Der Entwurf einer "Gesellschaft für Kritische Sozial- und Subjektwissenschaft"?

Eine ideologiekritische Körperschaft

von Wolfram Pfreundschuh

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Der von Hartmut Krauss verfasste Entwurf einer Grundsatzerklärung für eine "Gesellschaft für kritische Sozial- und Subjektwissenschaft" verfehlt in seiner Schwerpunktsetzung die praktischen Gegenstände marxistischer Theorie bzw. macht sie zu ideologiekritischen (bzw. psychologischen) Körperschaften. Darauf verweist Meinhard Creydt in seiner Kritik zu recht.

Der Marxismus muss sich von humanitärer Moralisiererei und Weinerlichkeit befreit haben und stattdessen seine wirkliche Menschlichkeit in seiner Erklärung der menschlichen Wirklichkeit be- und erweisen, d.h. die Menschen darin auch wirklich ernst nehmen und zu einem Bewußtsein ihrer praktischen Lebensprobleme beitragen. Auf die Einzelheiten des "Entwurfs" kann ich da nicht eingehen, weil das viel zu viele Behauptungen aus der Augenscheinlichkeit sind, die man weder abweisen noch annehmen muß. Aber einige Folgerungen sind ausgesprochen falsch: Es ist meiner Meinung nach zum Beispiel blödsinnig, von einem Übergang des Industriekapitalismus zum Informations- und Dienstleistungskapitalismus zu reden, nur weil es eine Parzellierung von Arbeitskräften in Hinterhofbüros gibt. Auch sind “Informationen” höchstens Kochrezepte und längst noch keine Wurst oder gar ein Mehrprodukt. Und im Dienstleisten kann man auch nur Wert für andere schaffen, indem man die Dienstleistungsmaschinen kauft (bzw. kaufen muß), und die ganzen Computer sind nichts anderes als solche Maschinen, wie es immer Maschinen für das große und kleine Handwerk und auch für die Dienstleister gab. Solange sich die Leute nur gegenseitig die Schnürsenkel binden oder die Haare waschen oder die Milch einkaufen, teilen sie ihre Reproduktionskosten (wenn sie dafür Geld austauschen), da gibt’s nichts zu verwerten. Und wenn sie für andere Betriebe werben oder tippen oder Urlauber betreuen, dann bleiben sie auch nur Bestandteil des variablen Kapitals solcher Unternehmen. Was soll da die neue Qualität von Kapitalismus sein? Der ist immer nur eine ökonomische Form, gleichgültig gegen ihren Inhalt, ob nun mit oder ohne Computer. Der erzeugt keinen Kapitalismus. Die Form bestimmt als Marktgesetz, wann, wo und ob man einen Computer haben muss oder nicht. Das ist ja das vertraxte. Auch wenn die Automation schon wesentlich weiter gediehen ist, als zur Zeit der Weberaufstände, so ist das Fakt, dass eine Automatition Arbeit aufhebt, unter den Bedingungen des Kapitals also Arbeitslosigkeit erzeugt, und zugleich für den Maschinenbesitzer vorübergehende Marktvorteile bringt (eben so lange, bis sie allgemein eingeführt und auch von allen finanziert ist), immer noch dasselbe. Das Gerede von einer neuen Qualität des Kapitalismus ist fatal, weil es das Grundverständnis von ökonomischen Vorgängen und ihrer Formbestimmtheit auf den Kopf stellt und damit alle wesentliche Kritik entwertet und weil sie sich der bürgerlichen Wahrnehmung übergibt (solche Denke ist ja längst immanenter Gehalt der Beschreibungen dieser unfaßbaren Schrecklichkeiten - auch wenn sie als Beschreibungen was für sich haben, aber das liest man ja besser im SPIEGEL oder in der "Globalisierungsfalle").

Man muß sich auch nicht ständig in die Hosen machen: die Neoliberalen sind nix “Neo”, das sind Regressionen ins 19. Jahrhundert der englischen politischen Ökonomie und die Globalisierung ist schon seit über 100 Jahren im Werden. Und wenns auch mal in einigen bürgerlichen Hohlköpfen Triumphgefühle über den Untergang des “real existierenden Sozialismus” gibt, so ändert das nichts daran, dass der Kapitalismus seine Erklärungsnöte behält. Und was da an “Sozialismus” untergegangen ist, das musste ja wohl auch untergehen - da beißt die Maus keinen Faden ab und da ist nichts zu beschönigen.

Aber das humanitäre Geschwafel ist doch ärgerlich, wenn es Marxisten absondern. Die Feststellung, dass der menschliche Entfaltungsprozess “im Weltmaßstab” untergraben würde, dass die kapitalistische Marktwirtschaft strukturell amoralisch sei, dass eine “konsumistische Massenkultur gattungsbedrohend” sei und politisch zu einer vorenthaltenen “Realitätskontrolle” (sic hic!) führen würde, das ist eine heftige Koketterie moralisierender Humanisten, die eine feinere Art gefunden haben, wie man das Schlechte in der Welt schön zusammenfassen und besser sortierten kann, um die Menschen zu “hereingefallenen” Handlangern zu erniedrigen und die Identität des erkenntnissuchenden Intellektuellen zu verewigen.

Wir können auch nicht mit der Güte des westeuropäischen Humanisten uns der Katastrophe des Stalinismus entheben, indem wir ihn als “parteimarxistische Deformation” abtun, ohne seine inhärenten marxistischen Inhalte nicht auch einer radikalen Kritik zu unterziehen. Das muss der Marxismus aushalten und er muss seine Grundlagen rekapitulieren und neu fassen (z.B. den Begriff des Proletariats, des Staats und der Diktatur), um sich wieder politisch überhaupt darstellen zu können. Es ist keine Revision der Marxschen Theorie nötig, um den Proleten auch als Konsumenten zu denken, den Staat auch als Gemeinwesen menschlicher Reproduktion und das Diktat als demokratisch entwickelten Entscheid der Lebensproduktion. Der Marxismus gründet darauf, dass er nicht einfach eine Theorie, sondern eine Er-Klärung der wirklichen Zusammenhänge sein will. Soll er sich durch “weltanschaulich-moralische Eindeutigkeit und Trennschärfe” ausweisen, wird er genau auf das wieder zurückversetzt, wo er heraus muss: zur marxistischen Theorie an sich, zum Hackebeil des Henkers mit der ewigen Wahrheit. Der Marxismus ist nicht weltanschaulich, befriedigt keine Leidenschaft des Kopfes; er will der "Kopf der Leidenschaften" (Marx) sein.

Zuallererst müssen Marxisten ihren Gegenstand benennen (der Humanist hat nur sich als Mensch, oder als Theorie oder als erkennendes Subjekt zum Gegenstand und steht sich deshalb auch immer nur selbst im Weg). Ich denke, hierfür müssen die Grundlagen des Marxismus auch in der geschichtlichen Abfolge von der Philosophiekritik zur Ökonomie (und nicht umgekehrt!) unmißverständlich klar sein (siehe hierzu: Pfreundschuh, 1979, Der Reichtum der bürgerlichen Gesellschaft). Nach meinem Verständnis besteht der Gegenstand der Marxistischen Theorie in der gesellschaftlich entfalteten toten Arbeit (Kapital sagen die Ökonomen) mit ihrer Gewalt (Macht als politisches Verhalten, politische Ökonomie) gegen die lebendige Arbeit bzw. das menschliche Leben schlechthin. Diese Beziehung ist eine lebende, ökonomische Abhängigkeit, die deshalb (und nur deshalb!) auch geändert, also von der Herrschaft der toten Arbeit, dem System der Geldverwertung, befreit werden kann, wenn sich die Menschen gesellschaftlich, also klassenlos, zu ihren Produkten (als konsumierende Produzenten) stellen.

Das Kapital hat nicht den Drang, zu zerstören, es erliegt selbst seinem inneren Zwang (Fall der Profitrate), welcher ihm die Zersetzung überschüssiger Produkte auferlegt. Das ist im Widerspruch von Mehrprodukt (als gesellschaftlich erzeugtes Wachstum an Produktionsmittel) und Mehrwert (als privat angeeignetem Besitz der Produktivkräfte) begründet, wodurch tendenziell Überproduktion entstehen muss, deren Konsumtion ausbleibt, also nicht als Wert realisiert werden kann.

„Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft ihre Grenze bilde.“ (MEW, Bd. 25, S. 501).

Die Fortentwicklung des kapitalistischen Krisenmanagements erzwang daher eine Konsumtion als Gegenwelt zur Produktionssphäre, die an die wirtschaftliche Grenze der Konsumtionsfähigkeit (und per Verschuldung oft darüber hinaus) getrieben wird. So entstand die Trennung der Arbeitswelt mit ihren inhärenten organischen Bestandteilen (Rohstoff, Produktionsmittel und Arbeitskraft) auf der einen Seite und der Sphäre der Kosumtion mit ihren Bestandteilen (Verzehr, Verbrauch und Kultur als selbständiges System der Bedürfnisse) auf der anderen Seite, die sich auch weltweit zu gegensinnigen Gesellschaften ausbildetete (wobei beide Gesellschaften nur soweit für sich zu sehen sind, wie sie die reine Arbeitswelt und die reine Kapitalwelt enthalten - das gibt’s natürlich nicht pur): der Armen, deren Rohstoffe, Arbeitskräfte und Kulturen bis an ihre stofflichen Grenzen ausgebeutet werden, und der Reichen, deren Geldrückfluß in die Konsumtion bis an die Grenzen ihrer Existenzfähigkeit getrieben wird.

Dies ergibt für die reichen Länder ganz grob folgende Entwicklungen (als Gegenstände zur Bearbeitung durch Marxisten):

Entwicklung der ökonomischen Politik (Zersetzung der Politik)

Druck auf steuerfinanzierte, marktpolitische oder kriegerische Vernichtung von Material. Unterbewertung der Rohstoffe und Überbewertung des Absatzes. Ausplünderung aller natürlichen Ressourcen als Ausgleich zum selbsterzeugten Wertverlust. Entwürdigung von Natur und Mensch.

Konsumsteigerung durch Psychologisierung der Lebensmittel, also werbepsychologische oder sozialkulturelle Erzeugung von Suchtverhalten mit allen Merkmalen der Selbstausbeutung

Verschiebung des Kapitalrisikos auf die Bevölkerung (Volksaktie) und Zentralisierung des Machtbereichs durch Zergliederung der Stimmverhältnisse (Fusionierung der Konzerne)

(vergl. auch die Theorie vom Sozialstaat per Aktienbeteiligung von Beck oder Joschka Fischer, also die Theorie der Sozialwirtschaft als Aktiengesellschaft, die in Amerika schon teilweise verwirklicht ist).

Verschärfung der Konkurrenz der Arbeiter durch Ausdehnung der Märkte zu Marktgemeinschaften (z.B. EU) und Dispendierung der Meinungsbildung durch Spezialistenbildung

Verschiebung der sozialen Wirtschaft zur Selbstversorgungswirtschaft im Sinne der Privatfürsorge.

Der Nationalstaat wird die marktpolitisch erforderliche Aufhebung aller nationalen Grenzen und Schranken betreiben müssen und seine Politik insgesamt internationalisieren, bzw. an internationale Gremien abgeben oder aufteilen.

Entwicklung des Staats (Unterwerfung des Nationalstaats )

Der Nationalstaat wird als verbilligter Bereitsteller der Infrastrukur für die Produktion und den Handel und für die Entwertung der Lohnkämpfe nationalpolitisch ausgenutzt.

Der Nationalstaat wird in allen demokratischen Entscheidungseinrichtungen durch die Verwertungsprobleme des Kapitals bestimmt, weil er durch die internationale Politik und Marktgesetze dazu gezwungen ist (tendenzielle Aufhebung der bürgerlichen Demokratie)

Der Nationalstaat wird zunehmend nurmehr betriebswirtschaftliche Funktionen ausüben und vor allem den Devisenhandel und die Zinspolitik von der internationalen Lage her bestimmt auf nationale Zwänge umsetzen (Verkehrswege, Wirtschaftsförderungen von Hochtechnologien und Reduzierung der reproduktiven Technologien) und so seinen weltpolitischen Marktvorteil (Maschinenproduktion) stabilisieren und entfalten.

Der Nationalstaat wird seinen Beitrag zur Kostenminimierung leisten, indem er die Sozialstruktur und kommunale Infrastrukturen vernutzt und seine reproduktiven Pflichten reduziert, indem er die Eliten perfektioniert und minimalisiert und den weitaus größten Teil der Bevölkerung zunehmend nur noch zu Handlangern ausbildet (Totalisierung von Zulassungsbeschränkungen).

Entwicklung der Kultur (Zergliederung der Lebenszusammenhänge)

Die Kultur wird sich von jeglichem Bezug zur Arbeits- und Lebenswelt abtrennen und sich nurmehr ihrer Bestimmung als Konsumgegenstand für die Menschen widmen und entfalten (Tittitainement, wie in der "Globalisierungsfalle" beschrieben).

Die gesellschaftlichen Zusammenhänge menschlicher Bedürfnisse (System der Bedürfnisse) werden verkehrt in den Zusammenhang bedürftiger Menschen, die sich nurmehr in ihrer Zwischenmenschlichkeit selbst zum Gegenstand haben (Entwicklung des abstrakt menschlichen Sinns). Indem sie sich wechselseitig als Gegenstand, als Objekt und Mittel ihrer Identität brauchen, verbrauchen und unterwerfen sie sich in abstrakte Gegebenheiten (Infantilisierung der Kultur).

Die Menschen werden sich zunehmend nurmehr in der Kultur versammeln, weil sie ein System von Sozialprothesen in der Gemeinschaft der Gefühle, allgemeines Selbstgefühl als allgemeiner Größenwahn, entwickelt. Hieraus wird der große Bruder in irgendeiner Form auch wirklich entstehen, als Zentrum und Inszenierung ihres Lebenskults, mit dem neue Formen der Faschisierung einhergehen (abstrakte Funktionsperfektionierung, kulthafte Liebesangebote, Bildung von Übermenschen, der abstrakte Sinn als geistige Macht, biogenetische Rassenlehre).

Diese Prozesse müssen sich nicht jeweils einzeln ausformen; ihre Sinnkrisen werden sich so austauschen, dass funktionsfähige Sozialstrukturen übrig bleiben - immer aber auf Kosten des "kleinen", wirklichen Lebens. Durch die sogenannte Globalisierung sind sie inzwischen weltweit spürbar geworden und sind zum Teil schon sinnfällig.

Der Marxismus ist nichts anderes als das Bewußtsein dieses Lebens, seine Sprache, und er weiß es als die Basis allen Lebens und aller Natur. Er ist die einzige Theorie, die den Grund der Erstickung des Lebens beschreibt und seine Fratze als simple Logik des Kapitals entblösst, auch wenn sie sich mephistophil glitzernd in die Seelen und Leiber der Menschen einschleicht. "So ist denn alles was entsteht, nur wert, dass es zugrunde geht!". Der Wert als Gesetz, als sich auf dem Markt entwickelnder wirklicher Nihilismus, ist schwerer zu begreifen, als das Gute und Böse der reinen Gedanken und Lebenspositionen der Philosophen, weil er sich sich als platte, ewige Naturnotwendigkeit des Lebens in einer Gesellschaft ausgibt, gerade dort, wo er sich als Macht eines gesellschaftlichen Existenzzwanges als Marktmechanismus gegen die Gesellschaft der Menschen und ihre lebende Substanz (Arbeit und Befriedigung der Bedürfnisse) richtet.

Unser Dilemma ist, dass sich die marxistischen Theoretiker in den Menschen als Arbeiter verbissen und daher seine wirtschaftliche (nicht philosophische, anthropologische oder psychologische!) Ganzheit reduziert haben. Als Mensch ist er schließlich auch Konsument (nur das Verhältnis Produktion zu Konsumtion macht das variable Kapital aus), er ist Kulturschaffender (als Reproduzent und Produzent seines Privatlebens in Familie und Gesellschaft), und er ist Staatsbürger (als Finanzier und Meinungsträger zur Entwicklung der Infrastruktur). Er ist also ein Ganzes vieler Eigenschaften, der seine Zersetzung daher auch in dem Maße von allen Seiten erfährt, wie der Kapitalismus seine Krisen in seinem Leben ablädt - abladen muss, solange er sein Überdauern betreibt. Es wird also schleichend immer enger für die Menschen, - ob sie nun in den “unterentwickelten” oder “entwickelten” Ländern leben - solange, bis sie ihre gemeinsame Lage erkennen und hierdurch sich gegen die fremde Verwertung ihres Mehrprodukts zur Wehr setzen können (das wird sicher keine Revolution im klassischen, militärischen Sinne mehr sein können und auch nicht müssen, denn gerade über die Vermassung des Markts ist eine schleichende Vergesellschaftung von Information und Reaktionstechnik entstanden!).

Für den marxistischen Sozialwissenschafter bedeutet dies, dass er dieses Wissen auf den Kern seines Gegenstands (soziales, psychisches, politisches, reproduktives Wesen) bezieht, darin die menschlichen Zusammenhänge ent-deckt und hierdurch den Blick unglücklich lebender Menschen auf den Grund ihres Unglücks lenkt (“aus dem unglücklichen Bewußtsein ein Bewußtsein des Unglücks machen” Marx).

Theorien müssen allgemein wie einzeln stimmen und leben von der Dialektik von Praxis und Reflektion. Ihre Sprengkraft steckt sicher in der Zwangsläufigkeit ihrer Begriffe, die bei der Aufdeckung und Erklärung des allgemeinen Zusammenhangs entstehen (Identität des Einzelnen und Allgemeinen im Begriff der Sache). Aber auch im praktischen Arbeiten mit theoretischem Bewußtsein hat dies bis in den Einzelfall hinein weitreichende Folgen.

Für mich als Psychologen hatte sich beispielsweise erwiesen, dass das Wissen über die Zusammenhänge von Produktion und Reproduktion im entwickelten Kapitalismus notwendige Widersprüche in der Selbstwahrnehmung der Menschen wie auch jedes einzelnen Menschen erklären kann, der zwischen dem, was er als existenzerhaltender Mensch wahrhat und dem was er als sich selbst produzierender, liebender Mensch wahrnimmt, verlaufen. Daraus war meine Kulturtheorie entstanden, welche die darauf gegründete Trennung von Empfindungen und Selbstgefühlen zu einem seelischen Bedürfnis nach Sinn für sich entwickelt hat (abstrakt menschlicher Sinn), das nur durch die Vernutzung menschlicher Gegenwart in den zwischenmenschlichen Beziehungen befriedigt werden kann. Diese Tatsache, dass Menschen sich nicht vollständig im sachlichen Austausch ihrer Produkte zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse treffen und hierdurch sich als Mensch realisieren, an ihrer Natur und den Gegenständen ihrer Arbeit wechselseitig teilhaben und -nehmen, sondern dass sie sich selbst als Menschen zum Gegenstand ihrer Bedürfnisse haben und machen, hat die Psychologie (vor allem die Psychoanalyse) zwar ausgiebig beschrieben, immer aber nur auf affirmative Begriffe gebracht (Objektbesetzung als notwendiges Triebereignis, Stimulation eines naturgegebenen Organismus), weil die Psychologen dies in ihrer Praxis selbst betreiben und jede Wahrheit für sich vernutzen. So kam ich darauf, dass die Wahrheit in der Wahrnehmung selbst beherrscht wird, dass also die Wahrnehmung der Gegenstand marxistischer Psychologie sein muss, welche damit die zwischenmenschlichen Bollwerke bürgerlicher Heimlichkeiten und Allmachtsbedürfnisse, angreifen kann - diese sind eben alle Formen (nicht Inhalte!) der bürgerlichen Kultur, namentlich die burgherrliche Familie, die Kunstbeherrschung in ihren Institutionen und die Gemeinde.

Unter bestimmten zwischenmenschlichen Umständen (z.B. Störungen in der Kleinfamilie, Verzweiflung bei Alleinerziehenden, Karriere- oder Lebensbrüche, Liebeskrisen) werden zudem diese Formen zur Krise aufgehobener Wahrheit in der Wahrnehmung, zur Selbstentfremdung der Wahrnehmung, zum vereinsamten Selbstgefühl als Gewalt gegen die Wahrnehmung gebracht und deshalb manchmal auch dem Psychotherapeuten als seelisches Leiden vorgestellt, der es solange nicht einer gesellschaftlichen Menschlichkeit zuführen kann, wie er selbst von seiner Berufsform als vergesellschafteter Mensch sich bestimmen läßt (die Darstellung der Logik des abstrakt menschlichen Sinns und seiner Krisen ist leider immer noch nicht vollständig ausgeführt).

Solche Erklärungen sind natürlich zu erst mal Grundlagen einer theoretischen Auseinandersetzung mit anderen "Wissenschaftsansätzen" und ihren Multiplikatoren. Sie sind niemals praktische Handlungsanleitung, wie es die bürgerliche Psychologie in ihrer Praxis verlangt, weil sie gerade auf dem Zwang der Funktionalität beruht, den sie an ihren Klienten per Diagnostik, Methode und Mittel überträgt. Im konkreten Einzelfall wird sie also nicht unbedingt einen unmittelbaren Nutzen für die alltäglichen Berufsausübung eines Therapeuten bringen , der ja immer zuerst mal vor der privaten Form der seelischen Gewalt steht, aber sie lenkt den Blick in eine gänzlich andere Richtung als es z.B. ein Psychoanalytiker, Gestalt- oder Verhaltenstherapeut betreibt. Obwohl sie sich also vielleicht einer Effizienzkontrolle und damit einer Finanzierung widersetzt, kann sie sich doch konkret als Hintergrundwissen in die Berufspraxis einnischen und eine andere Art des Nachfragens und Forschens erzeugen, die andere Einsichten und Handlungsweisen ermöglichen, als es beispielsweise die Theorie der Verdrängung oder Verhaltensstimulation erbringen kann (oder die des Todestriebs, welche eigentlich die einzig wahre und ausschließliche Selbsterkenntnis des psychoanalytischen Denkens ist. Sie treibt das Erkennen so lange in sich selbst zurück, bis es tot, verfinstert ist). Mit solcher Erklärung und Behandlung werden keine Menschen zu irgendetwas gebracht oder agitiert, sondern es wird ihnen eine Klarheit ermöglicht, die nicht an dumpfen Trieben oder vertrackten Stimulantien kleben bleibt und sich für ein Weiterdenken in die soziale Welt hinein nicht verbiegen muß. Die Erkenntnis von Selbstentfremdung in einer dialektischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben kann so durchaus zum Wissen von Vereinzelung als Form menschlicher Entfremdung führen und neue soziale Bezüge an Ort und Stelle des Alltags erzeugen und zum Verlangen nach einer wirklichen menschlichen Gemeinschaft werden.

Ähnliches wird es in allen Sozialberufen geben, auch wenn sie sich nur vereinzelten Menschen gegenüber befinden, wenn sie Zusammenhänge herstellen, die nicht beim homo soziologicus oder homo politicus stehen bleiben. Das halte ich für eine wirklich praktische Aufgabe marxistischer Sozialwissenschaftler, welche ja auch die Multiplikatoren für die Schulung von Sozialarbeiter, Sozialeinrichtungen, Sozialbefragungen usw. oder Journalisten oder ähnliches sind. Ein Ausbildungsbereich mit solchen Inhalten kann andere Geister beleben, als es die bürgerlichen Dogmenschreiber mit ihrer fatalen Begrifflichkeit zustande bringen!

Das wäre meine Vorstellung von einer kritischen Sozial- und Subjektwissenschaft. Es sollte hierbei bewußt bleiben, dass es auch in den anderen Wissenschaften vieles zu tun gäbe; für besonders wichtig hielte ich eine marxistischen Staatstheorie, welche die einzige wirklich unmittelbare praktische Potenz zur grundlegenden Änderung der Lebensverhältnisse enthält, weil nur durch den Staat das Verhältnis von Reproduktion und Produktion, und damit die Grundlage jeder Lebensorganisation verändert werden kann - die Überzeugung und Stimmgewalt seiner Bevölkerung vorausgesetzt. Auch eine Aufarbeitung marxistischer Inhalte, die im Stalinismus offensiv umgesetzt wurden, wäre ungeheuer notwendig.