Rechnen lernen von VW
5000 x 5000 = Arbeitstag nach Bedarf des Hauses

Die Analyse des GegenStandpunkt-Verlags in Radio Lora vom 9. Juli 2001

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Ende Juni brachen die Volkswagen AG und die IG Metall ihre Verhandlungen über ein neues Beschäftigungsmodell ab. VW wollte 5000 neue Arbeitsplätze schaffen. Die Gewerkschaft soll diese gute Tat verhindert haben. Sie hatte ausgerechnet, dass die Löhne an den neuen Arbeitsplätzen weit unterhalb der gültigen Tarifverträge liegen würden, und lehnte das "Angebot" von VW als Generalangriff auf den Tarifvertrag ab. In der Öffentlichkeit und von Seiten aller Parteien trug ihr das den Vorwurf ein, sie verhindere mit ihrem "sturen Festhalten am starren Flächentarifvertrag", dass 5000 Arbeitslose einen Job bekommen.

Weil ein paar Millionen Arbeitslose Geld zum Leben brauchen, das es hierzulande für Eigentumslose nur gegen Arbeit gibt, hat man laut Hurra zu schreien, wenn Unternehmen Leute zu egal welchen Bedingungen einstellen. Die Fragen, ob der angebotene Lohn überhaupt zum Leben reicht und wie lange man dafür arbeiten muss, sind in der öffentlichen Debatte – auch bei der Gewerkschaft – überhaupt kein Thema. Was sonst in der Marktwirtschaft selbstverständlich ist, dass Vertragspartner über die Bedingungen ihres Geschäfts verhandeln, hat sich am Arbeitsmarkt endgültig aufzuhören. Die Öffentlichkeit stößt die Gewerkschaft auf die Wahrheit ihrer eigenen Mahnungen von gestern: "Arbeitslosigkeit ist das Problem Nr. 1". Wenn fehlende Arbeit das Hauptproblem ist, dann ist Arbeit die Hauptsache ist, und dann ist alles andere – Lohn, Arbeitszeit, Arbeitsbedingungen – Nebensache: Wer auf Lohnarbeit angewiesen ist, hat keine Bedingungen zu stellen. Er hat sich vielmehr denen zu fügen, die ihm von Unternehmensseite gestellt werden.

Worin besteht das Angebot von VW?

Der Autokonzern plant ein neues Werk für die Produktion von Minivans. 5000 Arbeit Suchende will er dafür neu einstellen; 5000 Mark soll das Entgelt sein – daher heißt das neue Arbeitszeitmodell "5000 mal 5000".

Das Neue an diesen Arbeitsplätzen ist jedoch nicht die in Arbeiterkreisen für üppig gehaltene Bezahlung, sondern die Bedingungen, die die neuen VW-Werker dafür erfüllen müssen. Üblicherweise bekommen Arbeiter einen Lohn, der entweder auf eine tariflich ausgehandelte Stundenzahl bezogen ist oder auf eine Stückzahl, die innerhalb dieser Arbeitszeit hergestellt wird. Braucht das Unternehmen auf Grund einer besseren Marktlage mehr Arbeit, muss es entweder den schon angestellten Arbeitern für Überstunden mehr bezahlen oder es muss zusätzliche Arbeitskräfte einstellen – in beiden Fällen steigt die Lohnsumme. Für die 5000 5000-Mark-Löhner hat sich VW eine neue Methode einfallen lassen: Das Unternehmer setzt die Zahl der Minivans fest, die in einem bestimmten Zeitraum herzustellen sind. Bewerkstelligen soll das die Belegschaft mit den betriebswirtschaftlich durchkalkulierten Arbeitsbedingungen, für die VW so viele Arbeiter anheuert, wie es für eine mittlere Auslastung der Kapazitäten rentabel ist – eben 5000. Es ist die Sache der Beschäftigten, ob sie für dieses Produktionsziel mit der tariflichen 35-Stunden-Woche auskommen oder ob sie dazu länger brauchen. Für einen unerwartet guten Absatz der neuen Vans kalkuliert VW sogar mit einer wöchentlichen Arbeitszeit bis zur gesetzlichen Höchstgrenze von 48 Wochenstunden (und – wie bisher schon üblich – auch darüber hinaus). Der Lohn bleibt jedoch immer derselbe. Weder müssen zusätzliche Arbeitsstunden zusätzlich bezahlt werden, noch gibt es dafür Überstundenzuschläge oder Freizeitausgleich. Selbstverständlich müssen sie auch am Samstag anrücken, wenn die angeordnete Stückzahl bis Freitag nicht zu schaffen ist; den in bisherigen Tarifverträgen üblichen Wochenendzuschlag spart sich VW. Das Unternehmen rechnet sich also für eine geplante Anzahl von Minivans eine feste Gewinnspanne aus und macht es zur Sache der zum Festlohn von 5000 Mark Beschäftigten, die Leistungen zu erbringen, die zur Herstellung der Autos nötig sind. Der Lohn ist fix und wird für ein vorgegebenes Endprodukt ausbezahlt – die dafür von den Arbeitern aufzubringende Leistung schwankt in einem sehr breiten, vom Unternehmen festgelegten Rahmen.

Um eine kapitalistische Neuigkeit handelt es sich dabei nicht, vielmehr um eine konsequente – und radikale – Fortsetzung dessen, was seit einiger Zeit unter dem Schlagwort "Flexibilisierung" abläuft und mit den Flächentarifverträgen ziemlich flächendeckend schon betriebliche Praxis geworden ist. Die tarifliche Wochenarbeitszeit ist in modernen Fabriken längst nur noch eine Verrechnungsgröße. Auf Gleitzeitkonten wird darüber Buch geführt, wie viele Stunden die Beschäftigten über die tarifliche Anwesenheitspflicht hinaus gearbeitet haben. Allerdings steht ihnen dafür bislang vertraglich ein Ausgleich in Form von arbeitsfreien Stunden oder Tagen zu – in manchen Branchen auch in Form einer Bezahlung der Überstunden, die zum Abrechnungsstichtag aufgelaufen sind. Aber das bedeutet für die Unternehmen, die mit der Arbeitszeit ihrer Beschäftigten flexibel umgehen wollen, Mehrkosten. Oder sie müssen einen Rechtstreit führen, wenn sie wie jüngst DaimlerChrysler den Freizeitausgleich so lange nicht gewähren, bis der Anspruch darauf wg. Überschreitung des vertraglichen Ausgleichzeitraums verfallen ist. Im Modell "5000 x 5000" will VW diese aus der Sicht der Kapitalisten bestehenden Konstruktionsmängel tarifvertraglicher Gleitzeit-Modelle korrigieren.

Im vorletzten Jahrhundert hat Marx bewiesen, dass Unternehmer den Arbeitern nicht eine bestimmte Menge Arbeit abkaufen, sondern das Recht, über deren Arbeitskraft so lange zu verfügen, wie das Gewinn bringend ist. So nutzen kapitalistische Unternehmer die Fähigkeit der Arbeiter, einen größeren Wert zu erarbeiten, als deren Lebensunterhalt kostet, für die Produktion des Mehrwerts, den sie sich aneignen. Sie taten dies allerdings 150 Jahre meist in der Form, dass sie jede einzelne Stunde bezahlten und so viele Arbeitsstunden anordneten, wie es für sie lohnend war. Da der Lohn nie zum Leben reichte, mussten die Arbeiter froh sein, wenn sie möglichst viele Stunden arbeiten "durften". Die unternehmerischen Gewinnrechnungen führten allerdings dazu, dass der Arbeitstag so ausgedehnt wurde, bis die Arbeiter ihn nicht mehr aushielten und sich eine Beschränkung des Arbeitstages erkämpften (bzw. der Staat gesetzlich einen Normalarbeitstag verordnete).

Mittlerweile haben die Kapitalisten mit allerhand Flexibilisierungsregelungen den Normalarbeitstag längst ausgehebelt und mit den Gewerkschaften tarifvertraglich ausgehandelt, dass die Arbeitstage auch ohne Mehrkosten den Nachfrageschwankungen angepasst werden können. Mit "5000 x 5000" will sich VW von den Umständlichkeiten dieser Vertragsklauseln befreien. Im soeben begonnenen 21. Jahrhundert verlässt sich dieser Konzern darauf, dass die Erpressung mit dem Arbeitsplatz genügt, um unter fast 4 Mio. Arbeitslosen 5000 Bewerber zu finden, die für 5000 Mark Festlohn zu jeder konjunktur- und marktgerechten Überschreitung des Normalarbeitstages bereit sind.

Damit übernimmt VW eine Vorreiterrolle ziemlich grundsätzlicher Art: Warum eigentlich sollen Kapitalisten 100 Jahre nach der Überwindung des "Manchester-Kapitalismus" durch kollektivvertragliche Einschränkungen ihrer absoluten Kalkulationsfreiheit noch mit Gewerkschaften über Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen verhandeln? Zeigt nicht die Zahl von mehreren Millionen inländischen Arbeitssuchenden und noch viel mehr außerhalb der EU-Grenzen, dass Arbeitskräfte auch zu Bedingungen eingestellt werden könnten, die völlig einseitig von den Unternehmen nach ihren jeweiligen Gewinnrechnungen festgelegt und jederzeit allen Marktschwankungen angepasst werden können, ohne dass sie mit Gewerkschaften über Öffnungsklauseln und Flexibilisierungsregeln herumstreiten müssten? – Das Experiment "5000 mal 5000" gibt dem VW-Vorstand Recht: Mehr als 10 000 bewarben sich in aller Freiheit eines modernen Arbeitslosen für die projektierten 5000 Arbeitsplätze. VW schöpft so wie alle anderen Arbeit"geber" aus der Reservearmee, die sie mit Entlassungen auf Grund von Rationalisierungen selbst geschaffen haben. Den Arbeitslosen hilft der Staat extra auf die Sprünge – mit seiner Verwaltung der Arbeitslosenkasse: Er reformiert laufend die Regeln für die Inanspruchnahme von Arbeitslosengeld so, dass die Unternehmen diese Reservearmee nach Geschäftsbedarf nutzen können. Insbesondere hat er mit der Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln die Parole "Hauptsache Arbeit" zum unausweichlichen Sachzwang gemacht und damit den freien Willen Arbeitsloser angestachelt, alle Arbeitsplatz-"Angebote" der Kapitalisten unbesehen anzunehmen.

Mit dem Vorstoß hat VW, das sich früher einen Namen als Vorreiter in Sachen überdurchschnittlich guter Haustarifverträge gemacht hat, ihre Tarifpartnerin, die IG Metall, in eine Verlegenheit gebracht. Die Gewerkschaft, die sich bislang immer mit dem begnügte, was die Gegenseite ihr auf Grund ihrer Gewinnkalkulation als Haustarif über dem Flächentarif angeboten hatte, sieht sich damit konfrontiert, dass sie bei der Aufkündigung bisheriger Entlohnungsregeln durch VW nichts zu sagen, sondern nur noch zuzustimmen hat. Sie sperrt sich erst einmal; denn sie sieht ihre Existenzberechtigung bedroht – wozu bräuchte es noch eine Gewerkschaft, der nicht einmal der Schein bleibt, dem Konzern irgendetwas "abgerungen" zu haben? Aber ein "Ausweg" ist in Sicht: Man gründet für das neue "Modell" eine eigene Gesellschaft und erklärt dann, dass es sich dabei nur um eine "Insel" innerhalb einer sonst intakten Tariflandschaft handelt. Damit hat die Gewerkschaft über ihre Zustimmung immerhin noch verhandelt und klargestellt, dass man auf ihre Mitarbeit bei der Organisation der Ausbeutungsbedingungen nicht verzichten sollte. Dann wäre sie zu haben für die Ausgliederung einer "5000 x 5000"-Fabrik aus dem VW-Konzern als "zeitlich befristetes Experiment", in dem Formen einer "zukunftsfähigen Sozialpartnerschaft" erprobt werden …

Lesetipps:

Mehr zu "5000 x 5000": "Ideenschmiede Volkswagen – VW-Experiment: 5 000 neue Jobs ohne feste Arbeitszeit" (GegenStandpunkt 1-2000, S. 5)

Weitere Innovationen in Sachen Lohn & Leistung aus dem Hause VW:

  • "Das neue Arbeitszeitmodell von VW: Zuviel Kapital – weniger Arbeit – mehr Armut" (4-93, S. 91-106)
  • "Das Wolfsburger Alters-Teilzeitmodell – maßstabsetzender ‚Generationenvertrag‘ zwischen Gewerkschaft und Kapital" (3-97, S. 38)
  • "VW sichert deutsche Arbeitsplätze – demnächst sogar regelmäßig samstags und zum Normaltarif (4-98, S. 62)
  • "Die ‚gläserne Autofabrik‘ von VW in Dresden – Made in Germany: Produktion als Event" (3–99, S. 72)

Grundsätzliches zur "Flexibilisierung der Arbeitszeit" …

  • "Arbeitszeitkonten und feste Monatslöhne: Lohnform Arbeitsplatz" (GegenStandpunkt 4-95, S. 16-26)
  • "Arbeitszeiten nach Maß des Kapitals: Gleitzeitkonten – ‚Vertrauensarbeitszeit‘ – Leiharbeit und Flexipools – Neuregelung des Beschäftigungsförderungsgesetzes" (GegenStandpunkt 4-2000, S. 75-83)

… und zum "Bündnis für [Hauptsache] Arbeit":

  • "Neue Runde im ‚Bündnis für Arbeit‘: Die sozialdemokratische Herrschaft hält weiterhin den Lohn der Nation unter Kontrolle – Und nach dem Bündnis für Arbeit: Eine zweite ‚Qualifizierungs-Offensive‘ gegen das Arbeitslosenheer insgesamt (im neu erschienenen GegenStandpunkt 2-01, S. 38-46)

GegenStandpunkt 2-01 ist im Buchhandel, ältere Nummern sind beim GegenStandpunkt-Verlag erhältlich.