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Berliner Wirtschaft *

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Berlin, im Sommer 2001. Neuwahlen stehen an, denn das regierende Personal kommt mit der Regulierung der hauptstädtischen Widersprüche nicht mehr zurecht. Nun sollen die Bürger entscheiden, in welcher Stärke die konkurrierenden Parteien im Abgeordnetenhaus sitzen und an der Verwaltung des Status quo beteiligt werden. Alle Parlamentsparteien treten mit Sanierungsprogrammen an. Dabei finden sich viele Vorhaben, was Berlin sein soll, aber es findet sich keine Analyse, was Berlin ist.

Insbesondere die PDS vermeidet alles, was wie ein Widerspruch gegen Sparpläne aussehen könnte. Als alternative Elite mit Ostqualifikation empfiehlt sie sich für die Teilhabe an der Geschäftsführung. Wie bei ihren parlamentarischen Kollegen wird nicht über die vier Milliarden für die Bankgesellschaft diskutiert, sondern über die Kosten der Berliner Hallenbäder geredet. Wie aber sieht es in diesem Berlin aus, elf Jahre nach dem glorreichen Anschluß des Ostens, nach mehr als zehn Jahren großer Koalition? Welche Mittel stehen hier wem zur Verfügung? Was läßt sich damit anstellen?

Besonderheiten der Lage

Wer dem Gemeinwohl mißtraut, weil es so gegensätzliche Interessen in dieser Gesellschaft gibt, die ein gemeinsames Wohlergehen ausschließen, der sollte genauer hinsehen. Die Ankündigungen der Sanierer stellen der Berliner Bevölkerung Enteignungen in Aussicht: höhere Eintrittsgelder, geringere Unterstützungen, weniger öffentliche Räume. Diese Einschränkungen werden aber verschiedene Gruppen in unterschiedlicher Weise betreffen. Solidarität ist keine Selbstverständlichkeit, im Gegenteil: Mit dem Druck von oben wird die Konkurrenz unter den Betroffenen wachsen. Die weit verbreitete Akzeptanz des »Sachzwanges zur Konsolidierung« ist keine Folge von Einsichten in die ökonomische Lage Berlins, sondern Ausdruck individueller Ohnmacht. Und diese Ohnmacht ist real. Wer der verschärften Konkurrenz wirksam begegnen will, darf sich über ihre objektiven Gründe keine Illusionen machen.

Für »Gesamtberlin« liegen Angaben über die wirtschaftliche Leistung erst ab 1991 vor. Zu Recht, denn die Veränderungen von der DDR auf Westniveau waren qualitativer Art. Nicht nur die Wirtschaftsordnung, auch die Statistiksysteme waren verschieden. Im Osten bilanzierte man nach dem »Material Product System (MPS)«, das als Konsequenz der marxistisch-leninistischen Theorie angesehen wurde. Im Westen hielt man sich an das »System of National Accounts (SNA)«. Wie immer in der Geschichte der politischen Ökonomie bewährte sich auch in der Systemkonkurrenz des Kalten Krieges der Begriff der »produktiven Arbeit« als Kampfbegriff. Im MPS des Ostens wurden nur die materielle Produktion, Transport- und Kommunikationsleistungen als Reichtum schaffend angesehen. Die anderen Bereiche galten als Sphären der Zirkulation und Konsumtion. So sehr man den sozialistischen Staat auch als Fortschrittskraft lobte, statistisch gesehen war er ein reiner Kostenfaktor.

Das ist im SNA anders. Dieses basiert auf der Erfassung der bezahlten Leistungen, gleich welcher Art. Der Überschuß des Erlöses über die Vorleistungen (ohne Lohnkosten) macht hier die Leistung aus. So wird im Westen sogar der Staat mit einem Reichtumsbeitrag eingesetzt: »Für die Institutionen des Staates und die privaten Organisationen ohne Erwerbszweck wird die Bruttowertschöpfung (BWS) durch Addition der Einkommen aus unselbständiger Arbeit der bei ihnen Beschäftigten, der von ihnen gezahlten indirekten Steuern sowie der Abschreibungen ermittelt.« Beide Statistiksysteme erhielten übrigens die offizielle Weihe der UNO, das SNA 1968, das MPS drei Jahre später.

Die gegensätzlichen Folgen der Währungsunion wurden in Ost und West noch nach unterschiedlichen Systemen erfaßt: Der Anschlußboom zeigte sich in Westberlin mit einem Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 84,5 Milliarden DM im Jahre 1989 auf 91,4 Milliarden DM im folgenden Jahr. Während aber die Anzahl der beschäftigten »Arbeitnehmer« von 758 000 (1989) auf 786 000 (1990) zunahm, ging die Zahl der Arbeitslosen (Jahresdurchschnitt) im gleichen Zeitraum nur von 91 875 auf 90 123 (= 9,4 Prozent) zurück. Die neuen Leute kamen von draußen, aus dem Umland, das nach allen Himmelsrichtungen Osten war.

In Ostberlin brach im zweiten Halbjahr 1990 die Industrieproduktion um 50 Prozent ein. Die zentralen DDR-Behörden wurden nach dem Anschluß abgewickelt. Im Dezember 1990 hatte Ostberlin mit 66 000 Arbeitslosen nahezu Westniveau erreicht (9,3 Prozent). Ein weiterer Rückgang auf etwa ein Drittel der industriellen Leistung von 1989 erfolgte im ersten Halbjahr 1991. Erst auf diesem niedrigen Niveau erfolgte eine Stabilisierung und später ein Anstieg, der prozentual ganz prächtig aussehen konnte, aber eine materielle Produktion auf dem Niveau des letzten DDR- Jahres bis heute nicht wieder erreichte. Damit unterscheidet sich ganz Ostdeutschland deutlich von anderen ehemals nominalsozialistischen Ländern, etwa von Polen, Ungarn und Tschechien. Auch sie wiesen, bezogen auf den Stand von 1991, zum Teil große Wachstumsraten auf, um aber immerhin kurz vor der Rußlandkrise 1998 das 1989er Produktionsniveau wieder zu erreichen.

Kräfteverhältnis

Mit der ehemaligen Hauptstadt der DDR hatte das Land Berlin einen Teil der neuen deutschen Ostprovinzen in seinen Grenzen. Dort wohnten 1991 mit 1,275 Millionen Menschen etwa 37 Prozent der Berliner, aber nur 17,6 Prozent des Berliner BIP (119 Milliarden DM) entfielen auf den Osten. Das Kräfteverhältnis zwischen beiden Teilen der Stadt stand daher nie in Frage; politisch war sie problemlos zu kontrollieren. Anschlußeuphorie und große Koalition garantierten die Hegemonie des alten Westberliner Klüngels.

Die Besonderheit Berlins besteht aber nicht allein darin, daß nur hier Ost und West in einem Land zusammengebunden sind. Zur Besonderheit Berlins gehört ebenso, daß die Währungsunion und der Anschluß der DDR die ökonomische Funktion und soziale Struktur beider Teile Berlins veränderten. Auch Westberlin hatte seine bisherige Existenzberechtigung verloren.

Nach 1948 fand sich die westliche Teilstadt als kapitalistische Insel im feindlichen Meer wieder. Nur noch auf politischer Grundlage, durch Subventionen, war ein schmales Brot als Zuarbeiter zu verdienen. Kaum eine überregional bedeutende Unternehmenszentrale blieb in Berlin. Die Berlinförderung führte zum Aufbau arbeitsintensiver »verlängerter Werkbänke«, die untereinander kaum ökonomisch verbunden waren. Nach dem Mauerbau sank die Frontstadt in jeder Hinsicht zur Überseeprovinz herab. Die großen Unternehmen von außerhalb kontrolliert, auf Zuschüsse angewiesen, die lokale Politik im erbitterten Kampf um die Interessen ihrer Klientel, die Verwaltung überdimensioniert, politisiert und mit der lokalen Wirtschaft (Stadtsanierung) verfilzt: Provinz.

Neue Hauptstadt

Die privaten Interessen des Westberliner Bürgertums waren nicht mehr mit den Klasseninteressen der bundesdeutschen Bourgeoisie identisch. Den Regierungsumzug beschloß der Bundestag 1991 mit den Stimmen der PDS und zum Zwecke der »Vollendung der Einheit Deutschlands«. Die politischen Gründe für die besonderen Beihilfen waren entfallen, die neuen Ziele in der Ex-DDR kosteten. Die umstandslose Finanzierung der öffentlichen Verwaltung der Frontstadt (1989 lagen allein die Personalausgaben mit 9,4 Milliarden DM weit über den Steuereinnahmen von 6,1 Milliarden DM) gehörte ebenso der Vergangenheit an wie die Berlinförderung.

Zwar eröffnete die »Finanzierung der Einheit« mit der staatlich garantierten Finanzierung des Importüberschusses »Neufünflands« den westdeutschen Produzenten einen kritiklosen Absatzmarkt. An diesem Absatzmarkt konnte auch die Westberliner Wirtschaft teilhaben. Aber es zeigten sich die Schwächen der Frontstadtökonomie. Als untergeordnete Glieder der Produktionskette konnten Westberliner Niederlassungen nur wenig von den neuen Märkten im Osten profitieren, vom Erwerb neuer Produktionsstätten ganz zu schweigen. Als die Subventionen abgebaut wurden, zogen die kalkulierenden Eigentümer ihre unternehmerischen Schlußfolgerungen: Verlängerte Werkbänke, bloße Lohnveredelung mit oft ausländischen Kollegen waren nun nicht mehr lohnend. Während anderswo im Westen der Vereinigungsboom die Krise hinausschob, profitierte in Westberlin das produzierende Gewerbe nicht.

Besonders im verarbeitenden Gewerbe (Industrie) gingen Investitionen, Produktion und Beschäftigung massiv zurück. Die Bruttowertschöpfung (BWS) des produzierenden Gewerbes sank von 1991 bis 1995 jedes Jahr, von 38,3 Milliarden DM 1991 auf 31,3 Milliarden DM 1995, wobei der Rückgang noch durch die Steigerung der Bauproduktion geschönt wird.

Der nachhaltige Verlust der Industrie im Osten wurde von der West-Statistik nur noch als niedriges Ausgangsniveau erfaßt. Im Osten stieg von 1991 bis 1995 die BWS des produzierenden Gewerbes von 4,8 auf 6,9 Milliarden DM, es war die Aufholphase der subventionsgestützten Investitionen. Dort wurden 1991 19,2 Prozent aller Berliner Investitionen im Verarbeitenden Gewerbe getätigt, 1992: 15,3 Prozent, 1993: 23,5 Prozent, 1994: 20,5 Prozent und 1995 34,5 Prozent. Diese Zahlen machen deutlich, daß der größte Teil der Investitionen in Westberlin erfolgte. Dennoch waren die Investitionen im Osten überproportional. Sie reichten jedoch nicht aus, den Abstand in der Produktionsmittelausstattung zum Westen zu beseitigen, von der Einrichtung neuer Arbeitsverhältnisse ganz zu schweigen. Der durchschnittliche Kapitalstock je Ost- Beschäftigten beträgt im Jahre 2000 gerade mal 72 Prozent des Westniveaus. (Wirtschaftsdaten NBL, BMWiF, April 2001). Neufünfland entwickelte sich zum subventionierten Arbeitskräftereservoir.

Trotz des Rückgangs im produzierenden Gewerbe konnte sich Berlin zunächst vom negativen Trend in Westdeutschland abkoppeln, wo bereits im vierten Quartal 1992 die Rezession einsetzte und im ganzen Jahr 1993 anhielt. Dieses Wirtschaftswachstum wurde wesentlich vom Dienstleistungsbereich und, in geringerem Maße, vom Baugewerbe getragen. Zum letzten Mal profitierte Westberlin von seiner Lage inmitten der »Zone«: als Basislager für die Expeditionen in die ostdeutsche Wildnis, für Beamte und Abwickler. Aus der isolierten Frontstadt wurde der Brückenkopf, die logistische Basis des Anschlusses. Die Rechtsanwälte, Banker, Wirtschaftsprüfer, Softwareentwickler, die diesen Bereich repräsentieren sollen, stehen für das positive Bild einer aufstrebenden Metropole. Hierher gehören aber auch Reinigungskräfte und Sicherheitsdienste, notwendige Bedienstete zu Billigpreisen, die im Lob der neuen Gesellschaft meist vergessen werden.

Die Zunahme der Beschäftigung im Baugewerbe und bei den Dienstleistungsunternehmen konnte aber die Verluste in anderen Bereichen nicht ausgleichen. Die Arbeitslosigkeit stieg. Dabei wuchs der Anteil der Migranten an den Arbeitslosen Westberlins von 15,8 Prozent im Jahre 1990 auf 23 Prozent im Jahre 1995. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß hier die Deutschen, die Ossis, den »Ausländern« »die Arbeit weggenommen« haben, nicht umgekehrt. Da »Ausländer« aber bekanntlich kein Wahlrecht haben, spielte diese Entwicklung politisch kaum eine Rolle. Im Westberliner Bezirk Neukölln stieg der Anteil der Migranten an den Arbeitslosen von 1992 bis 2000 von 22 auf 28,5 Prozent, während sich der Ausländeranteil an der Bevölkerung nur von 18 Prozent auf 20,6 Prozent erhöhte. Die andere Sonderentwicklung betraf den Osten, wo mit massivem Einsatz öffentlicher Mittel Leute in den zweiten Arbeitsmarkt geschoben wurden. Allein die jährlichen Aufwendungen der Bundesanstalt für Arbeit und des Bundes für Lohnersatzleistungen und Arbeitsmarktpolitik in Berlin stiegen von 1991 bis 1995 von etwa 4,5 auf 7,4 Milliarden DM.

Geld und Politik

Trotz der unübersehbaren Folgen des Zusammenbruchs der Berliner Industrie verfiel der Berliner Senat nicht etwa auf Kapitalistenschelte. Das Urteil des freien Marktes kann man doch nicht kritisieren. Man machte aus der Not eine Tugend. Die Parteien der großen Koalition sahen Berlin als »Werkstatt der Einheit«, als »Drehscheibe zwischen Ost und West«, als wieder aufstrebende Metropole, auferstanden aus den Ruinen der Teilung. Wachsen sollte die Stadt, bis Ende der 90er Jahre um 200 000 Einwohner. Der Regierungsumzug und - als Krönung - die Feier der olympischen Spiele 2004 im neuen Berlin. Die alte Lüge von der Ohnmacht der Politik blamierte der Senat mit dem kühnen Einsatz Hunderter Millionen beim Umbau Berlins zur »Dienstleistungsmetropole«.

Vorzeigeobjekt der Senatsstrategie war nicht zufällig der neue Potsdamer Platz, an dem Daimler noch vom rosa- grünen Senat der Jahre 1989/90 für ein Butterbrot einen zentralen Raum der Stadt erworben hatte. Neue Büroflächen und attraktive Infrastruktur sollten her. Als Gegengift gegen die Subventionsmentalität des alten Westberliner Gewerbes wurde mit neuen Sonderabschreibungsmöglichkeiten eine gigantische Büroflächenhalde errichtet.

Allerdings mußte der Senat bei der Mittelbeschaffung die Regeln des bürgerlichen Geschäftslebens, also die Interessen seiner Lieblingsbürger, beachten: Er ging nicht etwa herbei und nahm den Privatleuten einfach ihr sauer erbeutetes Vermögen weg. Nein, gewaltsam und ohne Gegenleistung bediente er sich nur an den Einkommen der Einwohner, über direkte oder indirekte Steuern. Wenn diese Mittel aus dem laufenden Betrieb nicht ausreichten - sie reichten nicht aus -, bat er seine Lieblingsbürger um bezahlte und befristete Überlassung ihrer Zahlungsmittel: Er nahm Kredit auf und versprach Zinsen dafür. Wofür er sein Geld aber ausgab, war seine Sache. Da durften die Geldgeber nicht mitreden, das mußte unter den Herren der großen Koalition ausgehandelt werden. Mag sein, daß auch mancher gute Rat aus der Wirtschaft erhört wurde. Wenn die Politiker der Meinung waren, die Privaten könnten die Details besser richten, beließen sie ihnen ohnehin ihr Geld und richteten allerlei Möglichkeiten zur Steuerersparnis ein. Weit entfernt davon, ein unpolitisch-administratives Feld zu sein, ist die Finanzpolitik ein entscheidendes Kampfgebiet privater und kollektiver Interessen.

Den öffentlichen Finanzen Berlins wurde seit Anfang der 90er Jahre ein Spagat aufgezwungen. Die Aufgaben und Ausgaben wuchsen, die Zuschüsse des Bundes dagegen gingen zurück: von 16 Milliarden DM 1991 auf etwa sieben Milliarden DM 1995, ein Rückgang, der auch durch die Überweisungen aus dem »Fonds Deutsche Einheit« und später aus dem Länderfinanzausgleich nicht kompensiert wurde. Das Volumen des Berliner Haushalts stieg mit dem Anschluß Ostberlins zunächst von etwa 25 Milliarden DM (1990, Westen) auf über 40 Milliarden DM. Das größte Volumen erreichte der Etat 1995 mit 46 Milliarden DM. Bei den Einnahmen dominierten seit 1993 die Steuereinnahmen. Sie nahmen von 9,5 Milliarden DM im Jahre 1991 auf 15,8 Milliarden DM im Jahre 1995 deutlich zu. Die Zunahme ging nahezu ausschließlich auf Steuern zurück, die direkt (Lohnsteuer) oder indirekt (Umsatzsteuer) die Masse der Bevölkerung belasten. Zur gleichen Zeit verminderten sich die Steuern aus dem Gewinn um 30 Prozent.

In der Schuldenfalle

Bei den Ausgaben entfiel der größte Posten auf das Personal. Sie stiegen von 1991 bis 1994 von 11,5 auf etwa 14 Milliarden DM und sind seitdem mehr oder minder konstant. Dahinter steht ein Personalabbau allein in der öffentlichen Verwaltung von 220 000 (1991) auf 197 000 (1995), der vor allem im Ostteil Berlins erfolgte und die Machtressorts (Allgemeine Dienste und zentrale Verwaltung, d.h. Politische Führung, Polizei etc.) ungeschoren ließ. Daneben schlägt der sachliche Aufwand bei neun bis zehn Milliarden DM zu Buche, wobei es sich auch hierbei zu einem großen Teil um Personalausgaben handelt, da hier die Zuschüsse an die Berliner Hochschulen und Zuwendungsempfänger in Höhe von rund drei Milliarden DM verbucht sind.

Schließlich gab der Senat Geld für Investitionen bzw. Investitionszuschüsse (rund 3,5 Milliarden DM) und für Zinsen aus. Die Zinsausgaben stiegen von etwa 1,05 Milliarden DM (1991) auf 2,27 Milliarden (1995). Kein Wunder, war doch die Verschuldung des Landes Berlin, die im Jahre 1990 »nur« 12,6 Milliarden DM betragen hatte, bis 1994 auf über 30 Milliarden DM gestiegen. Auf DDR- Altlasten konnte man sich dabei nicht herausreden, denn Ostberlin war, wie alle DDR-Kommunen, 1990 praktisch schuldenfrei.

Am Ende der Boomphase lag 1994 die Gründung der Bankgesellschaft Berlin. Die Provinz griff nach den Sternen: Die Fusion der vom Senat kontrollierten Banken »Berliner Bank«, »Berlin-Hannoversche Hypothekenbank« und der Zentrale der Berliner Sparkassen, der LBB, war ein Versuch, eine überregional erfolgreiche Geschäftsbank zu bilden. Seinerzeit waren auch andere Varianten, u.a. der Erwerb der »Berliner Bank« durch eine ausländische Großbank im Gespräch. Presseberichten zufolge befand sich die Berliner Bank bereits damals in Schwierigkeiten, konnte sich aber dann, u. a. mit den frischen Mitteln der LBB, nochmals groß ins Geschäft bringen. In Ermangelung anderer Wachstumsfelder warf sich die Bankgesellschaft auf das Geschäft mit Immobilien und wurde zum größten Verkäufer von Immobilienfonds in Deutschland. Um Kunden zu gewinnen, band sich die Bank mit weitreichenden Zusagen, Mietgarantien und Verlustübernahmen.

Die Ausweitung des Geschäftes der Bankgesellschaft ging mit einer Vervielfachung der Risiken einher. Denn das Immobiliengeschäft setzt voraus, daß andere etwas Profitables mit dem Gelände anfangen. Daran fehlte es in Berlin. Nachträglich weiß jeder, daß das nicht gutgehen kann. Vorher heißt die Immobilienfinanzierung auf Pump »Realkredit«, weil man doch so etwas Greifbares wie ein genau vermessenes Stück Land erwirbt. Dann aber, wenn die Schulden drücken, nennt man das anfangs so »reale« Geschäft auf einmal »Spekulation«. Und keiner versteht mehr, wie sich ehrenwerte Familienväter auf »so etwas« einlassen konnten.

Als Brückenkopf des Anschlusses hing die Konjunktur Westberlins vom Umfang der Geschäfte in Neufünfland ab. War der Osten einmal erschlossen, war der Nachholbedarf gedeckt. Nun kehrte sich die Abhängigkeit um: Ökonomisch und sozial ist Berlin die Hauptstadt des Anschlußgebietes. Schon an der wirtschaftlichen Zwischenerholung der Jahre 1994/95 nahm Berlin nur noch in geringem Maße teil. Schließlich erfolgte nach 1995 der Zusammenbruch des Berliner Wachstumsmodells entgegen dem positiven Trend im Bundesgebiet. Auf den selektiven Boom folgte die allgemeine Krise (1996-1999). Abschreibungsobjekte fuhren tatsächliche Verluste ein, weit über die geplante Steuerersparnis hinaus.

Der behauptete Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft fand nicht statt. Er kann nicht stattfinden, weil eine industrielle Basis als Nachfrager profitabler Dienstleistungen fehlt. Der Regierungsumzug konnte dies nicht ersetzen. Auch die immer wieder hoffnungsvoll gepriesenen Kultur- und Wissensindustrien zeichnen sich dadurch aus, daß sie Güter minderer Notwendigkeit produzieren. Ohne zahlungskräftiges Publikum und Subventionen kommen sie nicht vom Fleck. Zudem ist in diesem Bereich noch nicht einmal der Beschäftigungsrückgang der Jahre 1993-1996 wieder aufgeholt.

Die Bauproduktion ging in ganz Berlin zurück, von 10,9 (1995) auf 7,7 Milliarden DM im Jahr 1999. Die arbeitslosen Kollegen der IG BAU waren Vorboten jener Immobilienkrise, die schließlich zur heutigen Pleite der Bankgesellschaft geführt hat. Der Rückgang im produzierenden Gewerbe erfaßte nun auch den Osten - von 7,2 Milliarden DM (1995) auf 6,1 Milliarden DM (1998).

Der Beschäftigungsabbau setzte sich fort, einzig im Bereich der Unternehmensdienstleistungen gab es noch eine schwache Zunahme: Berlin, die Hauptstadt der schwarzen Sheriffs und der Putzkolonnen. Im Jahr 2000 war der mit Abstand größte Berliner Arbeitgeber der Senat und das größte »private« Unternehmen mit 18 000 Beschäftigten die Bahn. Siemens rutschte in den 90er Jahren mit dem Abbau von 7 000 Arbeitsplätzen auf den dritten Platz, knapp hinter die Bankgesellschaft Berlin, die 16 200 Leute bezahlt. Die verschlechterte soziale Lage der Bevölkerung zeigte sich direkt im Rückgang von Handel und Verkehr.

Alimentierung

Die Arbeitslosen waren die wahre Wachstumsbranche. Der Umstand, daß in diesem Bereich im Jahr 2000 »nur 8 000 Arbeitsplätze verlorengingen«, reichte dem CDU- Wirtschaftssenator schon als positive Nachricht. Nachdem die Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit und des Bundes in Sachen Arbeitslosigkeit von 7,4 auf 8,5 Milliarden DM (1999) gestiegen waren, gingen die Arbeitslosenzahlen im Jahr 2000 erstmals ein wenig zurück.

Die Berliner Entwicklung entspricht der Stagnation in Ostdeutschland, wo 1996 letztmalig die Wachstumsraten über jenen des Altreichs lagen. Die »Aufholjagd« ist ausgesetzt. Für einen selbsttragenden Aufschwung, d.h. eine Akkumulation aus erfolgreicher Ausbeutung, reicht es in Neufünfland nicht. Die mit Subventionen ausgeweiteten Baukapazitäten lasten unausgelastet auf dem Markt. Das Wachstum der dezimierten Industrie machte diesen Einbruch nicht wett. Bis in eine nicht absehbare Zukunft werden die proletarischen Klassenbrüder und -schwestern (West) mit ihren Lohnabzügen, genannt Beiträge zum Sozialversicherungswesen (Rente, Arbeitslosigkeit, Krankenkasse), in einem historisch einzigartigen Akt erzwungener Solidarität die Wiedereingliederung ihrer Klassengenossen (Ost) in eine anständige Ausbeutung alimentieren müssen.

Die größten Lohnnebenkosten Deutschlands verursacht der Osten. Indem man seine Bewohner kurz hält, minimiert man die Belastungen für den Profit der deutschen Wirtschaft. Die Alimentierung sollte ohnehin nicht allzu üppig ausfallen, da dies den heilsamen Zwang zur Arbeitsplatzsuche (den Wunsch nach echter Ausbeutung wegen besserer Bezahlung) vermindern muß: Die Obergrenzen der Versorgung unterliegen einem strikten Abstandsgebot. Die Untergrenzen bestimmen sich nach dem Grad an Verwahrlosung, den man für zumutbar hält und die Leute sich zumuten lassen. Die Erfahrung von existentieller Abhängigkeit, des Zwangs, Geld verdienen zu müssen, dürfte wesentlich tiefer sitzen als Erinnerungen an »gute alte Zeiten«. Die erbarmungslose Konkurrenz auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt spricht da für sich. Die Leute haben keine Reserven, und sie wissen es. Nirgendwo wird so massiv und offen außerhalb (d.h. unterhalb) von Tarifen gearbeitet wie hier.

So wie das Wirtschaftswachstum blieben jene Mittel aus, auf die der Senat mit der Ausweitung seiner Verschuldung spekuliert hatte: die vielen neuen Steuern. Es folgte die Wende. Die 1995 nach der Wahl eingeleitete Sanierungspolitik ging weitgehend zu Lasten der Bevölkerung, ohne aber das strukturelle Defizit beheben zu können. Vor massiven Einschnitten schreckten CDU und SPD zurück. Eine Vielzahl kleiner Gemeinheiten löste die Probleme nicht. Die Länderfusion mit Brandenburg war der Versuch, die ökonomische Angliederung Westberlins an die »Zone« politisch unter Kontrolle zu bekommen. Er scheiterte an der Weigerung der Brandenburger, sich einem von der alten Westberliner CDU dominierten Berlin anschließen zu lassen. Landowskys Doppelstrategie, für die Fusion mit Attacken auf den »Osten« (»sozialistische Wärmestuben«) zu werben, funktionierte - aber nur dort, wo er zu Hause war: im alten bürgerlichen Westberlin, das mehrheitlich für die Fusion stimmte.

Die ökonomische Konkurrenz zwischen Berlin und seinem Umland, die man damals unterbinden wollte, ist in der gemeinsamen Stagnation steckengeblieben. Die Befürchtungen einer Auszehrung Berlins durch den Brandenburger Speckgürtel haben sich nur teilweise bestätigt: Nur im Bereich Handel steht den Arbeitplatzverlusten Berlins ein - geringer - Gewinn des Speckgürtels gegenüber. Wer morgens oder abends an einer Berliner Ausfallstraße steht, der sieht, wohin die Leute zur Arbeit fahren. Die Arbeitsplätze sind nach wie vor in Berlin.

Für den 30. Juni 1999 geht das Statistische Landesamt von 103 000 Berlinern aus, die außerhalb Berlins arbeiteten, davon nur 53 000 in Brandenburg. Umgekehrt hatten 164 900 in Berlin sozialversicherungspflichtig Beschäftigte ihren Wohnsitz außerhalb, davon 123 000 in Brandenburg.

Allerdings ist durchaus ein Wegzug aus Berlin ins Umland zu beobachten. Seit 1996 lag die Zahl der Fortzüge jedes Jahr über der Zahl der Zuzüge. Viele, die es sich leisten können, verlegen ihren Wohnsitz nach draußen und pendeln zur Arbeit ein.

Sanierungspolitik

Nach der gescheiterten Fusion konnte sich der Senat ganz der Konsolidierung widmen. Drei Wege versprachen Entlastung: die Reduzierung der öffentlichen Aufgaben und des zugehörigen Personals, der Rückgang der Investitionen, der Verkauf öffentlichen Eigentums. Alle diese Wege wurden beschritten. Die Privatisierung öffentlicher Versorger (GASAG, BEWAG, Wasserwerke, Wohnungsbaugesellschaften) spülte 1996-98 größere Beträge (zusammen etwa zehn Milliarden DM) in die Kassen. Die damit eingesparten Zinsen dürften sich auf etwa 400 Millionen DM pro Jahr belaufen. Zugleich hat sich der Senat von der Finanzierung zukünftig notwendiger Investitionen befreit. Diesen Vorteilen stehen allerdings der dauerhafte Verlust von »Einnahmen aus wirtschaftlicher Tätigkeit« und wirtschaftspolitischen Einflußmöglichkeiten entgegen. Motto: Das gibt's nur einmal, das kommt nicht wieder! Bei den Investitionen hielt der Senat politisch an einigen Großprojekten fest (Kanzler-U-Bahn, Großflughafen). Insgesamt liegt das Investitionsvolumen des Senates aber nur noch deshalb über der Kreditaufnahme, weil der Senat die direkten Investitionszuschüsse des Bundes nicht herausrechnet. Natürlich wurde der Personalabbau im öffentlichen Dienst fortgesetzt, um weitere 35000 Personen bis zum Jahr 2000. Auch die Machtapparate waren nicht mehr gänzlich ausgenommen.

Entlastend wirkten wachsende Einnahmen aus dem Länderfinanzausgleich. Die anderen Zuschüsse des Bundes blieben weitgehend konstant. Der Senat ließ keine Gelegenheit verstreichen, um mit der Abhängigkeit von etwa einem Drittel des Berliner Haushalts von Bund und Ländern die »Sparanstrengungen« zu verteidigen. Man sei sonst nicht mehr glaubwürdig. Für die großen Koalitionäre aber ging es vor allem um die Aufrechterhaltung ihres politischen Spielraums, der mit einer wachsenden Einflußnahme von außen zu schwinden drohte. Über zehn Jahre hatte der alte Westberliner Klüngel seinen Einfluß und seine Unabhängigkeit gewahrt, aber die Kosten dieser Unabhängigkeit nicht selbst aufbringen können.

Immerhin, zehn Jahre lang war die Strategie der großen Koalition für die CDU erfolgreich: Jahre radikaler, teils chaotischer Veränderungen ohne Aufruhr und nachhaltige Empörung. Als unangefochtene Verkörperung des bürgerlichen Lagers konnte die CDU Wählerstimmen weit über dieses Lager hinaus erreichen, indem sie sich als sozialliberale Ordnungsmacht profilierte. Die SPD wurde deklassiert (1999 auf 22,4 Prozent), ihre politische Basis aufgelöst. Mit der Privatisierung der öffentlichen Versorger schleifen die Sozialdemokraten die letzten sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen Bastionen in der Stadt. Die Opposition wurde von der Regierung ferngehalten. Die Basis der PDS ist diszipliniert in die neue Ordnung eingefügt. Ganz Berlin hat eine funktionierende einheitliche Infrastruktur und Administration. Das alte Zentrum des Ostens wurde mit der Bezirksreform kurzerhand dem sonstigen Regierungsviertel in Tiergarten und Wedding zugeschlagen, denn die neue City im Gebiet des ehemaligen Ost-Bezirkes Mitte ist die unmittelbare Fortsetzung des Potsdamer Platzes mit anderen Mitteln.

Auf der anderen Seite wurden unruhige Problemgebiete aus Ost und West im neuen Bezirk Kreuzberg- Friedrichshain zusammengefügt. Hier darf dann auch die PDS im Westen mitverwalten. Armut und Arbeitslosigkeit sind verwaltungstechnische, nicht politische Fragen. Die Probleme der Leute stören, ja beunruhigen die Regierung nicht mehr. Selbst personell war es der alten Landesführung der CDU gelungen, alles im Griff zu behalten, auch noch, als die Bonner kamen. Sie verfügt nur nicht mehr über die notwendigen Mittel.

Trotz aller Sanierungsanstrengungen blieb zur Summe der jährlichen Ausgaben ein »Rest«, der durch Neuverschuldung gedeckt werden mußte. Dieser Rest betrug vor Beginn der Sanierungsära (1994) 7,2 Milliarden DM, und konnte bis 2000 auf drei Milliarden DM gesenkt werden. Damit stieg der Schuldenstand auch in der zweiten Hälfte der 90er stetig an: von 31,1 Milliarden 1994 auf 65 Milliarden Ende 2000. In Fortführung der Privatisierungspolitik war für 2001 u. a. der Verkauf der Wohnungsbaugesellschaft GSW (geplanter Erlös zwei Milliarden DM) und der Verkauf von Teilen der Berliner Bankgesellschaft vorgesehen. Das wird nun so nicht passieren. Die Wohnungsbaugesellschaften lassen sich nur schwer und kaum gewinnbringend verkaufen, da die politisch unerläßlichen sozialen Garantien den Preis drücken. Die Bankgesellschaft versuchte, vor dem Verkauf mit den Altlasten in ihrer Bilanz ins Reine zu kommen und trat dabei eine Lawine los.

Große Koalition am Ende

Die Bankgesellschaft hatte über Jahre hinweg den Spielraum der Berliner Politik erweitert. Dividenden in Höhe von zunächst 350, später 135 Millionen DM sowie kräftige Körperschaftssteuerzahlungen waren ein fester Posten in den Planungen des Finanzsenators. Sie übernahm wacklige Immobilienprojekte und fortgelobte Politiker, finanzierte öffentliche Vorhaben und konnte all dies ohne öffentliche Kontrolle tun. Das Bundesaufsichtsamt für Kreditwesen sah den neuen Bankkonzern allerdings sehr kritisch, mit 13 Sonderprüfungen in nur sieben Jahren. Es erteilte Auflagen zur Erhöhung der Risikovorsorge und kritisierte wiederholt die Höhe der Dividenden, die vor allem an den Haupteigner, das Land Berlin zu zahlen waren.

Die unsichere Geschäftsgrundlage der ausgeschütteten Gewinne wurde deutlich, als der Termin für eine teilweise Veräußerung näher rückte. Im November 2000 beschloß der Vorstand, Teile des Immobiliengeschäftes zu verkaufen und den Erlös in die Risikovorsorge für die verbleibenden Verträge zu stecken. Dieser Deal, der Verkauf der IBAG in die Karibik, seit Anfang Januar 2001 öffentlich betrieben, machte viele Leute aufmerksam und führte zu weiteren Nachrichten über zweifelhafte Geschäftspraktiken (Spiegel, 29. 01. 01). Diese hatten alle ein Strickmuster: durch eingeschobene Vertragspartner eine externe Übernahme des Risikos vorzuspiegeln, um damit eine weitergehende Unterlegung von Krediten mit Eigenkapital zu umgehen, tatsächlich aber die vorgeschobenen Partner in weiteren Verträgen vom Risiko freizustellen.

Noch im Januar dieses Jahres wies die Bank einen Gewinn für 2000 aus und wollte Gewinne ausschütten. Kein Wunder, daß in solcher Situation das Bundesaufsichtsamt eingriff und die Dividendenzahlung überhaupt in Frage stellte. Das war im Februar. Schon in den Vorjahren war das Amt tätig geworden und hatte u. a. mehrfach eine Erhöhung der Risikovorsorge der Bank befördert. Deshalb begann der Finanzsenator schon im Februar, einen Nachtragshaushalt für 2001 vorzubereiten, da auf jeden Fall die eingeplanten Dividenden, aber auch Steuerzahlungen und Veräußerungserlöse von der Bankgesellschaft nicht mehr zu erwarten waren. Schon im März wurde eine Haushaltssperre verhängt.

Dann kam die Verkündigung der herben Ergebnisse der neuesten Sonderprüfung des Bundesaufsichtsamtes für das Kreditwesen Ende Mai: mindestens vier Milliarden DM Eigenkapitalbedarf. Das zweitgrößte private Unternehmen Berlins steht vor der Pleite. Nur eine Garantieerklärung des Senats hat Einschränkungen des laufenden Geschäftes abwenden können. Zusammen mit ausbleibenden Steuer- und Dividendenzahlungen der Bank an das Land Berlin ergibt sich eine neue »Lücke« im diesjährigen Haushalt von sechs Milliarden DM. Das Land wird sich das Geld wieder bei den vermögenderen Zeitgenossen leihen müssen, ihnen dafür Zinsen versprechen und weiter »sparen«, um diese Zinsen zahlen zu können. So wird aus einer Stadt, in der sich mit normaler Ausbeutung nicht genug Geld verdienen läßt, eine Gelegenheit für Geschäfte, weil alle wissen, daß letzten Endes der Bund, d.h. der Kredit ganz Deutschlands, hinter jedem Bundesland steht. Für den Senat aber bedeutet der Kapitalbedarf der Bankgesellschaft das Ende seiner bisherigen Politik.

Widerstand? Nirgends

Erstens sind die Finanzen ausgegangen, um gleichzeitig die bürgerliche Attraktivität Berlins fördern und den Normalzustand verwalten zu können. Zweitens ist der politische Spielraum des alten Westberliner Klüngels geschwunden. Es steht kein Bittgang zum Bund mehr bevor, sondern die Abtretung von Kompetenzen. Drittens hat sich die PDS erfolgreich im politischen System der Bundesrepublik etabliert, sie ist die große sozialliberale Partei im Osten. SPD und Grüne sind nicht mehr erpreßbar. Stilvoll hat ein breites Oppositionsbündnis aus Grünen, FDP und PDS mit einem Aufruf zu einem Volksbegehren für baldige Neuwahlen der SPD den Weg aus der großen Koalition bereitet.

Unter welchen Bedingungen der Bund nun »Hilfe« leisten wird, darum geht die Auseinandersetzung zwischen den Berliner Parteien. Im Zentrum steht die Berliner SPD. Endlich hofft sie dort anzukommen, wo die Bundespartei schon ist: in der eigenen Konsolidierung angesichts einer bankrotten CDU. Zur Erinnerung: Nach den Wahlen 1998 führte die Bundes-SPD zwar siegreich Krieg und entsorgte den illusionistischen Finanzminister und Parteichef, aber die Zustimmung der »kleinen Leute« hatten die erfolgreichen Verwalter des Status quo verloren, und mit ihr verloren sie die Wahlen, eine nach der andern. Erst die Parteispendenkrise der CDU wendete das Blatt. Zwar macht man heute keine »andere Politik«, aber man muß ja auch nur relativ besser dastehen als die Konkurrenz. Den Berliner Genossen wird solche Wiedergeburt schwererfallen, sind sie doch seit zehn Jahren an der Regierung beteiligt.

Grüne und PDS stehen gleichermaßen in den Startlöchern, mit ihrem geballten Sachverstand einen pragmatischen und zukunftsträchtigen Ausweg aus der Krise zu bahnen. Ich will gar nicht ausschließen, daß sie auf diesem Wege erfolgreich sein können. In Italien hat es die linksliberale »Ulivo«-Koalition auch geschafft, das Land für den Euro fit zu machen. Nur ihre Wähler zeigten sich nicht überzeugt. Sie erinnerten sich an ihre unerfüllten Bedürfnisse und blieben letztlich massenhaft zu Hause.

Berlusconis Wahlsieg markiert die Grenzen einer liberalen Modernisierung der Linken, die im Interesse höherer Gesichtspunkte (Staatsräson, europäische Integration, nachhaltige Entwicklung) die Organisationen der Arbeitslosen oder abhängig Beschäftigten disziplinieren, zahn- und willenlos machen.

Die Enteignung wird kommen, egal, welcher Sanierer regiert. Es gibt keine Organisation, die bereit wäre, dagegen Widerstand zu leisten. Die Gewerkschaften schweigen. Ihre Basis ist stumm. Das trade-unionistische Bewußtsein, das Generationen von Marxisten naserümpfend für ein naturgesetzliches Produkt des Kapitalismus hielten, erweist sich als kompliziertes Ergebnis kultureller und politischer Bildungsprozesse, deren Voraussetzungen heute fehlen: politische und soziale Organisationen, in denen die Erfahrungen ermüdender Konkurrenz und alltäglichen Klassenkampfes verarbeitet werden könnten. Die ehemalige Opposition will regieren. Die linken Sekten betreiben ihre Proselytenmacherei. Wenn sich die Betroffenen nicht zusammentun, ihre gemeinsamen Interessen suchen, formulieren und verteidigen, wird es keinen Widerstand geben, sondern nur individuelle Resignation.

»das bedauern wird ausgesprochen, was kann es helfen.« (brecht)

*) Dieser Artikel erschien in der Jungen Welt in zwei Teilen: Am 24.07.2001 mit dem Titel "Das Ende der Frontstadt" und am 25.7.2001 mit dem Titel "Hauptstadt des Ostens".

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