Lohnarbeitern abgepreßt hat. Wäre es so, dann hätten die arbeitsinten­sivsten Branchen den höchsten und die kapitalintensivsten den niedrigsten Profit. Es muß deshalb zu einer Umverteilung über das Wirken der Konkurrenzmechanismen kommen, bei denen das Regulativ gilt: gleiches Kapital - gleicher Profit. Dies galt unter Bedingungen der freien Konkurrenz, ein Zustand, der längst durch die Herr­schaft der Monopole, die monopolistische Konkurrenz, abgelöst ist. Hier erhalten die Monopole entsprechend ihrer ökonomischen und politischen Macht einen größe­ren Profitanteil.

Wenn nun - wie es im Verlauf der kapitalistischen Entwicklung aus verschiedenen Gründen der Fall ist - das Gesamtkapital schneller wächst als der Gesamtmehrwert, dann sinkt die Durchschnittsprofitrate bzw. der Verwertungsgrad des Gesamtkapitals. Ein wichtiger Weg, dem entgegenzuwirken, ist die Begrenzung des um den vollen Profit konkurrierenden und kämpfenden Kapitals. Dies findet statt durch die Entwer­tung und Brachlegung des Kapitals. Einzelne Kapitale werden aus der vollen Konkur­renz gedrängt, müssen aber für die Füllung des „Mehrwertpotts" und das Funktionie­ren des Reproduktionsprozesses nach wie vor volle „Leistung" bringen. Dadurch können die übrigen Kapitale ihre Profitraten halten oder erhöhen.

Als solche Unternehmen, die keinen oder nur eingeschränkten Profit fordern, fun­gieren weithin die Staatsunternehmen. Sie leisten an das übrige Kapital u.a. dadurch einen realen Werttransfer, daß sie z.B. Strom oder Wasser (per Mengenrabatt für Großabnehmer) zu Preisen abgeben, die weit unter dem Wert liegen. Auf das gleiche laufen natürlich auch Subventionen, Steuernachlässe usw. hinaus, also das Herz­stück der gegenwärtigen sogenannten Angebotspolitik der Konservativen. Um teil­weise entwertetes Kapital handelt es sich auch, wenn die Preise oder Profite be­schränkt werden wie es z.B. bei Gemeinnützigkeitsbindungen der Fall ist oder sein kann.

Herrschaft des Kapitals ist letztlich immer Herrschaft des Gesamtkapitals, also ein Verhältnis der Klassenherrschaft. Obwohl es in der Realität keinen ,reinen' Kapitalismus gibt, also Produktion und Wirtschaft nicht nur über voll konkurrierende Privatkapitale abgewickelt werden - und wir haben ja gerade erläutert, weshalb andere Wirtschaftsformen aus den Widersprüchen der Kapitalverwertung und Konkurrenz immer wieder erzeugt werden müssen -, beherrscht das Kapital den Gesamtreproduktionsprozeß, ist es totalitäts- und strukturbestimmend. Die Gesetze und Widersprüche der kapitalistischen Produktion machen sich nicht nur gegenüber dem Einzelkapital über die Konkurrenz als Zwangsgesetze - oder wie wir heute sagen: als Sachzwänge - geltend, sondern sie herrschen sich auch den übrigen sozialökonomischen Sektoren der Wittschaft auf."

Leseauszug aus: Institut für marxistische Studien und Forschungen e.V. (ISMF): Informationsbericht Nr. 45, Frankfurt/M 1987, S.133-136

Nachbemerkungen zum Thema "Gemeinwirtschaft"

[khs] In den 1980er und frühen 1990er Jahren erschütterten Krisen und Skandale die bundesdeutschen Gewerkschaftsunternehmen, die in ihren Branchen zu den Marktführern gehörten und in den Jahren nach dem II. Weltkrieg mithilfe der  Mitgliedsbeiträge der Gewerkschaftsmitglieder aufgebaut und finanziert worden waren.

Übersicht über die wichtigsten Gewerkschaftsbetriebe, die angeblich nicht profitorientiert sondern nur zum Nutzen ihrer Gewerkschaftsmitglieder und der anderen Lohnabhängigen wirtschafteten.

  • Bank für Gemeinwirtschaft (BfG) - 257 Filialen bundesweit, Bilanzsumme 1984: rund 64 Milliarden DM

  • BGAG - Holding zur zentralen Steuerung der Gewerkschaftbetriebe

  • Boswau & Knauer AG - renommierter Baubetrieb der Weimarer Zeit, war in den 1960er Jahren notleidend. Die BfG finanzierte den führenden Einstieg der gewerkschaftlichen Bauhütten GmhH bei Boswau & Knauer.

  • co op AG - hervorgegangen aus dem Zusammenschluss von 110 lokalen und regionalen Einkaufgenossenschaften, unter deren Dach agierten dann u.a.: Supermärkte und SB-Warenhäuser wie "Bolle" und "plaza" aber auch Drogeriemärkte und Haushaltswarengeschäfte

  • Gut-Reisen - 1969 von den deutschen Gewerkschaften mithilfe ihrer BfG gegründet, bereits wegen erheblicher Verluste 1977 (!) an Neckermann verkauft

  • Neue Heimat - Wohnungs- und Städtebaukonzern mit 270.000 Wohnungen

  • Volksfürsorge AG - Ein Unternehmen für Vorsorge- und Finanzprodukte, 1913 von  Gewerkschaften und Konsumgenossenschaften gegründet und 1988 an die Aachener und Münchener Beteiligungsgesellschaft veräußert.

Das Ende dieser nach dem Modell der Gemeinwirtschaft betriebenen Gewerkschaftsunternehmen begann 1982, als der SPIEGEL enthüllte, dass sich einige Vorstandsmitglieder der Neuen Heimat  um den Vorstandsvorsitzenden Albert Vietor über Jahre hinweg durch Insider- und Strohmanngeschäfte systematisch auf Kosten dieses Gewerkschaftsunternehmens bereichert hatten.

Die BGAG war unter der Leitung von Hans Matthöfer führend an der 1986/87 beginnenden  Abwicklung/Zerschlagung der Gewerkschaftsunternehmen beteiligt. Anschaulich nachzulesen bei: Peter Kramper, Das Ende der Gemeinwirtschaft, in: Archiv für Sozialgeschichte 52, 2012

Heute steuert die BGAG noch folgende "Gewerkschafts"betriebe:
Screenshot: http://www.bgag.de/diagramme/organigramm/blank.html / 23.05.19