Quelle: Bürgerrechte & Polizei/CILIP 65 (1/2000)

Die Ausländerkriminalität sinkt nicht!
Der Zusammenhang von Kriminalstatistik und Rassismus


von Oliver Brüchert

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Mit Statistiken lässt sich ohne offenkundige Fälschung und Täuschungsabsicht Schindluder treiben. Es reicht, zu wenig Angaben über die Erhebung der Daten und die verwendeten Auswertungsverfahren zu machen. Eine erfreuliche Ausnahme stellt die „Polizeiliche Kriminalstatistik“ (PKS) dar, die u.a. aufgrund der langen kontinuierlichen Erhebung vielfältige Informationen für eine sorgfältige Interpretation enthält. Dennoch wird regelmäßig unter Berufung auf die PKS von steigender oder sinkender „Ausländerkriminalität“ berichtet. Richtig gelesen enthält die PKS keine Daten über „Ausländerkriminalität“, sehr wohl aber über Rassismus.

Dieser Beitrag könnte mit einer guten Nachricht beginnen: der Anteil der in der PKS erfassten „nichtdeutschen Tatverdächtigen“ ist – wie bereits in den Jahren zuvor – auch 1998 zurückgegangen. Nach einem Höchststand 1993 (33,6% aller Verdächtigten) liegt ihr Anteil nun bei 27,1%. Entwarnung also. Die gute Nachricht hat allerdings einen Haken. Sie deutet in die Statistik etwas hinein, was dort nicht nur nicht drin steht, sondern im Begleittext sogar explizit als Fehlinterpretation gekennzeichnet wird, die tunlichst zu unterlassen sei.

Meldungen wie jene in der „taz“ vom 24. März 1998: „Polizeistatistik: Kriminalität sinkt“ stellen offenbar den Versuch dar, den Rufen nach noch mehr „Innerer Sicherheit“ und weiterer Einschränkung von Bürgerrechten etwas Handfestes entgegenzusetzen, die Kanthers und Schilys mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Bis Anfang der 90er Jahre waren die von der Polizei bearbeiteten Fälle beharrlich angestiegen. Das war Wasser auf den Mühlen der Sicherheitspolitiker. Die KritikerInnen hingegen verwiesen darauf, dass die Kriminalstatistik kein getreues Abbild der Kriminalität hergebe. Insbesondere mit der Kategorie der „nichtdeutschen Tatverdächtigen“ sei zurückhaltend umzugehen. So erklärt der Soziologieprofessor Rainer Geißler in einem Interview der „taz“ vom 2. Oktober 1998:

„Ich habe 1990 in einem Brief an das Bundeskriminalamt Differenzierung gefordert. Seitdem taucht in der PKS ein Vorspann auf, der darauf verweist, dass die Zahlen der ‚nicht-deutschen‘ Gruppierung nicht mit denen der Wohnbevölkerung verglichen werden dürfen (...) Im Grunde genommen ist diese Statistik ein Rechenschaftsbericht der Polizei (...) Es müsste eigentlich ‚die Entwicklung der Tatverdächtigenzahlen‘ heißen und nicht der Kriminalität.“

Dem wäre nichts hinzuzufügen. Seit Mitte der 90er Jahre ist jedoch ein leichter Rückgang der PKS-Zahlen zu verzeichnen. Während konservative SicherheitspolitikerInnen ihre Argumentation auf die „Intensivstraftäter“, die „Jugend-“ oder die „Organisierte Kriminalität“ abstellen, wo im einen Fall die Anzeigen, im anderen vor allem die Schadenssummen weiter steigen, feiern die einstigen KritikerInnen naiv den Rückgang in den meisten Rubriken der PKS. Zwar seien die Zahlen der PKS „mit Vorsicht zu genießen, denn die Statistik ist in erster Linie ein Tätigkeitsbericht der Polizei“ – so der bereits zitierte taz-Bericht vom 24. März 1998. Das hindert aber nicht daran, ihnen im selben Beitrag den Rang von Tatsachen einzuräumen. Ein weiteres typisches Beispiel, zu welchen Behauptungen die allzu guten Absichten verleiten, gibt Martin Klingst in der „Zeit“ vom 10. Juni 1998: „Ein Blick hinter die Kulissen der Zahlenspiele ist wichtig. Dessen ungeachtet bleibt die besorgniserregende Erkenntnis: Junge Ausländer begehen im Vergleich mehr Eigentums- und Gewaltdelikte als ihre deutschen Altersgenossen.“ Der Beitrag trägt die Überschrift „Schluss mit der Polemik“ und plädiert dafür, AusländerInnen und AussiedlerInnen bessere Bildungschancen zu verschaffen. Er endet mit dem bemerkenswerten Satz: „Die Wahrheit ist zu kompliziert für plumpe Polemik mit nackten Zahlen aus der Kriminalstatistik.“

Tatsächlich ist das Wissen über die eingeschränkte Aussagekraft der PKS nirgends so explizit zusammengefasst wie im Text der Statistik selbst. Im Vorspann zum Abschnitt „Nichtdeutsche Tatverdächtige“ heißt es u.a., „ein Vergleich der tatsächlichen Kriminalitätsbelastung der nicht-deutschen Wohnbevölkerung mit der deutschen“ sei „schon wegen des Dunkelfeldes der nicht ermittelten Täter in der Polizeilichen Kriminalstatistik nicht möglich“. Ferner enthalte die Bevölkerungsstatistik „bestimmte Ausländergruppen wie vor allem Illegale, Touristen/Durchreisende/Besucher, Grenzpendler und Stationierungsstreitkräfte nicht, die in der Kriminalstatistik als Tatverdächtige mitgezählt werden (...) Die Kriminalitätsbelastung der Deutschen und Nicht-Deutschen ist zudem aufgrund der unterschiedlichen strukturellen Zusammensetzung (Alters-, Geschlechts- und Sozialstruktur) nicht vergleichbar. Die sich in Deutschland aufhaltenden Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft sind im Vergleich zur deutschen Bevölkerung im Durchschnitt jünger und häufiger männlichen Geschlechts. Sie leben häufiger in Großstädten und gehören zu einem größeren Anteil unteren Einkommensschichten an (...) Dies alles führt zu einem höheren Risiko, als Tatverdächtige polizeiauffällig zu werden. Zu berücksichtigen ist weiterhin ein beachtlicher Anteil ausländerspezifischer Delikte. So liegt der Ausländeranteil an den Tatverdächtigen bei den Straftaten gegen Ausländer- und Asylverfahrensgesetz naturgemäß mit 94,5% (1997: 94,1%) sehr hoch.“ (Hervorhebungen im Original)[1]

Wieso also, fragt man sich, können sich hartnäckig Interpretationen halten, die alljährlich unter Berufung auf die neue PKS einen Anstieg oder Rückgang der „(Ausländer)Kriminalität“ verkünden? Auch in der Einleitung und in den anderen Kapiteln enthält die PKS viele „Warnschilder“, die über die Bedeutung der Zahlen wirklich keinen Zweifel lassen. Es stellt sich eher die Frage, warum das BKA so viele nachdrückliche Hinweise für geboten hält, wenn schon die „nackten Zahlen“ nach allen Regeln der Kunst bearbeitet sind. So verzichtet das BKA selbstverständlich und von vornherein im Abschnitt „Nichtdeutsche Tatverdächtige“ auf die Nennung von „Häufigkeitszahlen“ („Tatverdächtige“ bezogen auf 100.000 Einwohner), die einen Vergleich der „Deutschen“ mit den „Nichtdeutschen“ Verdächtigten überhaupt erst ermöglichen würden. Die absoluten Zahlen (1998 waren es 2.319.895 Verdächtigte, darunter 628.477 „nichtdeutsche“) sagen für sich alleine beim besten Willen nichts aus, ohne sie zumindest im Hinterkopf an einer Vergleichsgröße zu orientieren, z.B. eben dem Bevölkerungsanteil. Dies ist aber eine Zutat der InterpretInnen (auch der „kritischen“), die in der PKS selbst aus gutem Grunde unterbleibt.

Man kann versucht sein zu fragen, wieso die Kategorie „nichtdeutsche Tatverdächtige“ in der PKS überhaupt auftaucht.[2] Als sei dies selbstverständlich, wurde dieses Merkmal schon seit der Entstehung der PKS 1953 – also gerade einmal acht Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus – erfasst und entsprechend ausgewertet. In Österreich hatte man offenbar mehr Skrupel und führte die Kategorie „Ausländer“ erst 1971 (zuerst separat und seit 1975 zusammen mit der allgemeinen Kriminalstatistik) wieder ein. Immerhin ermöglicht diese Kategorie die folgende (Re-)Interpretation als Information über staatlichen und gesellschaftlichen Rassismus.

PKS als Informationsquelle über Rassismus

Als Rassismus bezeichne ich Formen der sozialen Ausschließung, die sich auf Kategorien der Abstammung und der nationalen Herkunft von Menschen stützen. Das umfasst die öffentliche Moralisierung, Etikettierung und Stigmatisierung, vor allem aber (aus diesem rassistischen Diskurs abgeleitet) den Entzug/die Nichtgewährung von Rechten und direkte Benachteiligungen. Das betrifft im Zusammenhang mit „Kriminalität“ vor allem die Selektivität des Rechts und seiner Organe – Polizei, Justiz und diskriminierende Gesetze (z.B. Abschiebehaft und Abschiebung zusätzlich zur Strafhaft). Man kann grob drei Ebenen unterscheiden, aus denen sich ein solcher Rassismus aus der PKS ablesen lässt: 1. diskriminierende gesetzliche Regelungen, 2. bürokratische Routine und polizeiliche Aufmerksamkeiten, 3. Anzeigen durch Privatpersonen.

Einen ersten Einblick gewinnt man, wenn man aus der PKS die Delikte heraussucht, bei denen „nichtdeutsche Tatverdächtige“ einen (gemessen an ihrem Anteil in der Gesamtstatistik) besonders hohen Anteil aufweisen. Zuerst stößt man dabei auf Straftaten gegen das Ausländer- und das Asylverfahrensgesetz, wo „nichtdeutsche Tatverdächtige“ naturgemäß einen Anteil von über 90% haben. Hier wirkt sich die schlichte Existenz von (strafbewehrten) Gesetzen aus, die sich ausschließlich oder überwiegend auf Menschen beziehen, die keinen deutschen Pass haben. Das ist von vornherein einsichtig bei den Asyl- und Ausländergesetzen, bei denen man sich stellenweise fragt, wie es einem „Deutschen“ überhaupt gelingen soll, dagegen zu verstoßen. Ein weiterer Bereich, in dem die „nichtdeutschen Tatverdächtigen“ stark überrepräsentiert sind, sind Drogendelikte. Hier ist von vornherein bekannt, dass es sich überwiegend um grenzüberschreitende Aktivitäten handelt, bei denen im Zuge des von Ronald Reagan ins Leben gerufenen und nach Europa importierten „war on drugs“ die Strafverfolgung und Bestrafung in den letzten 20 Jahren kontinuierlich verschärft wurde.[3]

Unterscheidet man die in der PKS erfassten Delikte danach, ob sie vorwiegend auf Anzeigen aus der Bevölkerung oder auf dem Tätigwerden von Polizei und Strafverfolgung basieren, fällt auf, dass 1. Delikte, deren Bekanntwerden von der Intensität staatlicher Überwachung und Kontrolle abhängt, in den letzten zwanzig Jahren am stärksten angestiegen sind, dass 2. bei diesen Delikten der Anteil der „nichtdeutschen Tatverdächtigen“ in der Regel besonders hoch ist. Dazu gehören u.a. die Delikte der strafrechtlichen Nebengesetze (in der PKS unter Ziffer 7000), zu denen sowohl die drogen- sowie die ausländer- und asylrechtlichen Strafnormen als auch solche des Umwelt- und Wirtschaftsrechts fallen – allesamt „opferlose Delikte“, deren Bekanntwerden weitgehend von der Arbeit der Ermittlungsbehörden abhängt. Deren Zahl ist von 109.223 im Jahr 1976 auf 507.810 1998 angestiegen, hat sich also fast verfünffacht, während sich die Gesamtzahl aller erfassten Delikte im selben Zeitraum etwa verdoppelt hat. Gleichzeitig haben die „nichtdeutschen Tatverdächtigen“ in dieser Gruppe einen Anteil von 55%, sind also besonders stark „überrepräsentiert“. Ähnliches gilt für Delikte des Strafgesetzbuches wie „Menschenhandel“, „Urkundenfälschung“, „Sozialleistungsbetrug“ und „Hehlerei von Kfz“, also entweder Delikte, die vorwiegend grenzüberschreitend begangen werden, oder solche, die sich im Zusammenhang mit Verstößen gegen das Ausländer- und Asylverfahrensgesetz ergeben.

Darüber hinaus sind unter den „nichtdeutschen Tatverdächtigen“ besonders häufig (und in den letzten 15 Jahren zunehmend) solche mit „illegalem“ Aufenthaltsstatus (1998 22,4% aller „nichtdeutschen Tatverdächtigen“) und solche aus der Kategorie „Sonstige“ zu finden, d.h. „z.B. Erwerbslose, nicht anerkannte Asylsuchende mit Duldung, Flüchtlinge“[4] (1998 25,9%). Fast die Hälfte aller „nichtdeutschen Tatverdächtigen“ hat also einen prekären Aufenthaltsstatus. (Hier nicht eingerechnet sind Asylsuchende, auf die weiter unten noch genauer eingegangen wird.) Menschen also, die sich leicht kontrollieren lassen, weil sie ohnehin regelmäßig bei bestimmten Behörden vorstellig werden müssen, die mitunter schon ob ihrer Gegenwart an einem bestimmten Ort eines Deliktes verdächtig, die „sozial schwach“ und mittellos sind.

An diesem Befund setzt ein öffentlicher Diskurs über die „guten, weil integrierten“ versus die „kriminellen, weil desintegrierten“ AusländerInnen an. Der Kriminologe Christian Pfeiffer schreibt in der Zeit: „Dass 1994 die Zahl der Tatverdächtigen zurückgegangen ist, beruht in erster Linie auf der Abnahme von polizeilich registrierten Asylbewerbern nach dem Inkrafttreten des neuen Asylrechts. Dies gilt besonders für die seit Anfang der 90er Jahre extrem angestiegenen Ladendiebstähle sowie für Verstöße gegen Asyl- und Ausländergesetz und Urkundendelikte. Freilich gehört in diesen Zusammenhang eine wichtige ergänzende Information: Die Kriminalität nichtdeutscher Arbeitnehmer, also solcher Ausländer, die in unserem Land sozial einigermaßen integriert sind, ist seit Mitte der 80er Jahre leicht rückläufig. Dies zeigt eines deutlich: Nicht die Ausländer sind das Problem, sondern die Tatsache, dass ein großer Teil von ihnen arm und sozial ausgegrenzt ist.“[5]

Ein anderer Schluss liegt näher: Nicht die AusländerInnen sind das Problem, sondern dass sich ein Teil von ihnen besonders leicht kriminalisieren lässt, weil sie ohnehin rechtlos sind, weil sie besonders leicht die Aufmerksamkeit der Polizei erregen und weil sie in den Stadtteilen leben, in denen die Kontrolldichte ohnehin am höchsten ist. Verfolgt man den Zusammenhang zwischen den registrierten Asylsuchenden und den angezeigten Straftaten weiter, stößt man in der PKS auf die nebenstehend abgedruckte Grafik. Der darin erkennbare Höhenflug der Zahl verdächtigter Asylsuchender 1992/93 korrespondiert nicht, wie oft behauptet wird, mit der Zahl der Asylsuchenden insgesamt. Dann hätte der Anstieg nämlich bereits 1990 einsetzen müssen und der Rückgang infolge der Asylrechtsabschaffung wäre wesentlich drastischer ausgefallen. Wenn man sich hingegen das politische Klima 1992/93 in Erinnerung ruft, die öffentliche Dramatisierung der „Scheinasylanten“ u.ä.m., lässt sich die Verdoppelung der verdächtigten Asylsuchenden in nur zwei Jahren leicht über eine gesteigerte Anzeigebereitschaft gegen die öffentlich Gebrandmarkten erklären. Der oben erwähnte Ladendiebstahl ist zudem ein geradezu klassisches Delikt, dessen statistische Konjunktur ausschließlich von eingehenden Anzeigen abhängt. Der Rückgang ergibt sich also nicht aus der Zahl potentieller „Tatverdächtiger“, sondern aus der teilweisen politischen Kanalisation der rassistischen Stimmung gegen Asylsuchende in eine rigorose Abschiebepraxis.

Entwicklung nichtdeutscher TV nach dem Aufenthaltsgrund (aus: PKS 1998, S.117)

PKS-Schaubild

Zusammenfassend ergibt sich ein durchgängiges Bild staatlichen und gesellschaftlichen Rassismus, wenn gegen nicht hier Staatsangehörige spezielle Strafgesetze in Anschlag gebracht werden, sie (insbesondere die sozial Schwachen mit prekärem Aufenthaltsstatus) von Strafverfolgung selektiv betroffen sind, und gegen sie (zu bestimmten Zeiten) eine erhöhte Anzeigebereitschaft in der Bevölkerung besteht. Die PKS handelt von sozialer Ausschließung und nicht von Kriminalität.

Die Attraktivität von Fehlinterpretationen

Man kann unterstellen, dass die Kritik des Missverständnisses der PKS-Zahlen als Bericht über „Kriminalität“ bekannt ist. Ich habe diese Kritik hier zugespitzt und argumentiert, dass die PKS kein (also auch kein schlechtes) Maß für Kriminalität hergibt, sondern u.a. ein brauchbares Maß für Rassismus. Die vor allem unter kriminologischen WissenschaftlerInnen verbreitete Reaktion auf diesen Befund ist in der Regel die Suche nach anderen Methoden, Kriminalität zu messen.

Allgemein hoch im Kurs stehen dabei derzeit die „selbstberichtete Delinquenz“ und Opferbefragungen. Es sei nur kurz darauf hingewiesen, dass man damit Selbstdarstellungen der Beteiligten erhebt – interessierte Selbstdarstellungen, wenn man bedenkt, dass die erfolgreiche Reklamierung des Täter- oder Opferstatus in manchen Situationen ebenso vorteilhaft erscheinen mag wie deren Zurückweisung in anderen. Jedenfalls kann man nicht ernsthaft hoffen, damit Indikatoren für die „tatsächliche Kriminalität“ an der Hand zu haben. Das heißt wiederum nicht, dass eine Interpretation, die den Charakter der erhobenen Berichte als Selbstdarstellungen berücksichtigt, keine interessanten Ergebnisse liefern könnte, z.B. eben zu der Frage, für wen es unter welchen Bedingungen attraktiv ist, sich als Täter oder Opfer darzustellen.

Wichtiger ist die Frage, warum man überhaupt versuchen sollte, „(Ausländer)Kriminalität“ zu messen. Welche (gesellschaftlichen und politischen) Interessen stecken dahinter? Ich habe in diesem Artikel bewusst die wohlmeinenden Versionen der Rede von der „Ausländerkriminalität“ zitiert, die nicht ohnehin rassistisch argumentieren, sondern sich für einen (wie auch immer gearteten) freundlichen Umgang mit den Betroffenen engagieren. Zumeist laufen die Forderungen auf mehr „Integration“ durch Bildung, Arbeit und soziale Hilfestellungen hinaus. Dafür wird nicht nur – wenn die Zahlen einem günstig erscheinen – eine Lesart der PKS in Anspruch genommen, die man sonst – wenn die Zahlen nicht genehm sind – empört zurückweist. Es werden auch Unterscheidungen wie die zwischen „ausländischen Intensivstraftätern“ und „türkischen Mitbürgern“ untermauert und ein gesellschaftlicher Konsens impliziert, demgemäß nicht soziale Ausschließung das Problem sei, sondern die Ausgeschlossenen. Solche Positionen sind weder kritisch, noch aufklärerisch, noch antirassistisch.

Oliver Brüchert ist Mitherausgeber der „Neuen Kriminalpolitik“ und forscht am Arbeitsschwerpunkt Devianz und Soziale Ausschließung an der Universität Frankfurt/M. Politisch ist er bei den Jungdemokraten/Junge Linke und beim Komitee für Grundrechte und Demokratie aktiv.

[1] Bundeskriminalamt: Polizeiliche Kriminalstatistik 1998, Wiesbaden 1999 (im Folgenden: PKS 1998), S. 105 (im Internet unter http://www.bka.de/pks/pks1998/index.html)
[2] Schon die Bezeichnung „Tatverdächtige“ ist eine verdinglichende Zuschreibung, weil sie unterstellt, Verdächtigsein sei eine Eigenschaft des Verdächtigten und nicht eine Tätigkeit des Verdachthegenden, der daraufhin eine Anzeige macht, und der Polizei, die diese aufnimmt und in den Zählbogen für die PKS einträgt.
[3] vgl. Chambliss, W.J.: Power, Politics, and Crime, Boulder, Colorado 1999, insb. das Kapitel: The War on Drugs: America's Ethnic Cleansing
[4] Bundeskriminalamt a.a.O. (Fn. 1), S. 116
[5] Die Zeit v. 21.7.1995