Lebende Leichen
oder warum das "Manifest gegen die Arbeit" auf keinen Fall eine Kapitalismuskritik ist

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Seit Jahren verkündet die Gruppe Krisis den Untergang des Kapitalismus. Seit kurzer Zeit erfahren sie dabei immer mehr Interesse. Sowohl im linken als auch im bürgerlichen Lager finden sich Leute, die die Krisis-Theorie spannend finden: Begeistert stürzen sich Feuilletonisten von Jungle World über Die Zeit bis hin zur FAZ auf die jeweiligen Machwerke, egal ob "Manifest gegen die Arbeit" oder "Schwarzbuch Kapitalismus" und besprechen sie eifrig. Neuerdings hat es einer der Chefdenker sogar zum Circular-Autor im Feuilleton-Blättchen "Süddeutsche Zeitung Magazin" gebracht.

Grund genug, ein wenig darüber ins Stutzen zu geraten, daß diejenigen, die sonst eher mit Fragen wie "Kopf ab – oder lieber doch nicht?" oder "Das System Kohl – Das System Rau; Grundkurs Demokratie: Bricht Schweigen die Verfassung?" die effektivste staatliche Herrschaftsausübung verhandeln, sich für einen linken Standpunkt interessieren. Auch das ZDF hielt es für nötig, unter dem Motto "Was wir vermissen werden – Marktwirtschaft oder Sozialismus" das " Kann das noch lange gut gehen?"-Problem unter Einbeziehung des Autors des "Schwarzbuch Kapitalismus" (mit Krisen kennen sich Linke ja bekanntlich aus!) zu besprechen.

Ausgangspunkt für die rege Teilnahme der bürgerlichen und linken Journaille ist der Evergreen der politischen Betreuung: die Arbeitslosigkeit. Die finden sie alle problematisch und von daher ist die Krisis interessant für sie, weil sie die Arbeitslosigkeit nicht nur für problematisch, sondern für symptomatisch hält – ein Symptom des totalen Zusammenbruchs der gesamten westlichen Welt, wie sie geht und steht! Gruselig fasziniert ist die Öffentlichkeit von dem dramatischen Untergangsszenario, das da gezeichnet wird: Die Welt ist durch die »größte Untergangssekte aller Zeiten« – Die Krisis meint damit den Kapitalismus – in eine Krise gestürzt worden, vor der es kein Entrinnen gibt und auch noch nie gab, wie sich gerade jetzt zeigt.

In unserer Kritik werden Zitate aus dem »Manifest gegen die Arbeit« beurteilt, die natürlich aus dem Zusammenhang gerissen sind – wir haben ja erstens nicht vor, diesen Text hier noch einmal zu veröffentlichen, und zweitens meinen wir, daß man die in den Zitaten enthaltenen Gedanken eben durchaus für sich würdigen kann. Wer also meint, man könne einen Gedanken nicht für sich untersuchen, sondern ihn nur im Zusammenhang verstehen, der soll dieses Heftchen gleich wieder aus der Hand legen und vor allen Dingen bloß nicht auf die Idee kommen, uns mit diesem Standpunkt zu behelligen. Auch den beliebten Einwand, es handele sich beim "Manifest" bloß um eine Agitationsschrift, nehmen wir nicht zur Kenntnis, denn Agitation geht schließlich auch nur mit Argumenten – man muß den Adressaten also schon hinsichtlich des Agitationsgegenstands überzeugen, und mit dem Anspruch tritt die Krisis an und so wird sie hier auch behandelt.

»Das Thema der Massenarbeitslosigkeit in den westlichen Industriestaaten wird immer noch in den alten Fragen und Kategorien diskutiert. Noch herrscht in fast allen politischen und wirtschaftlichen Lagern die Hoffnung vor, daß es im Zuge einer konsequenten Wiederbelebung der Wirtschaft in den neunziger Jahren zu einem neuen Aufbruch in die Vollbeschäftigung kommt, Daß wird am Anfang eines gegenindustriellen Rationalisierungsprozeß stehen in dessen Verlauf die Prinzipien des bisherigen Beschäftigungssystems – und nicht nur Umschichtungen in Berufs- und Qualifikationsstruktur – zur Disposition stehen: diese Möglichkeit wird bisher weder theoretisch noch politisch systematisch in Erwägung gezogen. « (Ulrich Beck – "Risikogesellschaft, Auf dem Weg in eine andere Moderne", S.55, FfM 1986)
»Die von der Arbeit beherrschte Gesellschaft erlebt keine vorübergehende Krise, sie stößt an ihre absolute Schranke. Die Reichtumsproduktion hat sich im Gefolge der mikroelektronischen Revolution immer weiter von der Anwendung menschlicher Arbeitskraft entkoppelt. [...] Wer aber in dieser Gesellschaft seine Arbeitskraft nicht verkaufen kann, gilt als "überflüssig" und wird auf der sozialen Müllhalde entsorgt.« (Gruppe Krisis: Manifest gegen die Arbeit, S. 5.)

So und so ähnlich lauten die Diagnosen, die bürgerliche Wissenschaftler wie Jeremy Rifkin, Ulrich Beck und linke nostradamische Untergangspropheten wie Robert Kurz und die Krisis-Fraktion über diese Gesellschaft parat haben: Sie sind sich einig darüber, daß Arbeit als gesellschaftliches Prinzip nicht mehr taugt; die Arbeit geht aus – man denke da nur an die Arbeitslosen. Getragen sind solche Urteile von einem gravierenden Fehler: Dem entschiedenen Desinteresse an der tatsächlichen Funktion, die die Arbeit in der Gesellschaft hat. Statt einmal den Umstand zu würdigen, daß die Arbeit zum einen Produkte und zum anderen Lohn und Gewinne abwirft, daß es Arbeitnehmer und Arbeitgeber gibt, vollziehen sie eine falsche Abstraktion. Für sie hat die Arbeit nämlich nicht einfach so profane Funktionen wie eben Lohn, Gewinne und Produkte abzuwerfen, sondern sie hat die Funktion, gesellschaftsbildendes Prinzip (gewesen) zu sein – denn irgendwie haben wir es alle mit der Arbeit. Die Arbeit ist bei solchen Leuten der "gesellschaftliche Kitt", der die Gesellschaft zusammenhält und strukturiert, und dementsprechend hängt deren Fortbestand dann natürlich an dem strukturierenden Prinzip. Und wenn dieser Gesellschaftskitt dann bröckelt, dann droht die Gesellschaft wegzubrechen, die ja bei solchen blöden Abstraktionen wirklich nichts anderes im Sinn haben kann, als sich selber zu erhalten. Für den Zweck, den es in der Gesellschaft gibt und der da seine Wirkungen zeitigt, interessieren sich solche Denker dementsprechend herzlich wenig, da er sowieso nur als Mittel für den Zusammenhalt der Gesellschaft wahrgenommen wird: So firmiert der Profit als Mittel für Arbeit(splätze) – womit die Sache gründlich auf den Kopf gestellt wäre.

Das daraus folgende Urteil lautet dann einmütig: "Das Strukturprinzip funktioniert nicht mehr!" Freilich unterscheiden sich die Urteile dann im Abschluß: die Bürgerlichen sehen das angebliche Verschwinden der Arbeit als ein Risiko, dem begegnet werden muß; die Untergangspropheten halten es für eine Chance und sagen "Gott sei Dank!" und "Wir haben’s schon immer gewußt: das kann nicht gutgehen!"; damit machen sie sich viele Freunde unter den Linken – die Krisis ist mit ihrem "Manifest gegen die Arbeit" in aller Munde und tourt mit ihrem Pamphlet durch die Republik, um den Untergang des Abendlandes zu verkünden. Doch was ist eigentlich dran am Untergang und an dem, was da untergehen soll, der

Arbeitsgesellschaft?

Man sollte meinen, daß Arbeit immer als zweckgerichtete Tätigkeit – also als Mittel – dazu dient, daß man etwas herstellt, das als Resultat dieser Arbeit bestimmte Bedürfnisse befriedigt. (Das ist auch im Kapitalismus so, nur daß die Bereitstellung all der nützlichen Dinge nicht der Zweck ist, sondern daß man das auf sie bezogene Bedürfnis als Hebel benutzt, um an das ranzukommen, wofür die Produktion dienen soll: Geld muß es bringen, das nützliche Zeug; wenn es das nicht tut, dann war eben die Produktion vergebens, obwohl die Dinge immer noch nützlich für die wären, die sie brauchen. So und nicht anders kommt das Bedürfnis hier vor.) Nun stelle man sich aber vor – wie es der Begriff Arbeitsgesellschaft nahelegt –, die Arbeit selbst ist Zweck der Gesellschaft: Sie findet nur statt, damit sie stattfindet, oder wie die Krisis sagen würde:

»In der Sphäre der Arbeit zählt nicht, was getan wird, sondern daß das Tun als solches getan wird [...].« (Manifest S. 14/15.)

Das wäre zwar eine ziemlich dämliche Gesellschaft, aber mal angenommen, es wäre so: Wo wäre dann eigentlich das Problem? Das "Manifest" meint eines ausmachen zu können:

»Die weltweite Tatsache, daß sich die Arbeit als irrationaler Selbstzweck erweist, der sich selber obsolet gemacht hat, wird mit der Sturheit eines Wahnsystems in das persönliche oder kollektive Versagen von Individuen, Unternehmen oder "Standorten" umdefiniert.« (Manifest S. 6.)

Und damit liegt die Krisis schlicht und ergreifend falsch: Wenn Arbeit der ganze Zweck ist, dann würden die Leute arbeiten und arbeiten und nochmals arbeiten, und nichts könnte sie daran hindern, immer wieder zu arbeiten – schon gar nicht der Zweck (die Arbeit) selbst. Denn ein solcher Selbstzweck kann nicht in die Krise geraten und zur »Katastrophe« (Manifest S. 49) werden, die die Apokalyptiker aber gerade prognostizieren. (Die Leute würden halt einfach am einen Tag Gruben ausheben, um sie am nächsten Tag wieder zuzuschütten, um sie am nächsten Tag wieder auszuheben, um sie dann wieder...) Sicherlich, es stimmt, daß es immer mehr Arbeitslose gibt, also viele Leute außerstande gesetzt werden, sich ihr wenig haltbares Eigentum zu verschaffen. Aber das ist eben ein erster Hinweis darauf, daß die Arbeit nur unter ganz bestimmten Bedingungen stattfindet, und das heißt, daß sie dann auch nicht selbst Zweck, sondern Mittel zu etwas ist. (Genaueres s.u.)

Nun könnte man aber den Arbeitsgesellschaftsgedanken ein bißchen weiter fassen und sagen: In dieser Gesellschaft geht es im wesentlichen um Arbeit. Auch hier ist ziemlich klar, daß dies erstens ein untaugliches Beschreibungskriterium für eine Gesellschaft wäre: In jeder Zeit mußten und müssen sich die Menschen die Natur (mehr oder minder anstrengend, abhängig von der Produktivität der Arbeit) herrichten, damit sie ihr die benötigten Lebensmittel abgewinnen können - das ist die abstrakteste Bestimmung von Ökonomie. Das Allgemeine, was also wirklich epochenübergreifend gilt, würde zum Wesensmerkmal gerade dieser Gesellschaft erklärt.

Und deshalb wäre es zweitens einfach falsch: Ist denn in dieser Gesellschaft die Arbeit so organisiert, daß die Dinge, die gebraucht werden, mit möglichst wenig Aufwand hergestellt werden? Wohl kaum: Wie jeder weiß, leben wir in einer Marktwirtschaft. Alles, was hergestellt wird, wird für den Markt produziert. Markt ist nicht der Platz, auf dem Schweine und anderes gehandelt werden, wie man wegen der alten Bedeutung des Wortes meinen könnte. "Markt" ist der Umstand, daß alle brauchbaren Dinge Waren sind: sie sind käuflich und verkäuflich. Was an den hergestellten Produkten zählt, ist, daß sie am Markt Geld bringen, und zwar mehr, als zu ihrer Herstellung notwendig war. Die Produktion muß rentabel sein – nur dann und nur dafür wird produziert, also auch nur dann dürfen Lohnabhängige (denn die verfügen nicht über Produktionsmittel) zu diesem Zweck an die Arbeit gehen. Das ist der Anspruch, der an die Arbeit gestellt wird: sie muß geldwertes Eigentum vermehren.

Und das heißt dann eben auch, daß nahezu jeder, der in diese Verhältnisse geboren wird, sich um Geld und deshalb um Arbeit kümmern muß, weil nur so eine Verfügung über Geld und damit über die Möglichkeit, an Bedarfsgegenstände ranzukommen, machbar ist. Und deshalb liegt die Absurdität des "Systems", der Grundseiner Schädlichkeit für die Masse seiner Insassen, nicht darin, daß Arbeit nicht stattfindet, wenn sie nicht rentabel ist, sondern daß sie stattfindet, weil es um Rentabilität geht. Seine soziale Gemeinheit beginnt nicht damit, daß die Leute, die Arbeit brauchen, oft keine finden, sondern besteht schon darin, daß sie Arbeit brauchen; daß sie dann noch nicht einmal sicher sein können, eine zu finden, folgt daraus von ganz allein.

Diese Gedanken kämen den Autoren des "Manifests gegen die Arbeit" wohl viel zu "klassenkämpferisch" vor – sie halten’s lieber mit einer menschlichen Verstricktheit der ganz besonderen Art: Ihrer Meinung nach herrschen hierzulande nämlich

Der "Arbeitsgötze" und seine "Diener" – oder wie man sich ein "Fetischsystem" bastelt

Einer der Dreh- und Angelpunkte im "Manifest" ist die Behauptung, ein "Arbeitsgötze" habe sich der Gesellschaft bemächtigt, der wiederum durch die »Zombis der Warenproduktion« (Manifest S. 16; gemeint sind die Arbeitenden) und die »Eliten der Arbeitsgesellschaft« (ebd.; gemeint sind die Kapitalisten und Manager) tagtäglich aufrechterhalten werde.

Es lohnt sich, die Metaphorik des Textes beim Wort zu nehmen: Die Arbeit scheint also ein Gegenstand göttlicher Verehrung zu sein; diese Annahme soll so unterschiedliche Erscheinungen erklären helfen wie: Als "Arbeitgeber" Leute je nach Rentabilität einstellen oder entlassen; einen Gutteil des Tages in einem Supermarkt an der Kasse stehen; in einer Arbeiterpartei den Klassenkampf führen; in einer Demokratie oder in einem Faschismus zum politischen Personal gehören; sogar der Gang ins Fitneßstudio erweist sich als Götzendienst. Unbezweifelbar ist natürlich die Tatsache, daß all diese Bereiche irgend etwas mit "der Arbeit" zu tun haben, genauso, wie auch in allen irgendwo "der Mensch" oder "das Geld" vorkommen. An dieser Parallele erkennt man aber auch schon, daß es der Krisis um die Feststellung solch schlichter Gemeinsamkeiten auf keinen Fall geht. Diese könnte man nämlich gleich wieder vergessen, weil man doch schon gern wüßte, wie das Geld beim Gang ins Fitneßstudio vorkommt! Die Krisis möchte dagegen behaupten, diese und andere gesellschaftliche Erscheinungen ließen sich aus der Regentschaft des »Arbeitsgötzen« erklären. Und da wird es richtig falsch:

Das Personal der "Arbeitswelt" in der Marktwirtschaft teilt sich in zwei Klassen: Zum einen gibt es da die Leute, die darauf angewiesen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um als "Produktionsfaktor Mensch" den Unternehmensprofit zu erwirtschaften. Und zweitens gibt es diejenigen, die nicht für Lohn arbeiten, sondern Lohnarbeiter anstellen. Diese Unterscheidung ist allgemein geläufig und zeigt schon ihrer Form nach, daß hier jemand in etwas anderen Geschäften unterwegs ist als als Supermarktkassiererin: Wer für Lohn arbeiten läßt, will, daß sich die Arbeit rentiert, d.h. daß ein möglichst großer Überschuß im Verhältnis Geldaufwand – Geldertrag herauskommt. Für den Vollzieher solcher Rechnungen versteht es sich von selbst, daß menschliche Arbeitskraft nur dann eingesetzt wird, wenn sie dieser Rentabilitätsbedingung genügt. Davon hängt es dann ab, ob jemand eingestellt oder jemand entlassen wird. Daß da eine Person auf die Lohnzahlung angewiesen ist, ist für den "Arbeitgeber" gar kein Gesichtspunkt, wenn er kalkuliert – was er immer tut. Und diese Kalkulation folgt einem anderen Gesichtspunkt als dem, Menschen einfach nur "Arbeit zu geben". Entsprechend sieht die Arbeit, so sie denn stattfindet, dann auch aus.

Nun zur anderen Gruppe innerhalb der angeblichen Götzendiener: Wenn man die Supermarktkassiererin fragt, wie sie wohl auf die Idee kommt, jeden Tag zur Arbeit zu gehen, wird man eine Auskunft erhalten wie: "Ich brauche halt das Geld." "Das frage ich mich auch – bei der Bezahlung." oder "Besser hier arbeiten als putzen gehen." Was man nun wirklich fast keinem (außer den Autoren des "Manifests") beweisen muß, ist folgendes: Das Arbeiten-Gehen ist Ausdruck eines Zwangs. Dieser besteht darin, in einer Gesellschaft, in der man für Geld so ziemlich alles kaufen kann – wenn man genug davon hat –, aber ohne Geld überhaupt nichts, an eben dieses Objekt der allgemeinen Begierde heranzukommen. Sonst kann man sich von Fallobst ernähren oder ganz einpacken. Die Supermarktkassiererin ist darauf verwiesen, ihre Arbeitstage an einem Ort zu verleben, an dem man als Kunde nicht mehr Zeit als unbedingt nötig verbringt. Einem großen Teil des menschlichen Inventars der Marktwirtschaft stehen eben nur solche Möglichkeiten zur Verfügung, und es kann sich dabei noch "glücklich" schätzen, wenn seine Arbeitskraft gerade gefragt ist. Der Bezug der Kassiererin auf ihre Tätigkeit resultiert aus dem Zwang, sich für die Arbeit herzugeben. Sonst gibt’s keinen Lohn – daraus ist jene "Fixierung" der Menschen auf die Arbeit zu erklären, die für die Krisis eher ein Fall für den Psychiater ist: Das "Manifest gegen die Arbeit" legt sich ein Bild vom modernen Menschen zurecht, das nicht viel von den gesellschaftlichen Umständen wissen will, unter denen die Arbeit stattfindet. Statt dessen wird der Eindruck vermittelt, man habe es mit einer Krankheit oder Verrücktheit zu tun, die die ganze Gesellschaft ergriffen hat. Diese Diagnose kümmert sich nicht wirklich um die Frage, wie jemand dazu kommt, arbeiten zu gehen, denn der Standpunkt der moralischen Verurteilung des Arbeitens ist ihr wichtiger als die Analyse. Andererseits beinhaltet das Menschenbild an dieser Stelle eine Art Entschuldigung der Mitmacher: Man hat es offensichtlich mit Kranken oder Verrückten zu tun, die halt nicht anders können.

Bei der Arbeit geht es also buchstäblich keinem darum, daß sie, egal unter welchen Bedingungen, schlicht stattfindet. Das "Manifest" leistet sich eine derart fehlerhafte Abstraktion, daß man in dem behaupteten Götzendienst an der Arbeit nichts von dem wiederfindet, worauf es in der bürgerlichen Gesellschaft ankommt. Statt dessen werden andere erstaunliche Ergebnisse präsentiert: Der moderne Mensch soll ein Arbeitsfetischist sein. Der Beweis: Jeder geht arbeiten, läßt arbeiten und/oder hat sonst irgendwas mit "Arbeit" zu tun. Die Argumentation verläuft dabei ungefähr so, als wenn der Theoretiker von seiner Feststellung "Alle reden von Weihnachten" (sogar die, die Weihnachten blöd finden!) ausgehend das "gemeinsame Weihnachtsfetischsystem" ausruft.

Wir bezweifeln nicht, daß in der bürgerlichen Gesellschaft jede Menge Gestalten rumlaufen, bei denen die Arbeit eine hohe Wertschätzung genießt. Die belassen es dann eben nicht einfach bei der Aussage "Ich bin auf den Lohn angewiesen", sondern werden zudem moralisch: "Wo kämen wir denn hin, wenn alle einfach zu Hause blieben." oder philosophisch-sinnstiftend: "Der Mensch braucht halt eine Beschäftigung!" Solche Meinungen, die zum Zwang hinzutreten und Haltungen der Tugendhaftigkeit, Genügsamkeit u.ä. im Umgang mit ihm einfordern, gibt es überall – das ist ja gerade das Problem: Mit ihnen richtet sich der Mensch in den Verhältnissen ein, die ihm schaden. (Würde er dies nicht tun, wären die Tage der bürgerlichen Gesellschaft gezählt.)

Es handelt sich bei solchen Anschauungen nicht um eine quasi-religiöse Hingabe an die Arbeit, sondern um einen moralischen Standpunkt, den die Leute zu ihrer materiellenVerwiesenheit auf die Arbeit einnehmen. Wer bspw. die kapitalistische Lohnarbeit mitsamt ihren schädlichen Auswirkungen zur Natur des Menschen verklärt, formuliert eine Ideologie, die zur harten ökonomischen Realität hinzutritt (als Trost, als Rechtfertigung usw.), die aber niemals selbst Grund der Sache ist.

Solche moralischen Merksätze kommen vor allem dann zum Einsatz, wenn die Arbeitenden sich oder anderen klarmachen wollen, warum sie ihren täglichen Dienst verrichten: Aus der Tatsache, Mittel für die Kapitalakkumulation zu sein, ziehen sie den Schluß, dann wohl auch ganz dringend und persönlich gebraucht zu werden – klingt besser, ist aber leider falsch. Und sie legen sich die Lohnarbeit als brauchbares Mittel für ihr materielles Wohlergehen zurecht – wo deren Witz doch darin liegt, daß sie rentabel sein muß und damit dem Betrieb zu dienen hat. So herum funktioniert das Abhängigkeitsverhältnis.

Wer sich in den schädlichen Verhältnissen einrichtet, tut dies, indem er sich die Abhängigkeiten als Chancen zurechtlegt und entsprechend alle Schädigungen als "vergebene Chancen" oder auch als Sachnotwendigkeiten verstehen möchte. Von diesen Ideologien hat die Krisis-Strömung leider nicht die Spur einer Ahnung, wenn sie meint, die »Tretmühle« würde von den Menschen »heiß geliebt« (ebd.): Hier handelt es sich um eine grundsätzliche Verwechslung von empirisch feststellbaren Erscheinungen ("Ständig geht’s um Arbeit" – wie oben ausgeführt, muß man für diese Behauptung alles, was an der Arbeit wirklich wichtig ist, ausblenden) und dem Zweck, um den es in der Gesellschaft geht und dem die Lohnarbeiter unterworfen sind. Der Standpunkt der Mitmacher im Kapitalismus ist kein masochistischer und auch keiner, auf den die Bezeichnung »Wahnsystem« (s.o.) passen würde, sondern einer, der von unangenehmen Bedingungen ausgeht und sie sich schönredet – also ein falscher.

Wie eklig so ein Fetischsystem doch ist! Das "Manifest" blickt auf die bürgerliche Welt

Das "Manifest" steht fassungslos vor den Mitmachern: Was ist denn da los? Wie soll man sich denn das erklären, daß die Menschen acht Stunden täglich an widerlichen Arbeitsplätzen verbringen? Die müssen doch entweder dumm, pervers oder manipuliert sein! Oder – letzte Möglichkeit – die Leute wollen die Arbeit so, wie sie ist. Die Autoren sind sich sicher, daß fürs Lohnarbeiten zumindest ein Motiv nicht mehr existiert: »Früher haben Menschen gearbeitet, um Geld zu verdienen. Heute scheut der Staat keine Kosten, damit Hunderttausende [...] die verschwundene Arbeit simulieren [...]« (Manifest S. 10). Wer sich dermaßen wenig um den gesellschaftlichen Zweck der Arbeit kümmert (und dann auch noch plötzlich vom Subjekt "Menschen" zum Subjekt "Staat" wechselt – als würde das als Begründung dafür reichen, daß es heute im Gegensatz zu "früher" nicht mehr ums Geldverdienen gehen soll), kann über die "Simulanten" nur noch den Kopf schütteln. Folgerichtig redet man ihnen das Mitmachen dann auch nicht argumentativ aus, sondern schreibt über sie: »Domestizierte Arbeitstiere« (Manifest S. 8), »Arbeitsfanatismus« (S. 12), »soziale Automaten« (S. 15), die »in den Wahnsinn getriebenen Bevölkerungen« (S. 29), das »kapitalistische Arbeits- und Warenkonsum-Subjekt« (S. 40) etc. Auch die Macheraus Politik und Wirtschaft kriegen ihr Fett weg: Sie sind die »herrschenden ökonomischen Psychotiker« (S. 6), die »Ritter von der traurigen Gestalt« (ebd.), das »parteiübergreifende Arbeits-Lager« (ebd.), die »leistungswahnsinnige neoliberale Kaviarfresserin«( S. 13) und dabei selber nur »Knechte des Arbeitsgötzen« (S. 17).

Wer im "Manifest gegen die Arbeit" auch nur einen richtig angegebenen Grund für das Handeln von Politikern und Wirtschaftsführern findet, möge sich bei uns melden – vielleicht haben wir was übersehen. Was aber ist der Gehalt dieses Wortgeklingels? Der empfundene Ekel, es mit derart verdorbenen und wahnsinnigen »Funktionsträgern« zu tun zu haben, wird mitgeteilt. Und mit diesen muß man auch noch in einer Gesellschaft zusammenleben! Nicht die Härten der kapitalistischen Produktionsweise und der politischen Herrschaft werden hier kritisiert, sondern der Umstand, daß es tatsächlich Leute gibt, die keine "Arbeitskritiker" nach Krisis-Muster sind. (Das dürfte ja wohl der Anlaß für die Herausgabe des "Manifests" sein!)

Bis hierhin sind halt alle Menschen »soziale Funktionskategorien eines gemeinsamen Fetischsystems« (Manifest S. 26). Nichts Genaues weiß man nicht, und nicht einmal der spezifische Beitrag zum System, über den wir uns weiter oben ausgelassen haben und der je nach ökonomischer Stellung sehr unterschiedlich ausfällt, ist mehr interessant, weil sich alles in einer trüben Arbeits-Suppe auflöst. Nur die Tatsache, daß die Menschen eine Funktion haben, interessiert noch, aber nicht, welche das jeweils ist. Man könnte meinen, der Gedanke wäre damit zuende: Ein Fetischsystem, in dem alle mitmachen, weil sie Anhänger und Diener des Fetischs (geworden) sind. Na prima, das ist ja wunderbar, wenn diese Menschen in einer Gesellschaft leben, die zu ihnen paßt! Aber die Krisis wäre nicht die Krisis, wenn sie ihre Broschüre nicht mit einer "Perspektive", im Grunde genommen sogar mit einer ausgemachten Utopie, schließen würde. Indem sie seitenlang über den defizitären Charakter der Leute klagen, verdeutlichen die Schreiber, worin ein wesentlicher Aspekt ihrer Weltsicht besteht: In der Suche nach Höherem, Besserem, Einwandfreiem.

Das »Programm der Abschaffungen gegen die Liebhaber der Arbeit« – die Götzendiener werden wieder eins mit sich und allem anderen

In den vorderen Kapiteln hat das "Manifest gegen die Arbeit" ein denkbar schonungsloses Bild vom Menschen im Kapitalismus gezeichnet: »Bis in die Poren des Alltags und bis in die Psyche hinein« (Manifest S. 5) wird er gelenkt von »der Arbeit«, und so ist er Mittäter beim Aufrechterhalten des Arbeitsgötzen. Damit könnte die Broschüre eigentlich zuende sein. Abscheu und Unverständnis dieser Realität gegenüber sind ausführlich zur Sprache gekommen – auf der einen Seite die vielen Mitmacher, die sich in einer Art gesellschaftlichem Verhängnis befinden, auf der anderen die unerbittlichen Anprangerer, die Manifeste dagegen schreiben. Letzere sind so ziemlich die einzigen, die clever genug und fähig sind, das Verhängnis zu durchschauen. Das ist zum einen ein denkbar elitärer und zum anderen ein ziemlich widersprüchlicher Gedanke: Obwohl die Kritiker durchaus irgendwo arbeitenderweise ihr Geld verdienen dürften und sie auch sonst in der gleichen Gesellschaft leben wie der Rest der Menschheit, soll es ihnen möglich sein, den Anfechtungen durch den Arbeitsgötzen nicht zu erliegen! Wenn das Dasein in der warenproduzierenden Gesellschaft wirklich ein »konditioniertes« (Manifest S. 44) wäre, dann müßte das für alle Leute gelten; einen theoretischen Standpunkt, der die Gesellschaft von "Außen" kritisieren kann, dürfte es dann nicht geben.

Aber halt: Auf Seite 48 ist die Rede vom »Unbehagen im Kapitalismus«, das, wenn auch in den »soziopsychischen Untergrund abgedrängt« (ebd.), so doch massenhaft vorhanden ist. Es wird nur nicht abgerufen. Hier setzt das »Programm der Abschaffungen« an. Sein Ausgangspunkt besteht in folgendem: der »Ekel [!] vor dem eigenen Dasein als Arbeits- und Konkurrenzsubjekt und die kategorische Weigerung, auf immer elenderem Niveau weiter so funktionieren zu müssen« (Manifest S. 41) sollen verbreitet werden. Ach so ist das: Genau die gleichen Menschen, die vorher unglaublich geistlose Diener eines Götzensystems waren, soll man nun dazu bringen können, das "eklig" zu finden? Vorher hat doch alles gepaßt wie der Liebhaber zur Tretmühle! Und warum wird jetzt plötzlich davon gesprochen, die Subjekte würden funktionieren müssen? Bisher wollten sie das doch!

Das Herumlavieren zwischen "Wollen" und "Müssen" geht weiter: »Und doch werdet ihr niemals Konsequenzen aus dem ziehen, was ihr auch selber sehr gut wißt. [...], weil ihr weiterhin dem herrschenden Leichnam der Arbeit und seinen Pseudo-‚Naturgesetzen‘ dienen wollt« (Manifest S. 48). Hier wird erneut ein gegensätzlicher Wille der Adressaten angenommen: Offenbar steht ihr falsches Bewußtsein, das aus dem Mitmachenwollen resultiert, unversöhnlich und für immer allen Anstrengungen der Krisis entgegen. Was sind "die Menschen" denn nun für welche – muß man nur ihr "Unbehagen abrufen" oder sind sie willentliche und unverbesserliche Diener des Fetischs?! Den Leuten das "Wollen" zu vermiesen, ihnen klarzumachen, warum sie immer nur als abhängige Variablen vorkommen, kommt für die Krisis nicht in Frage. Denn an diesem Willen haben sie nichts zu kritisieren - außer, daß er nicht mehr in die Zeit paßt: »Statt zu begreifen, daß wir alle unaufhaltsam unrentabel werden und deshalb [!] das Kriterium der Rentabilität selber samt seinen arbeitsgesellschaftlichen Grundlagen als [!] obsolet [!] anzugreifen ist« (Manifest S. 34), arbeiten die Menschen einfach weiter. Der ganze Inhalt der Kritik soll also sein, daß die Geschichte dem "Wollen" der Leute einen Strich durch die Rechnung macht. Wer heute noch der Lohnarbeit nachgeht, kann daher wohl kaum ein vernünftiger Mensch sein. Diese Argumentation setzt außerhalb der Beweggründe der Kritisierten an, indem sie auf eine angeblich objektive historische Überholtheit verweist. Am Ende teilt sich die Menschheit in Leute, die "Up-to-date" sind und um die Überholtheit der Arbeit wissen und solche, die dem "Leichnam" weiter huldigen (wollen).

Für die Autoren muß nichtsdestotrotz ein "Bruch" stattfinden. Dessen Möglichkeit liegt darin, daß die Leute nicht nur konterrevolutionäre Fetischanhänger, sondern auch Opfer des angeblichen Selbstzwecks sind, den sie da tagtäglich reproduzieren – zumindest in den Augen des Kritikers, der das im Unterschied zu ihnen erkennen kann. Irgendwie muß es dann aber doch möglich sein, diese gute Seite in den Menschen hervorzukitzeln. Die Krisis versucht’s ganz in autonomer Tradition mit einer Verweigerungsstrategie, der »negatorischen Bewußtheit – Verweigerung und Rebellion« (Manifest S. 41). Diese besteht kurz gesagt in folgendem: Das »Weltdeutungsmonopol des Arbeits-Lagers« (ebd.) aufbrechen – allen erzählen, daß die Arbeitsgesellschaft nun aber »definitiv« (ebd.) am Ende sei (KRISE! KRISE!) – Gegenöffentlichkeit schaffen – "Bündnis gegen die Arbeit" – Bevormundung abschaffen, Dinge selbst in die Hand nehmen – nicht zulassen, daß der Begriff "Arbeit" für so viele ganz unterschiedliche Tätigkeiten verwendet wird usw. Wichtig dabei ist die Wiederaneignung von sozialen Beziehungen und »Ressourcen« – z.B. in Form der extrem neuen und vielversprechenden Idee, schon im Kapitalismus »selbstbestimmte«, ökologische und allgemein vorzeigbare Projekte zu starten. Wer dann noch Zeit hat, kann sich daran machen, recht blumige Szenarien zu entwerfen, die den »Arbeitsmenschen« das neue Zeitalter ohne Arbeit schmackhaft machen sollen: Alle Tätigkeit wird in »persönliche Lebenszusammenhänge integriert« (Manifest S. 45; und was ist, wenn ich den Orangensaft, den ich produziere, zufällig nicht mag – ist das schon ein Verstoß dagegen?). Der Mensch findet wieder ein Sinnverhältnis zu eigenen Tätigkeit, weil sie nun in gewissen Bezügen steht (darauf kommt man nur, wenn man vorher von einem "Selbstzweck" ausgegangen ist, den es nun abzuschaffen gilt – das Problem der kapitalistischen Lohnarbeit liegt aber nicht in einem Mangel an Sinn, sondern in der Tatsache, daß ihr Sinn darin besteht, Mehrwert abzuwerfen!). Es wimmelt plötzlich von »bewußt und selbstreflexiv handelnden Menschen« (Manifest S. 43; als ob es die in der bürgerlichen Gesellschaft nicht auch schon gäbe!). Die »albernen Belustigungsgegenstände« (S. 45) des Kapitalismus fallen weg, damit der Mensch ganz bei sich sein kann (wird’s dann noch Kinofilme geben?). Sogar die Langsamkeit wird wiederentdeckt (hoffentlich nicht als Leitlinie der Produktion – dann kommt da nicht viel bei raus, was man in den Stunden der Muße konsumieren könnte).

Alle diese Punkte haben einen spezifischen Bezug auf die gesellschaftliche Realität im Kapitalismus gemeinsam: Sie wird als ein einziges Hindernis bei einer Sinnsuche gesehen, die alles Gegenwärtige und Zukünftige daraufhin befragt, wie es um die Moral bestellt ist. Man will nämlich eins sein mit allem, was einen so umgibt, ob das nun Tätigkeiten, Dinge oder gesellschaftliche Verhältnisse sind. So kommt es, daß das "Manifest" an die Arbeit diese zentrale Forderung heranträgt: Sie soll höheren Bedürfnissen genügen. Wir halten es für ganz falsch, an eine so "weltliche" Sache wie die Produktion von Gebrauchsartikeln einen solchen Maßstab anzulegen – stattdessen ist sie schlicht so einzurichten, daß sie möglichst viel Nützliches mit möglichst wenig Aufwand abwirft. Das ist dann auch schon alles; ob die Produktion und der Mensch dabei "bei sich" sind, ist uns egal. Wer aber alles auf einen transzendenten Sinn hin einrichtet, kennt offensichtlich noch einen anderen Zweck als den, daß es den Menschen gutgehen soll. Die Autoren des "Manifests" betrachten eine Sache nie für sich, als das, was sie ist , sondern immer von höherer Warte aus – ist den transzendenten Vorstellungen vom Eins-Sein Genüge getan oder muß man sich ekeln?

Insgesamt geht’s also um den Aufbau einer philosophisch hochwertigen Gegengesellschaft, die im Moment einiges "vorleben", »Brückenköpfe einnehmen« (Manifest S. 49) und »Forderungen an den Staat« (ebd.) richten muß, um später die Arbeit abzuschaffen. Das ganze hat recht wenig zu tun mit der Analyse und Kritik der schädlichen gesellschaftlichen Verhältnisse und der Aufklärung darüber, warum man lieber etwas dagegen unternehmen sollte. Stattdessen handelt es sich um eine Mischung aus diskurstheoretischen Eingriffsstrategien, Vorstellungen von einer ökologischen und auch anderweitig vorbildlichen Nischenexistenz in der Warengesellschaft und Ideen, wie der Mensch mit seinen vielfältigen Neigungen wieder ganz bei sich sein könnte, um nicht mehr Abscheu vor sich selbst empfinden zu müssen. Vorstellungen von der innigen Verbundenheit von Mensch und Umwelt oder dem anzustrebenden Eins-Sein von Mensch und "Kosmos"/"Lebenswelt" sind schon von gesellschaftlichen und religiösen Strömungen formuliert worden, die zumindest wir für ziemlich kritikabel halten.

"Geht nicht mehr" – was für eine Diagnose!

Das gesamte "Manifest gegen die Arbeit" ist durchzogen von einer Aufzählung von Daten und Fakten, die dem Leser verdeutlichen sollen, daß das, was hierzulande stattfindet, nicht mehr "geht". Kapitalismus ist Arbeit, ersterer ist in der Krise, weil zweitere im Verschwinden begriffen ist und nur noch von den Herrschenden »simuliert« (Manifest S. 9) wird. Und deshalb soll man drittens als Kritik am Willen der Lohnabhängigen sagen können: "Was ihr da wollt, geht nicht mehr." Für diese Behauptungen läßt der Text in schlechter Tradition der Krisis-Strömung alles mögliche als Begründung gelten, was bei näherem Hinsehen gerade fürs Gegenteil steht (s.u.).

Ein solcher Standpunkt kümmert sich nicht darum, was das eigentlich genau ist, das da nicht mehr funktionieren soll. Er spekuliert nicht darauf, daß Leuten einleuchten könnte, was am Kapitalismus schlecht ist, sondern darauf, daß sie Opportunisten sind: "Diese Gesellschaft ist am Ende – wollt ihr nicht lieber bei uns mitmachen, die wir auf der Siegerseite der Geschichte stehen werden?!" Die Annahme liegt nahe, daß sich von so einer Diagnose kein Anhänger der bürgerlichen Gesellschaft überzeugen lassen wird. Denn dieser versucht sich eben so lange in den Verhältnissen einzurichten, bis man ihm das argumentativ austreibt; bis dahin wähnt gerade er sich – wie der kapitalistische Westen im Ganzen – auf der Siegerseite!

Um zu wissen, was man von einer Sache halten soll, versucht man herauszubekommen, was sie ist, worin ihr Zweck besteht. Dann kann man zweifelsfrei sagen, welche Haltung ihr gegenüber angebracht ist – auch wenn sie gerade mit wenig Erfolg gesegnet ist, wie z.B. das Anliegen, eine andere Gesellschaft aufzubauen. Man müßte schon seinen theoretischen Standpunkt wechseln, um wegen ihres Bestands zum Fan der kritisierten Gesellschaft zu werden. Wer als Hauptargument "Der Kapitalismus geht nicht mehr!" zu bieten hat, ist sehr viel unkritischer, als er denkt – oder würde durch den blöden Einwand "Kritiker gibt’s bald nicht mehr" sich etwa jemand vom Argumentieren abbringen lassen? Wer so einen Glaubenssatz dann noch ständig wiederholt, blamiert sich, solange diese Ökonomie derart fest im Sattel sitzt wie heutzutage.

Und wer eine angebliche historische Überholtheit als Hauptargument ins Feld führt und sich nicht um den Zweck der ganzen Sache kümmert, kommt zu ganz erstaunlichen Ergebnissen, die Arbeitslosigkeit betreffend.

Nachtrag: Der Kapitalismus – eigentlich eine Arbeitsbeschaffungsmaschine?

Zentrales Maß für das Gelingen des Kapitalismus ist für die Krisis-Gruppe der Grad der Beschäftigung; die Höhe der Arbeitslosigkeit daher umgekehrt Ausweis der Krise. Daß die Apokalyptiker sonst nichts am Kapitalismus zu kritisieren haben, wurde besonders deutlich, als Robert Kurz sich im Januar diesen Jahres im Rahmen einer Diskussionsrunde im ZDF nicht entblödete, die Zeit des "Wirtschaftswunders" für seine "Integrationskraft" zu loben - als wenn damals alles in Butter gewesen wäre und der ganze wirtschaftliche Aufschwung nicht mit der nützlichen Armut eines großen Teils der Leute zu tun gehabt hätte: ein Hohelied auf den Kapitalismus!

Die Diagnose "Heute schafft der Kapitalismus das nicht mehr" läßt jedenfalls nur den Schluß zu, daß es dem Kapitalismus vorher wohl darauf angekommen sein muß, die "Arbeitsfetischisten" mit Arbeitsplätzen auszustatten. Das ganze Gerede lebt allein von der Gleichung: "Ansteigende Arbeitslosigkeit = Ende der Arbeitsgesellschaft". Der Kapitalismus wird dabei an einem falschen, nämlich einem idealistischen Maßstab gemessen, am Maßstab der Versorgung der Menschen mit Arbeit. Damit wird aus dem Zwang zur Arbeit gegen Lohn, dem in der Marktwirtschaft bedingungslos alle Einkommensabhängigen unterworfen sind, ein Auftrag zur Arbeitsbeschaffung an diese Produktionsweise abgeleitet.

Dem zum Spott macht die kapitalistische Produktionsweise nicht erst seit gestern eindrucksvoll klar, worauf es bei ihr jedenfalls nicht ankommt und stellt den seit Jahrzehnten mangels profitabler Anwendbarkeit ihrer Arbeitskraft und mangels zahlungsfähiger Nachfrage überflüssigen Trikontbewohnern noch etliche Millionen Westeuropäer als relative Überbevölkerung zur Seite.

So funktioniert nun einmal der Kapitalismus - rücksichtslos in der Konkurrenz von Betrieben und Ländern, rücksichtslos gegenüber den Lebensbedürfnissen aller auf Geldeinkommen angewiesenen Menschen. Und er hat nie anders funktioniert und wird solange weiterfunktionieren, bis die, die den Schaden davontragen, mit ihm Schluß machen.

Gruppe 3
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