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Das Kartell der Beweglichkeit und der soziale Widerstand

von Joachim Bischoff und Richard Detje
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Die Regierungskoalition ist nach »gutem parlamentarischen Brauch« intensiv damit beschäftigt, jene sozialen und politischen Grausamkeiten umzusetzen, die in der ersten Hälfte einer Legislaturperiode erfolgen müssen, will man die Wiederwahl nicht gefährden. So soll noch vor der Halbzeit eine große Steuerreform, die Umrüstung der Bundeswehr in eine international einsetzbare Krisenreaktionstruppe, der Atom-Konsens mit der Stromwirtschaft und der Umbau der Rentenversicherung durch die Gesetzesmühle gedreht werden.

Dieses Arbeitsprogramm zur Beseitigung des berüchtigten »Reformstaus« kostet den Koalitionspartner Bündnis 90/die Grünen die politische Identität. In Münster ist mit der Wahl der Parteivorsitzenden Künast und Kuhn der Niedergang des linken Flügels festgeschrieben worden. In dem 16-köpfigen Parteirat ist die Linke nicht mehr vertreten, die Partei ist erfolgreich von den Realos erobert worden. Für Außenminister Fischer ist – nach der knappen Zustimmung der Grünen zum NATO-Krieg in Jugoslawien – mit der deutlichen Zustimmung zum Atomkompromiss ein Lebensabschnitt der Grünen zu Ende gegangen: »Jetzt müssen wir uns inhaltlich neu erfinden, ohne uns selbst zu verlieren.«

Nicht nur die Journalisten, auch das Wahlvolk bescheinigt der mainstreamförmigen Regierungspartei rapide politische Auszehrung, intellektuellen Substanzverlust und eine dünner werdende Personaldecke. Jetzt haben die besten Politik-Verkäufer die Führung der Partei übernommen und hoffen durch Deckelung innerparteilicher Opposition und publikumswirksame Performance die Wählergunst zurückzugewinnen. Aber der Verlust der Friedensinitiativen, der Anti-Atomkraft-Aktivisten und die wachsende Distanz der Umweltverbände wird sich nicht durch einfaches Themen-Zappen kompensieren lassen.

Nur der sozialdemokratische Kriegminister Scharping grantelt noch über die Bündnisgrünen: »Wenn in der Koalition mehr Opposition gemacht wird, als die CDU/CSU überhaupt fähig ist zu machen«, dann gleiche das dem Verhalten eines »rechthaberischen Kindes«. Seine Kompagnons in der SPD-Führung sind über den Anpassungsprozess der Grünen höchst zufrieden. Nach der Drohung in Nordrhein-Westfalen, den kleiner gewordenen Koalitionspartner durch die gelifteten Freidemokraten zu ersetzen, wähnen sich die Sozialdemokraten in der Rolle der hegemonialen Führungskraft.

Der Bundeskanzler und SPD-Vorsitzende Schröder ruft seine Partei, vor allem die umfirmierte SPD-Linke, die Gewerkschaften, Sozialverbände und andere »befreundete« Organisationen auf, die »Koalition der Mitte« jetzt entschieden zu unterstützen. Es dürfe nicht zu einem »Kartell der Unbeweglichkeit« kommen, das erneut alle Modernisierungsprozesse blockiere. Dass sich Gewerkschaften, Sozial- und Umweltverbände zu einer Verteidigung der sozial-ökologischen Interessen ihrer Mitglieder gezwungen sehen könnten, will dem Boss der Bosse nicht einleuchten. Es braue sich im Lager der »neuen Mitte« ein Gemisch aus »Unkenntnis, parteitaktischem Verhalten und gelegentlicher Sozialromantik« zusammen, mit dem in letzter Konsequenz die Hegemonie von Rotgrün gefährdet werde.

Die Beschreibung von Schröder ist nicht schlecht. Es ist in der Tat so, dass sich unter Führung der Sozialdemokratie ein Kartell der Beweglichkeit zusammengefunden hat. Dieses Kartell verfolgt eine Politik, die durch die Wettbewerbsfähigkeit des bundesdeutschen Kapitals bestimmt wird. »Sozialromantik« ist, wenn die Einsicht in moderate Lohnabschlüsse, den Abbau der Lohnnebenkosten und Co-Partnerschaft mit dem Kapital verweigert wird. Doch wer will sich ein solches Etikett – oder den Vorwurf der Unbeweglichkeit und des »Traditionalismus« – heutzutage noch anheften lassen. Da ist es schon besser, Niederlagen in Erfolge umzudichten, beispielsweise in der Tarifpolitik: »insgesamt wurde der Spielraum einer ›produktivitätsorientierten Lohnpolitik‹, wie sie die Arbeitgeber im Bündnis wollen, für das Jahr 2000 deutlich überschritten.«1 Doch das sollte eigentlich nicht die Messlatte sein. Für die IG Metall hörte noch vor einem Jahr Bescheidenheit dort auf, wo Tarifabschlüsse auf dem Niveau von Produktivitäts- plus Preissteigerung getätigt werden – und sie hat dies in internationalen Abkommen mit ihren Schwesterorganisationen in Europa festgehalten, um Lohndumping künftig zu verhindern. Klaus Lang ficht das alles nicht an: »das Bündnis für Arbeit hat in dieser Tarifrunde einen wichtigen Schritt gegen die Arbeitslosigkeit ermöglicht... Klare Forderungen, für die auch notfalls mobilisiert werden kann, müssen die Gewerkschaften dazu in Bündnisgesprächen voranbringen.«

Genau in diesem »notfalls mobilisieren« liegt die Crux. Ohne Mobilisierung wird sich die Krise der Gewerkschaften und der politischen Repräsentation insgesamt beschleunigt fortsetzen. Es ist unakzeptabel, dass ohne klare Positionsbestimmung zu den Verteilungsrelationen Bündnisgespräche mit den Unternehmen und den rotgrünen Führungskräften der politischen Klasse geführt werden. Nur bei entsprechender Mobilisierung von Gewerkschaften, Sozial- und Umweltverbänden könnte von »Waffengleichheit« überhaupt die Rede sein. Die Entscheidung, wohin die Reise geht, wird im Konflikt um die schrittweise Privatisierung der Alterssicherung fallen.

Im Unterschied zur Strategie der Neokonservativen, die sich durch fortgesetzten Konfrontationskurs eine Blockade eingefangen hatten, basiert die Politik der »neuen Mitte« auf Einbindung. »Im Korporatismus beginnt alles – von der Steuer über die Rente bis hin zur Lohnfindung – am tripartistischen Konsenstisch. Hier soll der makroökonomische Rahmen gesteckt, hier sollen verpflichtende wirtschaftspolitische Verabredungen getroffen werden. Das ›Sagen‹ in dieser Welt haben die Verbände, Gewerkschaften und Regierung. Der tripartistische Kreis ist ein Ausgleichsgremium. Die Akteure dieses Kreises übersetzen die Beschlüsse in ihre jeweiligen Verbände und Unterverbände. Von dort gehen die Maßgaben und Direktiven über an die Einzelunternehmen respektive Gewerkschaftsmitglieder. Die Hierarchisierung der korporatistischen Welt ist eine Top-down-Ordnung. Beim Bündnis für Arbeit im Frühjahr hat das sogar funktioniert.«2

Nach den mageren Ergebnissen der Tarifrunde 2000, der Bestandsgarantie für die Atomwirtschaft, der Unternehmenssteuerentlastung und den alles bisherige sprengenden Zumutungen der Renten»reform« formiert sich ein Kartell der Unbeweglichkeit – das hat das Führungszentrum der politischen Klasse klug erkannt und erhöht den Druck. Wo stehen wir also?

1. Die beschleunigte Transformation der grünen Partei ist selbst ein Ergebnis der Top-down-Strategie. Was mit der zügigen Zustimmung zur Kriegsführung begann, konnte über die Lohnnebenkostenlogik und die Konsenspolitik in Sachen Atomstrom fortgesetzt werden. Die von Josef Fischer geforderte Neuerfindung ohne Identitätsverlust kann nicht gelingen. Die verbliebenen Funktionäre und Mandatsträger sind längst zu gefügsamen Mitläufern der politischen Klasse mutiert. Im Unterschied zum Konkurrenten FDP hat der Großteil der Funktionsträger keinerlei Vermögensrücklagen und ist auf die Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum über politische Umverteilung angewiesen.

2. Der Kanzler gefällt sich in der Pose, über die SPD-Restlinke herzuziehen. Von der ist zu vermelden, dass sich aus dem Frankfurter Kreis ein neuer Verein gegründet hat. So what? Einen Nachweis für Widerstand gegen die Top-down-Politik ist die verbliebene SPD-Linke bislang schuldig geblieben. Verlässlicher sind solche »Traditionalisten«, die um die Bedeutung des Sozialstaates bei Zivilisierung des Kapitalismus wissen, statt inhaltsleer über Zivilgesellschaft zu schwafeln. Rudolf Dreßler ist so einer. Auf einem Gewerkschaftskongress der HBV nach Veröffentlichung des Manifestes von Bodo Hombach zum aktivierenden Staat hatte er zu Protokoll gegeben: Wenn dies zur offiziellen Programmatik erhoben werde, ist die SPD nicht mehr seine Partei. Nachdem die Regierungspolitik immer mehr durch diese Programmatik inspiriert wird, darf Dreßler sein politisches Leben als Botschafter in Israel ausklingen lassen. In einer Abschiedsrede erteilt er den richtigen Ratschlag. »Wer aktuell in diesen Wochen die Haushaltsberatungen für das Jahr 2001 mit der Forderung – ich sage ›belastet‹ – eine Absenkung der Beitragsbemessung für Arbeitslosenhilfeempfänger auf die Grundlage der tatsächlichen Lohnersatzleistung zu reduzieren, der spart 3 Milliarden Mark. Der macht gleichwohl – und das gleichzeitig – ein Fass auf... Die Verschiebebahnhöfe legten den nächsten Sprengsatz an die GKV-Beiträge und damit auch an die Lohnnebenkosten.«3 Die nächsten Sparrunden und Verschiebungen in den Verteilungsverhältnissen sind uns sicher. Also noch mehr Top-down.

3. Die Top-down-Politik funktioniert auch in Richtung Opposition, wie die Einbindung von Graf Lambsdorff, des Verfassungsliberalen Hirsch und der ehemaligen Parlamentspräsidentin Süssmuth zeigt. Doch von diesen populistischen Wendungen im bürgerlichen Lager haben die subalternen Klassen nichts zu erwarten.

4. Mit der Losung »Raus aus dem korporatistischen Bündnis« ist wenig gewonnen. Selbstisolation spielt der Top-down-Strategie der Herren Schröder und Fischer in die Hände. Was wir brauchen, ist die Festigung des Kartells der vermeintlichen Unbeweglichkeit, die hartnäckige Verteidigung der berechtigten Interessen. Wenn die PDS ihren internen Tanz um das revolutionäre Kalb beendet, ohne zur Regionalpartei zu mutieren, sollte uns diese Verstärkung willkommen sein.

Joachim Bischoff und Richard Detje sind Redakteure von Sozialismus.

1 Klaus Lang, Tarifabschluss und Bündnis für Arbeit, Böckler-Rundbrief, Juni 2000.
2 Rainer Hank, Die New Economy verdrängt die Verbände, in: Die Mitbestimmung 6/2000, S. 26.
3 Rudolf Dreßler, Wider die Freiheitsversprechen, die keine sind. Rede vor der VdAK-Mitgliederversammlung am 14. Juni 2000 in Siegburg, Redemanuskript, S. 11.