Algerien
Fortgang der Massenproteste

von Bernard Schmid

5-6/2019

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Geplante Präsidentschaftswahl kann nicht stattfinden. Repressionstendenzen nehmen zu. Ablösung an der (jedenfalls bislang regimenahen) Spitze des stärksten Gewerkschaftsdachverbands

Am Schluss setzte sich das Realitätsprinzip jedenfalls an einem Punkt durch. Nein, es wird in Algerien Anfang Juli dieses Jahres also keine Präsidentschaftswahl stattfinden - obwohl die derzeit Regierenden über Wochen hindurch dieses Wahldatum als eine Art politische Fiktion aufrecht erhielten. Nach drei Monaten und drei Tagen sollte dadurch das Vakuum an der Staatsspitze, das durch den Rücktritt von Ex-Präsident Abdelaziz Bouteflika ( oder korrekt aus dem Arabischen transkribiert : ‘Abdel’aziz Boutfliqa ) am 1. April 19 infolge von Massenprotesten und Divergenzen innerhalb des Establishments geschaffen wurde, aufgefüllt werden. Bis dahin würde der bisherige Senatschef, der 77jährige ‘Abdelkader Bensalah, ein bis dahin in weiten Kreisen eher unbekannter Technokrat, als Interimspräsident die Staatsgeschäfte anführen. Dies erlaubt die geltende Verfassung bis zu einer Höchstdauer von neunzig Tagen, die ab seiner offiziellen Ernennung am 09. April 19 zu laufen begannen.

Es bestand nur das Problem, dass wirklich niemand zu dieser für den 04. Juli 19 anberaumten Wahl kandidierten mochte. Tatsächlich fürchteten die politischen Parteien, dass diejenige in den Augen weiter Teile der Bevölkerung restlos diskreditiert würde, die sich als erste aus der Deckung wagen und ihre Teilnahme an eine Wahl ohne vorherigen, gründlichen Wandel des Regimes erklären würde. Am 25. Mai d.J., dem Stichtag für die letztmögliche Einreichung von Kandidaturen, tauchten dann doch noch zwei Bewerber uasi aus dem Nichts auf: der Tierarzt und Kleinunternehmer ’Abdelhakim Hamadi sowie der Ingenieur Hamid Touahri. Über beide war so gut wie nichts öffentlich bekannt, jedenfalls nichts über eventuelle politische Inhalte. Hamadi hatte allerdings bereits zur Präsidentschaftswahl 2014 sowie zu jener, die für Mitte April dieses Jahres geplant war, jedoch durch die Massenprotestbewegung gegen Bouteflikas erneute Kandidatur verhindert wurde, antreten wollen. Die Verfassungsrichter befanden damals jedoch, dass er die Voraussetzungen dafür, zu ihnen zählen u.a. die Unterstützung durch sechshundert Kommunal- oder Bezirksparlamentarier sowie die Unterschriften von 60.000 Bürgerinnen und Bürgern sowie ein Lebensalter von mindestens 40 Jahren und muslimische Religionszugehörigkeit, nicht erfüllte. Touahri hatte lediglich im Jahr 2017 einmal erfolglos zu Kommunalwahlen kandidiert. Beider Bewerbungen dürften in die Kategorie „nicht ernst zu nehmende Kandidaturen“ fallen.

Am 02. Juni 19 befand nunmehr das Verfassungsgericht offiziell, die Präsidentschaftswahl abzuhalten, sei am dafür vorgesehenen Datum „unmöglich“. Damit gilt sie als auf unbestimmte Zeit verschoben. Dies löst jedoch den Grundkonflikt nicht auf, der darin beruht, dass viele Oppositionskräfte, aber auch die Protestbewegung auf den Straßen erst die Strukturen des bestehenden autoritär-oligarchischen Systems überwinden und danach wählen wollen - während die Machthaber am liebsten umgehend und ohne irgendwelchen tiefgreifenden Änderungen am Regime wählen lassen möchten. Reichlich inhaltsleer klingt da der Aufruf von Interimspräsident Bensalah vom Donnerstag, den 06.06.19, in welchm er an „die politische Klasse, die Zivilgesellschaft und patriotische Persönlichkeiten“ appellierte, einen „inklusiven Dialog“ zu eröffnen und „so bald wie möglich“ zur Präsidentschaftswahl zu schreiten. Dies wirkt auf den ersten Blick hilflos. In Wirklichkeit allerdings wissen Bensalah und die anderen Vertreter der herrschenden Oligarchie, dass die Zeit für sie arbeiten dürfte. Denn obwohl die gesellschaftliche Mobilisierung auf den Straßen und Plätzen bislang erstaunlich massiv und stabil blieb, wird sie sich auf derart hohem Niveau wohl nicht unbegrenzt aufrecht erhalten lassen.

Hinzu kommt eine phasenweise stark ansteigende und sich danach wieder abschwächende Repression. Im Vorfeld des Mobilisierungsfreitags am 31. Mai 19 bspw. kam es zu vergleichsweise massiven Festnahmen in der Hauptstadt Algier, wo etwa dreißig junge Menschen in der Nähe der „Großen Post“ – im historischen Stadtzentrum unweit des Hafengebiets - ohne Anlass festgenommen und auf Polizeiwachen transportiert wurden. Erneut kam es am 21. Juni 19 dort zu Festnahmen im Vorfeld der freitäglichen Protestmobilisierungen, rund zwanzig Menschen wurden präventiv durch Zivilpolizisten fest- und mitgenommen. Nunmehr versuchen die Regierenden ferner, eine Spaltungslinie zwischen „Arabern“ und „Kabylen“ (= Berbersprachigen) einzuziehen, indem die Berberfahne // vgl. https://www.courrierinternational.com/ // auf Demonstrationen symbolträchtige verboten wurde. Bislang fruchtete dieser grobe Spaltungsversuch jedoch im Protestlager nicht.

Trotz der Repression und auch während des, in diesem Jahr bis zum 04. Juni andauernden Fastenmonats Ramadhan blieb die Mobilisierung jedoch ungebrochen. Drei Tage zuvor war in einem Militärkrankenhaus in Blida der Menschenrechtsaktivist und Arzt Kamel Eddine Fekhar nach fünfzigtägigem Hungerstreik verstorben. Er war 2015 im Kontext der konfessionalisierten und teilweise durch die Staatsmacht geschürten Konflikte zwischen arabischen Sunniten und berbersprachigen Mozabiten in der Saharastadt Ghardaïa für zwei Jahre inhaftiert worden und wurde nun am 31. März 19 erneut festgenommen. Zahlreiche Menschen skandierten bei den Demonstrationen seinen Namen.

Auch die Chefin der „Werktätigenpartei“ PT – einer linksnationalistischen Formation, die historisch aus dem algerischen Ableger einer Unterströmung des französischen Trotzkismus entstand, sich jedoch unter Abdelaziz Bouteflika stark in dessen politisches Umfeld integriert hatte (einige ihrer näheren Angehörenden wurden plötzlich geschäftlich erfolgreich) –, Louisa Hanoune, wurde im Zuge der Korruptionsermittlungen gegen die Bouteflika-Familie in Militärhaft genommen. Jenseits der Tatsache, dass die im Diskurs als Bannerträgerin „sozialer Gerechtigkeit“ auftretende Abgeordnete und frühere Präsidentschaftskandidatin tatsächlich in das alte politische System verwoben war, handelt es sich dabei auch um eine Warnung der Armee an alle zivilen politischen Kräfte, von denen viele strömungsübergreifend ihre Freilassung fordern.

Die Kritiker der Pläne der Oligarchie fordern unterdessen unisono, eine „Verfassungsgebende Versammlung“ einzuberufen, welche erst die grundlegenden politischen Spielregeln überarbeiten solle, bevor zu etwaigen Wahlen gerufen wird. Wie ein solche Gremium aussehen und wer es einberufen soll, aber auch, wer zwischenzeitlich regieren könnte, bleibt mitunter relativ ungewiss. Verschiedene Oppositionskräfte versuchen es, auf je ihre Weise zu präzisieren. In einem am Montag, den 10.06.19 in Jeune Afrique erschienenen Interview schlug etwa der Chef der durch Teile der berbersprachigen Minderheit unterstützten, liberalen Oppositionspartei RCD („Sammlung für Kultur und Demokratie“), Mohcine Belabbas, folgende Konfiguration für die Übergangsphase vor: Ein dreiköpfiges Gremium unter der Bezeichnung „Hohe Übergangsinstanz“ solle das Staatspräsidentenamt ablösen und durch je ein Drittel durch die Anwalts- und Richterschaft, durch die Hochschullehrerschaft und durch die unabhängigen Gewerkschaften gewählt werden, also drei besonders stark strukturierte gesellschaftliche Gruppen, die in guten Teilen in Opposition zum bestehenden Regime stehen. Eine „Regierung zur Rettung der Nation“ solle aus Repräsentanten der Zivilgesellschaft bestellt werden. Beiden sollen zwei Gremien zur Ausarbeitung eines neuen Wahlgesetzes und einer Verfassung zur Seite gestellt werden.

Am Samstag, den 15. Juni 19 traten unterdessen die oppositionnellen ,zivilgesellschaftlichen Kräfte', wie Menschenrechtsvereinigungen und unabhängige Gewerkschaften, zum zweiten Mal zu einer großen ‘nationalen Konferenz’ zusammen. Einen Kompromiss zu finden, erwies sich jedoch als relativ mühsam, da ein Teil der sich auf ihren Charakter als „Zivilgesellschaft“ berufenden NGOs trotz allem Vorausgehenden einen schnellen Wahltermin (in weniger als sechs Monaten) befürworten. Während eine Mehrheit einen Zeitraum von mindestens einem Jahr „Übergangsperiode“ favorisiert, damit eine Opposition sich überhaupt in Ruhe aufstellen und organisieren kann – auf dass nicht nach einer frühen Wahl dann politisch schnell zur „Tagesordnung“ übergegangen wird. Ferner favorisiert ein Gutteil der vertretenden Verbände und Organisationen die Forderung nach einer (erstmals zu erreichenden) Rechtsgleichheit von Frauen und Männern. Auch darüber gibt es jedoch keinen echten Konsens, denn unter anderem bei den unabhängigen Gewerkschaften gibt es dagegen erhebliche Widerstände: Ihre Mitgliedschaft vor allem in kleineren und mittleren Kommunen weist jedenfalls in dieser Frage ein durchaus konservatives Profil auf.

Die wichtigste Nachricht des Moments traf jedoch am Freitag, den 21. Juni 19: Nach zweiundzwanzig Jahren an der Spitze des staatsnahen, und zugleich mitgliederstärksten, Gewerkschafts(dach)verbands UGTA wurde der dem alten Regime nahe stehende Generalsekretär ‘Abdelmadjid Sidi Saïd dort endlich aus dem Amt gewählt. Abgelöst hat ihn an diesem 21.06.19 nunmehr Salim Labatcha. Dessen erste Schritte im Amt werden aufmerksam zu verfolgen sein.

Editorischer Hinweis

Wir erhielten den Beitrag vom Autor für diese Ausgabe.