Quelle: www.sozialisten.de [disput 7-2000]

Die Sandinistas auf einem 
schwierigen Weg der Erneuerung 

Nikaragua: Politikverdrossenheit kommt zur angespannten sozialen Lage 

Von Bruno Mahlow

7-8/00 trdbook.gif (1270 Byte) trend online zeitung Briefe oder Artikel: info@trend.partisan.net   ODER per Snail: Anti-Quariat Oranienstr. 45 D-10969 Berlin

Nikaragua – auf einer Fläche von 129.000 qkm, mit einer Bevölkerung von 4,5 Millionen Menschen (1998) – ist und bleibt das zweitärmste Land Lateinamerikas. Darüber können auch die von Banken und Forschungsinstituten in- und außerhalb des Landes gemeldeten ökonomischen Erfolge beim Wiederaufbau nicht hinwegtäuschen

Seit 1994 bis heute wird jährlich ein Wachstum des Bruttoinlandprodukts (BIP) von 4-6% festgestellt. Trotz großer Verluste in Landwirtschaft und Viehzucht durch den Hurrikan »Mitch« geht man davon aus, dass der Produktionsumfang 1999 im Vergleich zum Vorjahr wegen Steigerungsraten bei Kaffee, Zuckerrohr, Mais, Bohnen und in der Viehzucht gewachsen ist. Positive Trends gibt es auch in der verarbeitenden Industrie, im Dienstleistungsbereich, in der Baumaterial- und Textilindustrie sowie insbesondere im Bergbau. Insgesamt beschleunigte sich nach den schweren Verwüstungen durch den Wirbelsturm der wirtschaftliche Wiederaufbau, auch aufgrund einer vom Internationalen Währungsfond (IWF) im September 1999 bewilligten zweiten Auszahlung aus einem laufenden Darlehen.

Die sozialökonomische Lage Nicaraguas bleibt trotz einzelner Fortschritte angespannt. Die Entwicklung der eigenen, d.h. der einheimischen Produktion hinkt weit hinter den Erfordernissen zurück. Der Verbrauch ist um nahezu das Doppelte höher als die Produktion, das Haushaltsdefizit wird vollständig aus äußeren Quellen abgedeckt. Alle Waren und Dienstleistungen waren auch 1999 von Preiserhöhungen betroffen – insbesondere die Heiz-, Energie- und Wasserkosten sind gestiegen. Immer weiter wachsen Miet- und Transportkosten, die Preise für Grundnahrungsmittel wie Reis, Bohnen, Gemüse, Obst sowie für Schuhwerk und Bekleidung.

Entgegen offiziellen geschönten Statistiken Nicaraguas, nach denen ca. 50% der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze und 16% unterhalb der äußersten Armutsgrenze leben, schätzen Experten, dass eine solche Aussage tatsächlich jeweils für 80% bzw. 50% der Bevölkerung zutrifft (bei Lebenshaltungskosten von 60 Cents pro Tag).

Obwohl von 250.000 neu geschaffenen Arbeitsplätzen gesprochen wird, nimmt die Arbeitslosigkeit nur unbedeutend ab. Wesentlich gesunken ist die Zahl der Beschäftigen im staatlichen Sektor, was auch durch weitere Privatisierungen staatlicher Unternehmen wie ENEL (Energiebereich), ENITEL (Telekom) und INAA (Wasserwirtschaft) gefördert wird.

Während die Zentralbank die Arbeitslosenrate selbst unter Berücksichtigung der saisonbedingten Teilzeitarbeit und nicht registrierter Gelegenheitsarbeit absolut irreal mit 12-13% beziffert, geben seriöse Wirtschaftswissenschaftler eine Rate von über 44% an.

Die Wirtschaft des Landes hängt bis zu 45% von der Auslandshilfe ab. Die Auslandsverschuldung Nicaraguas betrug 1999 6,6 Milliarden. Dollar und übersteigt somit um fast das Dreifache den Umfang des BIP und um nahezu das 12-fache das Exportvolumen des Landes. 40% der Valutaeinnahmen aus dem Export müssen für die Tilgung von Auslandsschulden ausgegeben werden. Dies begrenzt entscheidend die Investitionsmöglichkeiten in Wirtschaft, Bildung, Gesundheitswesen etc. Und das in einem Land, in dem viele Tausend Kinder keine Schule besuchen, in dem die Müttersterblichkeit seit 1993 um 59% gestiegen ist (200 Sterbefälle bei Müttern auf 10.000 Neugeborene in Nicaragua).

Zunächst war trotz weiter bestehender sozialer und politischer Spannungen die innere Lage im vergangenen Jahr relativ stabil. Ende des Jahres spitzten sich jedoch – ausgelöst durch die Regierung – die Spannungen wieder zu. Besonders schädlich wirkte sich die weit verbreitete Korruption in allen Sphären der Macht aus. Nicht nur, dass die Regierung bei der Beseitigung der Hurrikan- Schäden kläglich versagte und vor allem Nichtregierungsorganisationen die Selbsthilfe der Menschen organisieren mussten. Viele Beamte bereicherten sich zudem an den Hilfslieferungen für die Mitch- Opfer. Hinzu kamen Konfrontationen mit dem so genannten Rechnungshof, der sich mit Korruptionsfällen von Beamten aktiver zu befassen begann sowie Auseinandersetzungen um die Zusammensetzung und die Tätigkeit des Obersten Gerichts. Mit der Privatisierung staatlicher Unternehmen vor allem in der Energie- und Wasserwirtschaft sowie dem systematischen Abbau sozialer Errungenschaften der sandinistischen Revolution wuchs die soziale Unruhe, kam es zu neuen Streikbewegungen.

Dazu kommt, dass sich im Lande zwei neue Kräfte des Kapitals entwickeln. Zum einen sind es die aus dem Ausland zurückkehrenden Somoza- Leute, zum anderen ein von der FSLN gestütztes Kapital. Somit beginnen auch in der FSLN Kapital- Interessen zu wirken. Beweis dafür waren heftigen Debatte über die Zustimmung von Bayardo Arce (Parlamentsabgeordneter, Mitglied der nationalen Leitung der FSLN, dem einige lukrative Immobilien gehören) zur Privatisierung einer Vermittlungsbank, sowie im Zusammenhang mit einer Gesetzesvorlage zur Privatisierung der Renten.

Die FSLN ist in einer komplizierten Situation. Einerseits ist sie die stärkste linke oppositionelle Kraft, wenn nicht gar die am besten organisierte politische Bewegung. Ihr gehören derzeit 400 000 Mitglieder an. Ihre Leistungen im Befreiungskampf und die sozialen Errungenschaften der 10 Jahre ihrer Regierungszeit sind tief verwurzelt. Andererseits muss sie sich auf völlig veränderte gesellschaftliche Bedingungen, in erster Linie auf die parlamentarische und außerparlamentarische Arbeit einstellen, hier neue Lösungen suchen – und dies als eine Partei, die sich einmal als militärpolitische Organisation entwickelt hatte.

Henry Ruiz, vormals Commandante der FSLN und Vorsitzender der Plankommission, der ebenfalls für eine Erneuerung der Politik der FSLN eintritt und sich aus der Führungsarbeit zurückgezogen hat, bemerkte dazu in einem Gespräch:»Früher sind die Probleme mit Pulverdampf, d.h. mit der Waffe gelöst worden, jetzt besteht eine andere Situation, die eine andere Einstellung und Politik erfordert.«

Trotz Sozial- und Demokratieabbau in den letzten Jahren ist es zu keinen ernsten Veränderungen im Kräfteverhältnis zugunsten der linken Opposition gekommen. Vielmehr macht sich auch in Nicaragua Politikverdrossenheit breit, weshalb man z.B. nur eine Beteiligung von unter 60% bei den nächsten Wahlen erwartet.

Für den Besucher ergibt sich dieses Bild: In einer Reihe von Kommunen verliert die FSLN an Einfluss, weil auch deren örtliche Funktionäre zum Teil mehr an den »Erhalt der Sessel«, als an aktives Eintreten für die Interessen der Menschen denken. Den Mühen der Alltagsarbeit zieht man statt dessen teilweise überholte Formen von Manifestationen vor. Insgesamt ist eine Diskrepanz zwischen der FSLN-Führung und ihrer Basis zu spüren. Das uneinheitliche Auftreten ihrer Abgeordneten im Parlament wird von den einfachen Menschen nicht verstanden. Des weiteren wird die fehlende Transparenz bei der Erläuterung eines zwischen den Sandinisten und den Liberalen abgeschlossenen politischen Paktes bemängelt. Allerorts gibt es gravierende Probleme bei der Organisation der Basisgruppen. Schon seit Jahren wird kein Parteibeitrag einbezogen. Es gibt kein System der politischen Bildung.

Monica Baltodano, Parlamentsabgeordnete und Mitglied der nationalen Leitung der FSLN, verwies auf negative Faktoren in der Politik der FSLN:

  1. Es erfolgte keine entsprechende Umstellung der Parteiarbeit auf die veränderten Bedingungen.
  2. Die FSLN hat sich ungenügend als Oppositionspartei profiliert und verliert an Gesicht und Gewicht.
  3. Es mangelte an erforderlicher Koalitionsbereitschaft. Statt dessen ging man den Weg des Dialogs mit dem politischen Hauptgegner, stieß viele potentielle Verbündete vor den Kopf.
  4. Man suchte nicht konsequent nach neuen populären, flexibleren schöpferischen Persönlichkeiten, sondern versteifte sich auf eine alternativlose Person – Daniel Ortega, mit dem nicht mehr als 25-30% der Wählerstimmen erreicht werden können. Mitdenken ist oft nicht gefragt. Treuebekenntnisse ersetzen nüchterne Erkenntnisse.
Die Menschen in Nicaragua erwarten konkrete Veränderungen, egal von welcher politischen Kraft, denn bisher haben in ihren Augen beide politischen Lager versagt und an Glaubhaftigkeit verloren.

In den letzten Monaten wird die innenpolitische Situation bestimmt von der Polemik und den im Ergebnis eines zweijährigen Dialogs zwischen der regierenden Partei der Liberalen (PLC) und der FSLN im Parlament durchgesetzten Veränderungen in der Verfassung und im Wahlverfahren des Landes.

Die Auseinandersetzungen um diesen Pakt leiteten im Grunde genommen den Wahlkampf in Vorbereitung der diesjährigen Kommunalwahlen sowie der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im kommenden Jahr ein.

Daniel Ortega und andere FSLN- Funktionäre betonten, dass alle Reformmaßnahmen der Schaffung besserer Regierungsformen dienten. So erklärte auch José Pasos, Leiter der Internationalen Abteilung der FSLN- Leitung und von der FSLN jüngst nominiertes Mitglied des Rechnungshofes Nikaraguas, dass der zwischen den Sandinisten und den Liberalen abgeschlossene Pakt in Interesse der FSLN ist, die damit ihren Platz in der Gesellschaft verfassungsgemäß absichern konnte. Es gelte u.a. in jedem Wahlbüro und auch in der zentralen Wahlkommission, in allen Kontrollgremien und im Gericht eine entsprechende Repräsentanz der FSLN zu sichern. Im Grunde genommen scheint die Entwicklung eines Zweiparteiensystems mit längerfristig gesichertem Einfluss der FSLN anvisiertes Ziel zu sein.

Die Diskussionen um den erwähnten Pakt halten sowohl in den Führungsgremien der Sandinisten als auch an der Basis an. In der FSLN-Basis sieht man den Pakt ebenfalls vorwiegend positiv und vor allem als Weg zur Vermeidung neuer opfervoller Konfrontationen, als konstruktive Suche nach neuen zeitgemäßen Lösungen.

Manche Funktionäre und FSLN-Mitglieder allerdings sehen in diesem Pakt nur eine opportunistische Anpassung an die Macht, einen Gewinn für den Zusammenschluss konservativer Kräfte, einen Verlust an eigenem Profil und an Idealen der FSLN.

Der Kampf um Nicaraguas Zukunft wird in jedem Fall weiter gehen, sicher von weiterer Suche nach Lösungen für die anstehenden gesellschaftlichen Probleme geprägt sein und neue Erfahrungen vermitteln.

Der Autor besuchte Nikaragua im Frühjahr dieses Jahres.