Referat auf einer Veranstaltung von attac basel am 26. 6. 2000

Vom Regen in die Traufe?

Zur Situation in Russland 
10 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion

von Denis Paillard

7-8/00 trdbook.gif (1270 Byte) trend online zeitung Briefe oder Artikel: info@trend.partisan.net   ODER per Snail: Anti-Quariat Oranienstr. 45 D-10969 Berlin

Ich werde zuerst zu erklären versuchen, was in den letzten Jahren in Russland geschehen ist. Wir werden sehen, dass die Politik der sogenannten "Reformen" viel mit dem Siegeszug des Ultraliberalismus rund um die ganze Welt und seinen verheerenden Auswirkungen zu tun hat. In Russland waren die Folgen dieser Politik ausserordentlich tragisch und brutal für die Mehrheit der Bevölkerung. Ich werde also kurz auf diese "Reformen" und ihre Bedeutung eingehen, um dann in einem zweiten Teil etwas zur neuen Regierung von Wladimir Putin zu sagen: Welche Bedeutung kommt der Ablösung von Jelzin durch Putin zu? Wird es weiter gehen wie bisher, oder könnte es zu einem Bruch mit der Politik der 90er-Jahre kommen?

In der Zeitspanne von Dezember 1991, als die Sowjetunion in sich zusammenstürzte, bis heute wurden in Russland "Reformen" durchgeführt, die in Wirklichkeit Ausdruck einer Politik der Ausrottung grosser Teile der Bevölkerung sind. Eigentlich hat ja der Begriff "Reformen" einen positiven Beiklang, doch in diesem Fall ist unzweifelhaft das Gegenteil der Fall. In Russland wird oft noch ein stärkerer Ausdruck als jener der Ausrottung verwendet, um die Konsequenzen der "Reformpolitik" zu umschreiben: Man spricht von einem "ökonomischen Genozid" an der Bevölkerung. Ihr glaubt jetzt bestimmt, dass es sich um subjektive Fehlgriffe meinerseits handeln könnte. Das ist aber nicht so. Sogar die russische Duma (Parlament) hat im Frühjahr 1999 formell einer Erklärung zugestimmt, in der die Folgen der "Reformen" mit dem Begriff der Ausrottung der Bevölkerung umschrieben wurden.

Die industrielle Produktion in Russland ist während der 90er-Jahre um zwei Drittel gefallen. Es findet eine regelrechte Politik der Desindustrialisierung statt. Der Lebensstandard der russischen Bevölkerung liegt heute bei zehn Prozent des vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion erreichten Wertes. Dazu gibt es eine Reihe internationaler Studien. Sie zeigen auf, dass einE russischeR ArbeiterIn bei gleicher Qualifikation vor zehn Jahren ungefähr 20 Prozent des durchschnittlichen Einkommens eineR ArbeiterIn Westen verdiente. 1999 lag dieser Wert bei zwei Prozent. Allein im August 1998 sind die Reallöhne innert kurzer Zeit als Folge der brutalen Finanzkrise um 40 Prozent gesunken. Ausserdem wurde im Zuge der Reformen auch das Gesundheitswesen weitgehend zerstört, und die Schulen befinden sich in einem katastrophalen Zustand. Die LehrerInnen bekommen ihre Löhne nicht ausbezahlt. Die gebildeten Leute verlassen das Land wenn immer möglich. Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung sind auf ein Fünfzehntel gesunken, jene für Wissenschaft auf ein Fünfzigstel im Vergleich zu den 80er-Jahren.

Die "Reformen" wurden vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank ausgearbeitet. Wenn heute von Russland die Rede ist, spricht man oft von Chaos und vom Unvermögen der Eliten: Diese seien nicht fähig gewesen, den Sozialismus zu errichten, und jetzt würden sie bei der Restauration des Kapitalismus versagen. In Wirklichkeit handelt es sich um ein wohldurchdachtes Wirtschaftsprogramm, das den Interessen grosser Teile der ehemaligen Nomenklatura sowie jenen des international agierenden Kapitals entspricht.

Im Zentrum der "Reformpolitik" steht die Privatisierung. Auch bei uns im Westen finden Privatisierungsprozesse statt, doch in Russland haben sie eine ganz andere Dimension: Hier wurde fast alles privatisiert, wobei vor gut zehn Jahren noch beinahe die gesamte Wirtschaft in staatlichem Besitz war. Es gab kein Privateigentum. Innerhalb weniger Jahre wurde der gesamte wirtschaftliche Reichtum an eine kleine Schicht Neureicher verteilt. Oft wird denn auch gesagt, die russischen Privatisierungen stellten den grössten Raubzug des 20. Jahrhunderts dar. Zweitens haben die "Reformen" zu einer Hyperinflation geführt, zu einem sprunghaften Anstieg der Preise also. Die Ersparnisse der Bevölkerung wurden damit rasch wertlos. Drittens sind in den letzten Jahren Banken und andere Finanzinstitute entstanden, die den privatisierten Reichtum verwalten und die Entstehung des privaten Sektors mitgestalten.

Diese "Reformpolitik" begann zum Teil bereits unter Gorbatschow. Damals zeichnete sich ab, dass die gesamte Nomenklatura mit dem sowjetischen System brechen wollte. Die Konfliktlinie innerhalb der ehemaligen Nomenklatura verlief und verläuft nicht zwischen Befürwortern und Gegnern der "Reformen". Vielmehr wurde und wird darüber gestritten, wer sich an den Privatisierungen bereichern darf, das heisst: Ob und in welcher Form das international agierende Kapital und die Mafia daran beteiligt werden sollen, oder ob man sich den Kuchen unter sich aufzuteilen versucht. Es setzte sich schliesslich die erstgenannte Option durch.

1995 ist diese umfassende erste Privatisierungswelle grösstenteils abgeschlossen. Dabei ist eine Privatwirtschaft bzw. privatisierte Wirtschaft entstanden, die man in zwei Sektoren unterteilen kann. Einerseits gibt es einen legalen Sektor, wo die Unternehmen zumindest von Zeit zu Zeit Steuern und Sozialleistungen bezahlen und sich teilweise an die Gesetze halten. Daneben gibt es den informellen Sektor, der mehrheitlich von der Mafia kontrolliert wird und laut offiziellen Angaben 40 Prozent der russischen Wirtschaft umfasst. Realistischere Schätzungen gehen von 50 bis 60 Prozent aus. Im informellen Sektor werden die Gesetze nicht eingehalten, und die ArbeiterInnen haben de facto keinerlei Rechte.

In dieser Situation ist ein Teil der neuen Herrscher Russlands der Meinung, dass die notwendigen Reformen jetzt durchgeführt worden seien und dass man versuchen müsse, die Wirtschaft ein wenig anzukurbeln. Diese Kreise, die sich für einen stärker national orientierten Wiederaufbau einsetzen, sind vor allem in den Regionen verankert. Hingegen sind der Kreml, die sogenannten Oligarchen und natürlich das international agierende Kapital der Meinung, die "Reformen" seien weiterzuführen und zu vertiefen, und es sei bisher nur eine erste, ungenügende Privatisierungswelle durchgeführt worden. 1995 setzen sich erneut diese Kräfte durch: Die "Reformen" gehen weiter. Eine der wichtigsten, noch nicht geregelten Fragen betrifft heute die Privatisierung von Land und Boden. Auf der Traktandenliste steht auch die Privatisierung der Stadtbetriebe (zum Beispiel Energie- und Wasserversorgung), der Wohnungen und der Transportsysteme. Weiter will die Regierung eine Liberalisierung und Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse durchsetzen, und ganz Russland droht im Sog der hemmungslosen Finanzspekulationen auf Staatstitel und andere Wertpapiere unterzugehen. Nach der ersten Privatisierungswelle findet eine gewisse Umverteilung des geplünderten Reichtums unter den neuen Herrschern Russlands statt, und nicht selten wechseln Betriebe unter Androhung von Waffengewalt den Besitzer.

Russland ist ein Musterbeispiel der ultraliberalen Politik, die in allen Ländern der Welt heute umgesetzt wird. Sie trifft hier auf keinerlei wirksamen Widerstand. Die Gewerkschaften sind noch stark vom alten Regime geprägt, wo sie als verlängerter Arm des Staats und der Partei für die Umsetzung der Produktionsziele zuständig waren. Heute führen sie eine ähnliche Politik unter dem neuen Begriff der Sozialpartnerschaft fort und arbeiten eng mit dem Management zusammen, das in den alten Gewerkschaften übrigens zu den Mitgliedern zählt. Neue unabhängige Gewerkschaften sind zwar in den letzten Jahren entstanden, doch geben sie sich meist vorerst bewusst apolitisch, was auf Grund der totalitären Vergangenheit zum Teil verständlich ist.

Die Kommunistische Partei wird im Westen oft als eine linke Kraft der Opposition dargestellt. Das entspricht aber nicht der Realität: Die Kommunistische Partei beschränkt sich weitgehend darauf, mit dem Kreml Kompromisse um die Verteilung von Macht und Reichtum auszuhandeln. In der letzten Duma (bis zu den Wahlen Ende 1999) hatte sie zusammen mit den sogenannten patriotischen Kräften die Mehrheit, setzte aber keine einzige Gesetzesvorlage durch und akzeptierte letztlich sämtliche Ernennungen von Ministern, die Jelzin vorschlug. Im weiteren kann die Kommunistische Partei nicht als linke Kraft bezeichnet werden: Ihre Ideologie ist nationalistisch geprägt und trägt antisemitische und reaktionäre Züge in sich. Die Parteiführer berufen sich auf die Tradition des Grossen Russlands, in der die Sowjetunion nur eine Etappe unter anderen war, deren Bedeutung darin liegt, den Einflussbereich Russlands nach Osteuropa ausgedehnt zu haben.

1999 stellt sich für die neuen Herrscher die Frage, wie sie ihre Macht erhalten können, denn es stehen Parlaments- und (für Juni 2000) Präsidentschaftswahlen an. Die Popularität Jelzins befindet sich auf einem absoluten Tiefpunkt: In den Umfragen erhält er nur vier bis fünf Prozent Zustimmung. Die Regierung ist in der Bevölkerung verhasst. Jelzins Herausforderer vom national orientierten Lager formieren sich um den Bürgermeister von Moskau, Luschkow, und den ehemaligen Premierminister Primakow. Sie haben die Unterstützung der Machthaber der am wenigsten darniederliegenden Regionen und verlangen, dass gewisse Auswüchse der "Reformen" korrigiert werden. In den Augen der Bevölkerung werden Luschkow und Primakow als Symbole einer anderen Politik angesehen und sind im Frühsommer 1999 sehr populär, obschon in Wirklichkeit auch ihre Macht auf der Plünderung des kollektiven Reichtums in Zuge der "Reformen" beruht.

Im Folgenden ist es aber dem Kreml und den Oligarchen gelungen, das Blatt zu wenden und Putin an die Macht zu bringen: Im März 2000 wurde er ohne ernsthaften Gegenkandidaten zu Jelzins Nachfolger gewählt, nachdem er bereits seit Neujahr interimistisch als Präsident amtete. Im Westen wurde uns oft das Bild des handlungsunfähigen Präsidenten Jelzin vermittelt, eines greisen Alkoholikers, der kaum noch sprechen und um die Welt reisen kann. Die jüngsten Entwicklungen zeigen aber, dass zumindest Jelzins Umfeld mit ausserordentlich geschickten Schachzügen in der Lage war, die Macht zu erhalten und die Herausforderer Primakow und Luschkow auszuspielen. Jene, die in Russland wirklich an der Macht sind, dürfen in Bezug auf ihr politisches Know-how und ihre Handlungsfähigkeit nicht unterschätzt werden.

Putin steigt also innerhalb von sechs Monaten vom Status eines unbekannten Kaders des Geheimdienstes FSB (ehemals KGB) zum russischen Präsidenten auf. Weite Teile der Bevölkerung sehen in Putin das Bild eines starken Führers, der nichts mit den "Reformen" der vergangenen zehn Jahre zu tun hat. Die Sehnsucht nach einer autoritären Führungsperson kann nur vor dem Hintergrund der verzweifelten Lage der russischen Bevölkerung verstanden werden. Während der erste Tschetschenienkrieg noch sehr unpopulär war, spielte nun der zweite Krieg eine entscheidende Rolle in diesem Prozess, der Putin an die Macht brachte.

Was wird Putin nun unternehmen? Die russische Verfassung gibt dem Präsidenten eine enorme Macht: Putin muss also handeln. Ich denke, er ist sich der Tatsache bewusst, dass eine unveränderte Weiterführung der Politik Jelzins dazu führen würde, dass Russland früher oder später als geopolitische Einheit zerfällt und verschwindet, genau wie die Sowjetunion vor zehn Jahren. In verschiedenen Deklarationen hat Putin als sein Ziel genannt, Russland wieder den ihm zustehenden Platz auf der internationalen Bühne zu geben und die wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit wieder zu erlangen. Wenn wir einmal davon ausgehen, dass das wirklich sein Ziel ist, stellt sich uns eine zweite Frage: Kann er dieses Ziel überhaupt erreichen? Hat er die Mittel dazu?

Man kann natürlich hoffen, dass Putin seine Popularität ausnützt, sich an die Bevölkerung wendet und sich auf sie zu stützen versucht, um eine grundlegende Wende herbeizuführen. Das ist ein sehr unwahrscheinliches Szenario. Könnte Putin für sein Projekt also auf die Unterstützung des Kapitals zählen? Als Resultat des "Reformprozesses" können wir kurz gesagt in Russland drei Arten von Kapitalbesitzern unterscheiden: das internationale Kapital, das mafiöse Kapital und das national ausgerichtete Kapital. Es ist klar, dass das internationale Kapital, der IWF und die Regierungschefs der G7 sich für eine Weiterführung der "Reformen" einsetzen werden. Ebenso hat die Mafia keinerlei Interesse an einer Wende und an einem starken Staat, den Putin so gern proklamiert. Kann Putin also auf eine Allianz mit dem national ausgerichteten Kapital hoffen, um die Wirtschaft anzukurbeln und eine Entwicklung zu fördern, die dazu führen würde, dass der produzierte Reichtum nicht mehr mehrheitlich auf Konten in der Schweiz oder in Zypern abfliesst, wie das heute der Fall ist? Doch in Wirklichkeit ist dieses national ausgerichtete Kapital, das die reale Produktion vorantreibt, Steuern bezahlt und sich an die Gesetze hält, als solches bis heute weitgehend inexistent. Ausserdem hat Putin die Wahlen gerade gegen die Vertreter dieser Kreise gewonnen.

Ich will hier keine Prognosen abgeben, sondern nur den Rahmen skizzieren, in dem Putin agieren wird. Er wird kaum eine eigentliche Wende herbeiführen können, sondern in diesen konfliktgeladenen Beziehungen zwischen verschiedenen Gruppen pragmatische Auseinandersetzungen führen müssen. Diese verschiedenen Kapitalfraktionen werden ihn manchmal unterstützen, in anderen Fällen sabotieren oder erpressen — und umgekehrt. Es steht also kaum eine Phase der Beruhigung oder Stabilisierung der politischen Situation bevor, im Gegenteil.

Die einzigen verlässlichen Verbündeten Putins sind heute der Geheimdienst und die Armee. Diese kann er in manchen Fällen als Druckmittel einsetzen: Kürzlich hat er zum Beispiel angekündigt, dass er Russland in sieben Regionen unterteilen und jede Region einem von ihm ernannten Gouverneur unterstellen wolle. Bei diesen Gouverneuren handelt es sich um ehemalige KGB-Generäle. Die bisherigen regionalen Fürsten nehmen diesen Angriff auf ihre Machtpositionen bis jetzt scheinbar ohne Widerstand hin. Doch das dürfte nur daran liegen, dass der Sicherheitsdienst über umfangreiche Korruptionsdossiers von ihnen allen verfügt, die im Falle einer offenen Auseinandersetzung mit dem Kreml wohl auffliegen würden. Man kann also nicht von einer konsensuellen Entwicklung sprechen, auch wenn es danach aussieht.

Es ist möglich, dass sich Russland in Richtung einer sehr repressiven und polizeistaatlich kontrollierten Gesellschaft entwickelt, unter der Herrschaft der neuen Partei des Präsidenten, die Putin aufzubauen versucht, und dass dabei auch der militärisch-industrielle Komplex wieder an Bedeutung gewinnt. Ich habe jetzt ein sehr düsteres Bild von der gegenwärtigen Situation gezeichnet und möchte zum Ende doch noch darauf hinweisen, dass es auch Hoffnungsträger gibt. Dazu zählen die neuen unabhängigen Gewerkschaften und die Schule für die Arbeiterdemokratie in Moskau, die viel zu deren Entstehung und Entwicklung beigetragen hat. Zu unseren Hoffnungsträgern gehören auch verschiedene soziale Bewegungen wie die kürzlich entstandene russische Partnerorganisation von attac, die sich "Demokratische Kontrolle" nennt. Diese Kräfte des Widerstandes müssen gestärkt werden, und es ist wichtig, dass sie dabei auf die Solidarität der sozialen Bewegungen aller Länder zählen können und bei diesen auch Gehör finden.

  • Denis Paillard ist Forscher am Centre National de la Recherche Scientifique in Paris, Russland-Spezialist, Mitarbeiter der Zeitschrift Le Monde Diplomatique