Quelle: www.junge-linke.de 

Neoliberalismus? 
Was soll das denn sein?

unbekanntes AutorInnenkollektiv

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"Die Stärke und die Schwäche einer Kritik, welche zu be- und verurteilen, aber nicht zu begreifen weiß"

Seit Mitte der 80er Jahre hat die Linke einen neuen Feind: Den Neoliberalismus. Aber was soll das eigentlich sein?


Bis Anfang der 80er Jahre hießen "Neoliberale" gerade jene, die zum Erhalt des Kapitalismus für mehr staatliche Eingriffe plädierten ("Ordoliberalismus"). Erst seit den Wahlsiegen von Ronald Reagan und Margaret Thatcher kam der Begriff langsam in Mode für diejenigen, die das "freie Spiel der Marktkräfte" und den "Rückzug des Staates aus der Wirtschaft" propagierten. Damit, und mit dem Versprechen von mehr Militär, mehr Polizei, mehr Nationalstolz und mehr christlicher Moral waren in zwei Führungsmächten der freien Welt Politiker erfolgreich gewesen. Zwei Jahre später läutete Helmut Kohl die geistig-moralische Wende in der BRD ein. Das Programm war in etwa das gleiche: Weniger Sozialleistungen des Staates für seine BürgerInnen, Privatisierung, Abbau hemmender Vorschriften für das Kapital (Umweltschutz, Arbeitsschutz), Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von 'unten' nach 'oben' z.B. durch Steuerreformen. Die ehemaligen Kolonien Europas mußten sich, wenn sie Kredite haben wollten, den berühmten IWF-Kriterien unterwerfen: Privatisierung, Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst, Streichung von Subventionen für Grundnahrungsmittel, Verzicht auf Zölle, Einfuhrverbote u.a. Maßnahmen zum Schutz der einheimischen Industrie.

Das alles hatte die bekannten Folgen: In den Metropolen florierte das Kapital, eine kaufkräftige Mittelklasse entstand, und die Arbeitslosigkeit wurde zum normalen Zustand. Im peripheren Kapitalismus richteten immer mehr Staaten ihr Land zum optimalen Standort zu, mit mies bezahlten Jobs und Elend und Armut.

Seit Anfang der 90er Jahre scheint alles noch härter zu werden: "Binnenmarkt", "Globalisierung" und "Standort" seien die Schlagworte, mit denen die letzten Überreste der sozialstaatlichen Demokratie beseitigt würden. Anstatt in die materielle Produktion zu investieren, würde nur noch spekuliert, und die 'shareholder values' (kurzfristiger hoher Gewinn) sorgten für eine Entlassungwelle nach der anderen. Mit dem MAI (Mulilateralen Investitionsschutz Abkommen), so die Befürchtung,  sollen alle Staaten zu dieser neoliberalen Politik gezwungen werden, und würden die Politiker endgültig zu Erfüllungsgehilfen der großen multinationalen Konzerne.

Die Stärke der Kritik: Wut im Bauch, volle Säle und 'ne Perspektive
Eine solche Kritik ist nicht zufällig unter Linken so beliebt: Sie erlaubt allerhand, was sich Linke ansonsten eher verkneifen müssen. Mit dem Hinweis auf die zerstörerischen Wirkungen der Durchkapitalisierung bisher verstaatlichter Bereiche wird mensch plötzlich zum Anwalt der Gesellschaft, statt wie bei Rassismus und Innerer Sicherheit völlig marginalisiert zu sein und im offenen Gegensatz zu den begehrten Agitationsobjekten (Volk, Bevölkerung , die Leute, auf der Straße etc.) zu stehen. Endlich findet mensch mit einer (scheinbar) linken Kritik wieder Anklang. Die Gewerkschaften finden da viel problematisch, und dem durchschnittlichen deutschen Volksgenossen ist auch ziemlich mulmig, daß in Zukunft die Spekulanten bestimmen, wo's langgeht.

Mit der Bezeichnung "Neoliberalismus" wird zugleich eine konkrete Verantwortlichkeit beschrieben: Die Regierung oder Theoretiker, die — ja, warum eigentlich? — eine solche Politik betreiben. Endlich hat das Unrecht wieder Name und Adresse.
Und die müssen sich einiges anhören: Die Differenz zwischen der Ideologie von der freiheitlich-sozial-demokratisch-ökologischen Markwirtschaft mit und ohne Nächstenliebe und der doch ziemlich brutalen Wirklichkeit kosten linke KritikerInnen weidlich aus. Und im peripheren Kapitalismus, wo die WählerInnen nicht einfach mit dem Argument "Standort" zur Wahl der richtigen Führung gebracht werden können, sondern angehende Führer der Nation auch mal einen vom Pferd erzählen, das durch mehr Markt alle Millionäre werden — da ist nicht nur viel Anlaß zum giftigsten Spott gegeben. Sondern auch im abgeklärtesten Hegelmarxisten brodelt unwillkürlich die Wut über die frechen Lügen der gut ausgebildeten Harvard-Zöglinge, die die von ihnen regierten AnalphabetInnen so offen bescheißen.

Das Schönste aber: Neoliberalismus ist eine Politik. Angesichts der gesellschaftlichen Folgekosten sogar angeblich eine falsche. Arbeitslosigkeit, Rezession durch Kaufkraftschwund, mangelndes Vertrauen in die Demokratie, "soziale Spaltung", Rechtsextremismus, Jugendgewalt werden im metropolitanen Kapitalismus ausgemacht, im peripheren und in den neueroberten ex-staatssozialistischen Ländern ist die Liste länger und grausamer. (Unschwer ist zu erraten, daß bereits vorher unterdrückte und marginalisierte Gruppen unter den sich verschärfenden Bedingungen besonders zu leiden haben). Weil Neoliberalismus einfach nur eine Politik ist, braucht mensch dann einen Politikwechsel. Die unangenehmen Seiten des Kapitalismus abwählbar — das hört sich doch nach was an....

Die Schwäche der Kritik: Sie ist falsch. Und zwar völlig.
Falsch ist die Kritik zumeist schon bei simplen Bestandsaufnahme: Mensch fällt dabei auf die konservativ-liberal-sozialdemokratische Rhetorik vom "schlanken Staat" /"Entstaatlichung" herein. Der Staat zieht sich nicht zurück. Märkte fallen nicht vom Himmel, ohne die staatliche Garantie z.B. des Privateigentums gibt es sie gar nicht. Keineswegs sind der Umbau des Sozialstaats oder die Deregulierung ein Rückzug des Staates. Die Reformen der Regierungen Reagan/Bush, Thatcher/Major und Kohl sind gerade nicht einfach ein Verschwinden des Staates aus bisher hoheitlich von ihm verwalteten Bereichen, sondern eine Durch-Staatlichung zur Einführung marktförmiger Mechanismen. Joachim Hirsch ist, bei allem berechtigten Gemecker an seinem Buch, zuzustimmen: "So kann generell von einem 'Rückzug' des Staates aus der Gesellschaft keine Rede sein, auch wenn sich die Formen staatsadministrativer Regulierung erheblich verändern, also z.B. polizeiliche Überwachung an die Stelle materieller Sozialleistungen tritt, private Schulen subventioniert statt staatliche errichtet werden oder wenn statt einfacher Ge- und Verbote im Umweltschutzbereich staatlich regulierte Marktmechanismen eingesetzt werden".

Obwohl dies offensichtlich ist, scheinen sich weite Teile der KritikerInnen der jüngsten Politik ziemlich in die positive Rolle des bürgerlichen Staates verliebt zu haben: „Privatisierung und Deregulierung sind Möglichkeiten, den Einfluß und die Verantwortung des Staates — und damit sowohl seine Kontroll- und als auch seine Schutzmöglichkeiten — einzuschränken“ . Der Staat zieht nicht ‘sich’ aus ‘Verantwortung’ zurück — sondern ordnet bestimmte Formen des gesellschaftlichen Lebens neu.

Den Rückzug des Staates kann nur ausmachen, wer ihm unterstellt, er sei doch eigentlich für das Wohlergehen seiner StaatsbürgerInnen zuständig. Flott wird aus einem Problem, das mensch mit dieser Gesellschaft hat, ein Problem der Gesellschaft. Für das werden dann Lösungen gesucht, am besten 'gemeinsame'. Der Sozialstaat wird in dieser Weltsicht zu einem Produkt von Kämpfen und ein Zugeständnis an die, die ihn (potentiell) brauchen — also ein Ausfluß der bei Linken so beliebten "gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse". So sehen denn auch die Erklärungen für die neoliberale Politik aus: Vom Wegfall der Systemkonkurrenz (der Sozialstaat als Bestechung der Arbeiterklasse, damit sie nicht zu Breschnew überläuft? Heiße These!), über die böse Profitgier der reichen und fiesen Oberen (haben sich die Herrschenden den Neoliberalismus also auf ihren Donnerstagstreffen ausgedacht, um noch mehr Geld zu scheffeln?), bis hin zur Verblendung  durch eine falsche ökonomische Theorie — das Niveau der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaften ist seit Marxens Zeiten ja auch nicht besser geworden!
Mit den theoretischen Implikationen dieser falschen Erklärungen dürfte mensch sich normalerweise bei Linksradikalen, die halbwegs bei Trost sind,  nicht mehr sehen lassen...

Besonders unangenehm sind Bilder vom Gegensatz zwischen bodenständigen Unternehmern, die produzieren und Arbeitsplätze schaffen wollen, und den fiesen Finanzern, denen es nur um den Gewinn geht, und die damit nicht nur Menschen, sondern gleich ganze Regionen (besonders böse!) zugrunde richten. Die Differenz zwischen 'raffendem' und 'schaffendem' Kapital hat schon mal eine größere Volksbewegung in den 20er und 30er Jahren thematisiert...  Und auch das Gerede vom ach-so-gemütlichen "rheinischen Kapitalismus" im Gegensatz zum amerikanischen 'Turbokapitalismus' läßt an die gute alte Anti-Wallstreet-Agitation  eben jener Bewegung denken...

"Neoliberal": Gar nicht "neo-"....
Die steile Gegenthese ist: Der Umbau des Sozialstaats  verdankt sich den gleichen Erwägungen wie seine Einführung und sein Ausbau . Was also ist ein Sozialstaat?
Der Sozialstaat ist keine zu groß geratene Wohltätigkeitsorganisation, sondern ein funktionales Erfordernis einer erfolgreichen kapitalistischen Nation.  Das heißt: Wo ein Sozialstaat gemacht werden kann, da funktioniert der Kapitalismus besser. Auch hier  greift der Staat in die Konkurrenz aller um den gesellschaftlichen Reichtum ein, um sie zu ermöglichen.Er betreut  Armut und Arbeit, um das Gesamtsystem zu erhalten. Auch wenn er garantiert, daß Kranke, Schwache, mit Kinderaufzucht Beschäftigte halbwegs ordentlich überleben, betätigt er sich als ideeller Gesamtkapitalist. Er macht das, was die Kapitale nicht machen können; ohne das aber  das ganze System flöten ginge oder doch zumindest nicht so gut funktionieren würde.

Er sichert das Überleben von momentan Überflüssigen. Die können aber eventuell später noch mal gebraucht werden. Diese  industrielle Reservearmee sorgt zudem dafür, daß die Ware Arbeitskraft nicht zu knapp — also zu teuer— wird.   Gleichzeitig sorgt er für Nachschub bei der industriellen Reservearmee, in dem er die Kinder betütelt. Denn unabhängig vom Konkurrenzerfolg der Eltern können daraus ja auch mal  AufsteigerInnen werden. Und weil er den Erfolg aller Kapitale und das Funktionieren seiner Gesellschaft insgesamt im Auge hat, will er, daß  auch Kinder aus der „Unterschicht“ sich dem nationalen Erfolg nützlich machen könnten. Indem er  die Peitsche akuter Not aus sozialen Konflikten entfernt, produziert er sozialen Frieden. Die wenigen Streiktage in der BRD und die verantwortungsbewußten Gewerkschaften, die wegen der Wettbewerbsfähigkeit immer maßvoll sind, sind einer der Standortvorteile Deutschlands. Zusätzlich produziert der Staat eine Abhängigkeit, die auf Loyalität hoffen läßt. Denn die politische Stabilität und die Handlungsfähigkeit eines Nationalstaates steht und fällt mit dem Interesse der BürgerInnen am Staat. Nicht nur, damit sich die Leute an die Gesetze halten, sondern auch wenn  die Nation ihre Interessen in der Welt anmeldet, und sie sich darauf verlassen können muß, daß im Kriegsfall die BürgerInnen hinter ihr stehen.

Was Leute tun, und was sie denken, was sie tun, sind zwei Sachen, die aber miteinander zu tun haben: Die Notwendigkeit einen Sozialstaat einzuführen, macht sich unterschiedlich bemerkbar und wird von unterschiedlichen Kräften aufgegriffen: In Deutschland wollte man 1888 die Sozialdemokratie bekämpfen, in Schweden wollte man nach 1945 den demokratischen Sozialismus stückweise einführen, in den USA 1932 die Konjunktur wieder ankurbeln und Armutsaufstände verhindern. Aus gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen, der Struktur staatlicher Institutionen, den herrschenden Auffassungen über Armut und Erfolg in einer Gesellschaft erklären sich die unterschiedlichen Arten, das Gleiche zu tun: Die Betreuung von Armut und Arbeit im Interesse der gesellschaftsverträglichen Abwicklung ihrer Existenz. Unterstellt sind mit der Existenz des Sozialstaats nämlich Verhältnisse, in  denen ein Großteil der Mitglieder vom Großteil des gesellschaftlichen Reichtums ausgeschlossen ist, weil  in der Ökonomie die 'Selbstverwertung des Werts' die wichtigste Rolle spielt. Und nicht die Befriedigung der Bedürfnisse der Menschen.
Die Produktionsweise, die er funktionsfähig macht, in dem er sie begrenzt, ist die Grenze des Sozialstaats. Wie immer für seine Kosten gesorgt wird: Es sind dies Gelder, die der Staat aus seiner Gesellschaft nimmt bzw. nehmen läßt. Es sind Kosten, die das Einzelkapital nur ungern zahlt, weil sie seinen Erfolg mindern. Den will aber jeder Sozialstaat.

Soll aus Geld mehr Geld werden, muß das Geld zu denen kommen, die genau das damit versuchen. und damit Waren produzieren, die mit Gewinn verkauft werden. Dabei kommt es zwangsläufig zur Konzentration des Reichtums und der Produktionsmittel auf einige wenige Gesellschaftsmitglieder. Das ist eine Notwendigkeit des Kapitalismus.
„Geld ist genug da“ stimmt also nicht. Nicht, weil es mit  den materiellen Voraussetzungen für Schampus und Seide hapern würde. Das ist längst drin, für alle Menschen, weltweit, und das sogar ohne bedrohliche Naturzerstörung.
Sondern: Geld ist nicht dazu da, daß es Menschen gut geht, und es kann auch nicht dafür eingesetzt werden. Hier hat leider noch jedes konservative Arschloch einen klarer Begriff von den Notwendigkeiten des Kapitalismus, als linke IdealistInnen. Entweder mensch hebt das Kapitalverhältnis auf, oder es wird die Logik des Kapitals verfolgt. Wer Drittes versucht, gegen den machen sich die Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise geltend. Das haben linke Sozis und KommunistInnen hin und wieder leidvoll erfahren müssen.
Wenn aufgrund der veränderten organischen Zusammensetztung des Kapitals (mehr Maschinerie, weniger ArbeiterInnen) das Interesse an der industriellen Reservearmee weniger heiß ist, dann kann daran auch gespart werden. Wenn sich die kapitalistischen Staaten darauf verständigt haben, die Konkurrenz um den Reichtum der Welt relativ  frei auszufechten, dann geht dabei manches Unternehmen drauf, weil das nationale Interesse an ihm nicht ausgeprägt genug war, es vor der Weltmarktkonkurrenz zu schützen. Wenn Kapitale sich optimal verwerten sollen, dann werden die Löhne gedrückt, z.b. in dem der stumme Zwang der Verhältnisse verschärft wird, einen Job anzunehmen oder lästige Vorschriften abgeschafft werden. Und wo sich alle als Arbeitskraftbehälter fit halten wollen, da kann mensch die Leute für ihre Gesundheit selber zahlen lassen

Exkurs: Ist das Ökonomismus?
Woher kommt das Interesse der kapitalistischen Staaten am Funktionieren der Gesellschaft und dem Erfolg aller Kapitale? Sie haben ein Interesse am Wachstum des Reichtums, der in ihrem nationalen Geld verfaßt ist. Nationalismus ist nicht nur ein Frage gröhlender Fußballfans, und brennender Flüchtlings'wohn'heime, sondern von Weltwirtschaftskonferenzen und Währungsbilanzen, von "Krieg und Frieden in Europa" (Kohl) und Bundesbank-Leitzinsen. Sie haben dieses Interesse, aus dem Interesse an sich selbst, weil ihre ökonomische Potenz zusammen mit ihrer militärischen Schlagkraft die Gültigkeit  ihrer Interessen im Konzert der Mächte  garantiert. Weil alle Staaten in einer Konkurrenz um den Reichtum der Welt stehen, müssen die Staaten daran interessiert sein, daß ihre Interesse gültig sind.
Das ist kein Ökonomismus: Staaten kümmern sich dabei keineswegs immer um Kapitalinteressen, sie begrenzen und beschränken sie sogar. Politiker haben den Erfolg ihrer Nation im Auge, und sind darum alles andere als Hampelmänner (und - frauen) der bösen zigarrerauchenden Zylindermänner mit den Dollar-Zeichen im Auge. Der "sacro egoismo" jeder Nation sorgt dafür, daß der Staat ein ideeller Gesamtkapitalist ist oder zu werden versucht. Die Trennung von politischer Gewalt und herrschender Klasse ist dafür ebenso Voraussetzung, wie ein StaatsbürgerInnen-Kollektiv, das von seiner Abhängigkeit vom Erfolg des Kapitals und des Staats weiß - weswegen PolitikerInnen in den  er-volk-reichen Nationen auch maximal "Arbeit, Arbeit, Arbeit" versprechen. Und auch das nur unter Finanzierungsvorbehalt.

...und auch nicht "liberal": Das neokonservative Reformprogramm und seine linken StichwortgeberInnen
Um die Sache noch mal in den Worten der Autoren des Manifests "Weil das Land sich ändern muß" zu sagen: „...Daß sich Marktkräfte nur entfalten, wenn bestimmte Voraussetzungen wie eine leistungsfähige Verwaltung und Rechtspflege, ein entwickeltes Schul- und Hochschulwesen und anderes mehr erfüllt sind. Erforderlich ist ferner eine funktionierende Wettbewerbsordnung und eine wettbewerbsorientierte Wirtschafts- und Arbeitskultur, die wiederum nicht zuletzt durch öffentliche Einrichtungen gepflegt werden muß“.

Das alles ist nicht neu, sondern schon so, seit es Kapitalismus gibt. zu tun haben wir es mit einer Offensive, die Begriff "liberal" gar nicht gut gefaßt ist. Nicht weil "liberal" so schön klingt, sondern weil es um mehr geht, als darum, die staatliche Gewährleistung der allgemeinen Voraussetzungen der Konkurrenz unter geringst möglicher Belastung des Kapitalwachstums zu arrangieren  oder sie sogar, wo das geht, selbst noch zum Mittel des Kapitalwachstums zu machen. Das wollen alle relevanten politischen Kräfte, außer vielleicht ein paar zu SozialdemokratInnen mutierten Ex-KommunistInnen in Frankreich und Italien und den rot-braunen NationalistInnen in Rußland. Immer mehr begegnen wir der marktförmige Implementierung konservativer und nationalistischer Normen durch den Staat. Wenn Frauen wegen unehelicher Schwangerschaften aus der US-Sozialhilfe geschmissen werden, wenn der deutsche Staat sich seine Schikane von Flüchtlingen viel Geld kosten läßt, wenn in Niedersachsen demnächst das Sozialverhalten wieder in den Schulzeugnissen vermerkt werden soll und in Bremen der Religionsunterricht re-christianisiert werden soll, dann hat das mit "liberal" gar nicht so viel zu tun — wohl aber mit jener Gesellschaft, die von Liberalen einmal erkämpft wurde und auch verteidigt wird. Deren konservative Verteidiger haben in den letzten zwanzig Jahren eine kulturelle Hegemonie gewonnen. „It is not our goal  to create a cheaper welfare state. It is not money we are trying to save — it’s minds and lives“ . Die Republiknaer im House of Representatives haben da recht. Es geht nicht ums Sparen. Die neokonservativen Regierungen und Mehrheiten begründen inhaltlich, warum sie so und nicht anders sparen wollen, und warum sie in anderen Bereichen sogar offensiv die Ausgaben erhöhen wollen.

Mit ihrer  Klage über den Verlust des Wertekonsens der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Erklärung der Notwendigkeit einer moralischen Offensive  kommmen die Neokonservativen bei Ex-Linken gut an. Und bei mancher Klage sind sich mit den GegnerInnen des Neoliberalismus ganz einig: Nur um's Geld soll es nicht gehen. Wer am Kapitalismus nur dessen kulturelle Konsequenzen kritisiert, die Moral der Konkurrenz als "amoralisch" bezeichnet, statt bösen Individualismus heimelige Gemeinschaften wünscht, und außerdem die sozialstaatliche Betreuung der Armut "autoritär" und "entmündigend" findet (was sie ist!), aber nicht ihre Existenzgründe abschaffen will, der kann im Kommunitarismus manch schöne Gemeinsamkeit mit Wolfgang Schäuble entdecken. Nicht umsonst spielen Grüne aller Orten bei "Wertedebatten" eine Rolle, und waren auch die baden-württembergischen Grünen gegen eine Lehrerin mit Kopftuch — was übrigens keine Sympathieerklärung für spinnerte religiöse Vorschriften sein soll.

Und damit wird nur die reaktionäre Konsequenz manch linker Gesellschaftskritik gezogen. Mit ihrem Feldzug gegen Neoliberalismus machen sich Linke vielleicht nur zu Wasserträgern der Reaktion.