Hamburg, Altona Nord
Zum letzten Mal „Phantom der Oper“

von Gaston Kirsche (gruppe demontage)
 
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Bullaugenimitate als Fenster, ein schräg hochstehendes Vordach aus Stahl und viel pissgelber Klinker – seit 11 Jahren steht am S-Bahnhof Holstenstraße unübersehbar die „Neue Flora“. Form und Inhalt harmonieren prächtig miteinander: Von außen der bei Hamburger Neubauten der 90er Jahre standardmäßige pseudomaritime Stil mit der Originalität einer Büroklammer, drinnen Kultur als Fliessbandbetrieb. Am Eingang die Ankündigung: „Nur noch bis 30. 6.: Das Phantom der Oper“. Zum letzten Mal lief das tägliche Ritual ab: Vor 16 und 20 Uhr laden Reisebusse und Taxis Hunderte von Leuten in Ausgehkleidung ab, aus der S-Bahn strömen Weitere, Autos kurven hektisch herum auf der Suche nach einem Parkplatz. Jugendliche versuchen mit Handzetteln das Musicalpublikum zum Besuch nahegelegener Restaurants zu bewegen, zwei hotelmäßig uniformierte Türsteher passen am Hauptportal auf, das die sich hier tagsüber zum Saufen treffenden AnwohnerInnen beim Einlass des Publikums entfernt halten. Wie jeden Tag ist unter der Eingangstreppe die Pisse weggespült worden – auch hier gibt es kein öffentliches WC. Dafür aber zwei Vorstellungen täglich mit jeweils Tausend Plätzen. Über 7 Millionen BesucherInnen haben das Musical „Das Phantom der Oper“ seit 1990 gesehen. Seit 1998 lief es nicht mehr so gut, Eintrittskarten wurden vermehrt zu Sonderpreisen verkauft, um die Vorstellungen aufzufüllen. Als der Besitzer, die Stella Entertainment von Fritz Kurz Anfang 2000 kurz vor der Pleite stand, schien es mit der Neuen Flora wie mit Cats und dem Operettenhaus vorbei zu sein. Aber die Hoffnung war trügerisch: Wenn der Kapitalismus mal was gutes haben könnte – in diesem Fall der Abgang der Stella AG ohne Vorhang – dann greift der Staat ein. Die Landesregierung Baden-Württemberg hatte 1998 eine Bürgschaft über 30 Millionen für die Stella AG des Stuttgarters Fritz Kurz übernommen. Die Stella ist seit Juni 2000 im Besitz der DEAG, Deutsche Entertainment von Peter Schwenkow. Der beschloss, die ewiglaufenden Musicals Phantom und Cats durch neue Produktionen ähnlicher Machart zu ersetzen. Im September startet Mozart – bis dahin wird das Kulturfließband umgebaut.

 So heftig bei der Premiere vor 11 Jahren das „Phantom der Oper“ umstritten war, so unspektakulär wird es jetzt vom Spielplan abgesetzt. Im Juni 1990 fanden die „Phantomenalen antikapitalistischen Aktionstage“ in Hamburg statt. Zeitgleich mit der Premiere des „Phantom“ tagte seinerzeit das erste Mal die „Internationale Handelskammer“ in Hamburg, um die Claims in den zusammengebrochenen Staaten Osteuropas abzustecken. Für die linksradikale Szene war der Zusammenfall dieser zweier Events ein willkommener Anlaß zum Stören, zumal der Premiere in der „Neuen Flora“ ein Erfolg an der „Alten“ Flora vorangegangen war. Ursprünglich wollte Fritz Kurz sein Phantom-Musical am Schulterblatt  inszenieren – aus den Protesten gegen die dadurch befürchtete Umstrukturierung des Schanzenviertels entwickelte sich die Besetzung der seitdem Roten Flora. Am 12. 9. 1988 zog Fritz Kurz sich aufgrund der auch militanten Proteste entnervt vom Schulterblatt zurück und bat die Stadt um einen anderen Standort für seinen Musicalbau. Der Senat  wurde 800 Meter entfernt fündig: Am S-Bahnhof Holstenstraße. Der Rotflorist Andreas Blechschmidt bemerkte in dem Buch „Umkämpfte Räume“ 1998 im Rückblick dazu selbstkritisch: „... rief dieser Standort keine Mobilisierung hervor – auch weil ‚Aus den Augen, aus dem Sinn‘ bei der Intensität des Widerstands eine Rolle gespielt hat“.

Aber gerade hierdurch wurde die Premiere des „Phantom“ ein denkwürdiges Ereignis: Die Polizeiführung rechnete nicht mit spektakulären Protesten – und wurde überrascht.  Zwar waren am 29. Juni 1990 Tausende Polizisten und BGSler im Einsatz, aber hauptsächlich zum Schutz der Tagung der Internationalen Handelskammer. So konnten sich direkt vor dem Portal der Neuen Flora hunderte Protestierende sammeln. Als Premierengäste wurden Prominente und Reiche erwartet – die Karten kosteten für diesen Abend ein- bis zweitausend Mark. Spätestens am Eingang kamen sie in häufig recht direkten Kontakt mit dem Protest. Die festlichen Kleider und Anzüge von vielen Hamburger Pfeffersäcken wurden Teil eines Happenings: Flüssigei auf grauem oder schwarzen Anzug und Farbei auf Pelz waren die beliebtesten Arrangements. Die Polizei begann, ohne Verständnis für diese Straßenkunst, den Platz mit Wasserwerfer und Knüppel frei zu räumen. Nicht verhindert werden konnten die Unmutsäußerungen in den Seitenstraßen. Viele AnwohnerInnen beteiligten sich dort daran, den Premierengästen auf dem Weg zum Phantom die Vorfreude zu trüben. Nicht sehr ratsam war es, mit dem Cabrioporsche vorzufahren. Die Greif- und Prügeltrupps der Polizei konnten nicht überall sein. Am nächsten Tag klagte Bild: „Autos verglühten, Wasserwerfer leer – Polizei verlor Schlacht“. Der GAL-Abgeordnete Manfred Mahr jammerte über die „Eskalation der Gewalt“. Die Zeitschrift Konkret nahm einen rotgesprenkelten Anzugträger als Titelbild und kombinierte auf zwei Heftseiten Fotos von den Premierenprotesten mit passenden Zitaten aus Opern, etwa: „Lodern zum Himmel, seh ich die Flammen“ zu einem ausbrennenden Mercedes.  Im sonst so anonymen, von großen Straßen dominierten Stadtteil Altona-Nord ergab sich an diesem Tag eine nette Gemeinsamkeit auf den Straßen. Für den Senat ist Altona-Nord seitdem um so mehr ein „sozialer Brennpunkt“.

F. von der Gruppe Junger Anarchisten/Rätekommunisten (GJA/R) bilanzierte etwas zu euphorisch eine Woche später in den Lokalberichten Hamburg: „Die autonom-revolutionäre Szene ist immer noch mobilisierungsfähig.“ Der Erfolg bei der Störung der Phantom-Premiere lag mehr an glücklichen Zufällen, einer erfreulich blöden Polizeistrategie und an der nachbarschaftlichen Protestbeteiligung mit dem sprichwörtlichen Blumentopf als an einer mobilisierungsfähigen Linken. Es war eine einmalige Konstellation, das sich Hamburgs Reiche und sogenannte Schöne ein Stelldichein in einem von Armut geprägten Stadtteil gaben: Maximilian Graf von Bismarck, Helmut Schmidt und sein Freund und Mäzen Kurt A. Körber, Volker Rühe und andere Prominente verirren sich sonst nicht in die „Neue Flora.“ Das Publikum des Phantom besteht aus KleinbürgerInnen, die sich mal eine Wochenendpauschalreise nach Hamburg gönnen. Auch bei den Lesereisen des „Neuen Deutschland“ nach Hamburg stand öfters ein Phantom-Besuch mit im Programm. Einige Phantom-Besucher standen immer auch auf den Parkplätzen der Gegend in kleinen Gruppen um ihre Autos herum und verspeisten mitgebrachtes Essen. Umstrukturierung im Stadtteil und gewinnorientierter Kulturbetrieb als kapitalistische Modernisierung lassen sich nicht so in das vereinfachte Schema von guten Armen gegen böse Yuppies hineinpressen, wie dies Genosse F. von der GJA/R seinerzeit sah: “Werden die Yuppies über das Phantom das Viertel stürmen und die Armen vertreiben, oder werden sie dabei auf die Fresse kriegen? ... Die PhantombesucherInnen jagen wir aus dem Viertel, und die Hafenstraße bleibt.“ Angemessener erscheint mir - auch im Nachherein - ein Spruch, der auf einem Transparent am 29. Juni 1990 am Portal der Neuen Flora hochgehalten wurde: „Kurz-Kultur im Fast-Food-Stil – macht bloß dumm und kostet viel.“

  • Ende September erscheint im Schwarzen Faden Nr. 73 ein längerer Text (49.000 Zeichen) der gruppe demontage: Städtische Modernisierung und Restlinke – Zur Auseinandersetzung um die Rote Flora in Hamburg. Bestellmöglichkeit für den Schwarzen Faden: schwarzerfaden@gmx.de.