"über uns - Damals"
Geschichte unseres Verbandes
Kinderfreundebewegung in Deutschland


Von Wolfgang Uellenberg und Günter Rütz

7-8/02
 

trend
onlinezeitung

Briefe oder Artikel info@trend.partisan.net ODER per Snail: trend c/o Anti-Quariat 610610 Postfach 10937 Berlin

Im November 1998 feiert die Sozialistische Jugend Deutschlands - Die Falken den 75. Jahrestag der Gründung der Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde Deutschlands. In der Literatur erscheint die deutsche Kinderfreundebewegung häufig als ein bloßer Ableger der 1908 von Anton Afritsch in Graz gegründeten Schwesterorganisation, die sich bereits 1917 zum Reichsverein "Kinderfreunde" zusammenschloß und 1921 von der österreichischen Sozialdemokratie als deren Erziehungsorganisation anerkannt wurde.

Daß sich auch in Deutschland Sozialdemokraten schon vor dem 1. Weltkrieg Gedanken über die Verbesserung der Lebensbedingungen von Arbeiterkindern machten, ist wenig bekannt. Ihre und ihrer Eltern verheerende Lage: Arbeitslosigkeit, miserable Wohnungen, in denen viele Kinder kein eigenes Bett und erst recht kein eigenes Zimmer, ungenügend Platz zum Spielen haften, Kinderarbeit, häufig Krankheiten durch mangelnde Hygiene und unzureichende, ungesunde Ernährung, Hunger und Schulverhältnisse, in denen proletarische Kinder zwar Unterdrückung und Zwang erfuhren, jedoch wenig für ihr eigenes Leben lernten, machte vielen Sozialdemokraten bewußt, daß sie selbst Einfluß auf die Erziehung ihrer Kinder nehmen mußten. So gründete sich z.B. im vergleichsweise liberalen Hamburg 1912 durch gemeinsame Initiative der Elternvereinigung der genossenschaftlichen Hauspflege in Barmbeck, der Arbeiterturner und -schwimmer und der Arbeiterjugend den "Ausschuß zur Förderung der Ferienspiele", hinter dem von Anfang an die Partei stand. Der Ausschuß wollte "gemeinsam mit den Eltern die schädlichen Einflüsse der Großstadt auf die Kinder ausmerzen, damit eine gesunde Jugend an Körper und Geist heranwächst" (1). Schon im Gründungsjahr zählte der Verein 658 Eltern mit 1.276 Kindern als Mitglieder, führte 1913 bereits 55 Ausflüge mit 76 Kindern durch. Turnunterricht, "hygienische Gymnastik", Spielenachmittage, Kinderfeste sowie Bastelarbeiten gehörten ebenso zum Programm wie Aus- und Fortbildung der Mitarbeiter (2). Aus anderen Städten, z.B. aus Berlin, Kiel, Stuttgart und Frankfurt, wird über Ferienspaziergänge oder Kinderbetreuungsgruppen vor oder während des Krieges berichtet.

Doch obwohl es frühzeitig solche Bestrebungen gab, verhinderten die politischen, ökonomischen und rechtlichen Verhältnisse im Kaiserreich zunächst die Entwicklung einer sozialdemokratischen Massenorganisation. Erst die Novemberrevolution beseitigte dann u.a. auch die Hemmnisse, die der Entwicklung einer proletarischen Erziehungsorganisation entgegenstanden. In den Nachkriegsjahren gründeten sich an zahlreichen Orten des Reiches sozialdemokratische Kindergruppen. Sie arbeiteten zunächst jedoch recht isoliert voneinander. Unter den Bedingungen des Bürgerkrieges in Deutschland und der Inflation war die Zusammenfassung der lokalen Gründungen in einer einheitlichen Organisation erschwert. Daher kam es erst 1923 zur Gründung der Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde Deutschlands (RAG) durch denvorstand der SPD, unter Beteiligung des Zentralbildungsausschusses, der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Lehrer und Lehrerinnen Deutschlands (AsL), der Arbeiterwohlfahrt (AWO), der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) und des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB). Sie verstand sich als eine Zusammenfassung aller auf dem Gebiet der Kindererziehung wirkenden Arbeiterorganisationen, die ihre Erziehungstätigkeit nach allgemeinen sozialistischen und wissenschaftlich-pädagogischen Grundsätzen ausübten (3). Ihr Vorsitzender wurde Kurt Löwenstein. [02./03.08.1924 Erste Reichskonferenz in Leipzig]

Er begründete die Notwendigkeit der Erziehung der Arbeiterkinder durch die Klasse für die Klasse so: "Für uns ist die Erziehung unserer Kinder eine Erziehung der Kinder des Proletariats. Unsere Kinder sind Kinder unserer Klasse, unsere Klasse aber ist mehr als unsere Familie, unsere Klasse ist die werdende Gesellschaft... Unsere Kinder werden entweder Opfer im Kampfe um die werdende Gesellschaft oder sie werden Träger dieser Gesellschaft sein... Die Bourgeoisie raubt uns unsere Kinder. Jedes hungernde, frierende Kind, jedes Kind, das von der Tuberkulose heimgesucht wird, jedes aus gebeutete Kind ist ein Raub der Bourgeoisie an der Arbeiterklasse. Jedes Kind, das ideologisch festgehalten wird in den Werturteilen der Bourgeoisie, jedes Kind, dessen Hoffen und Sehnen sich in die Ergebenheit an die Mächte der Vergangenheit verliert, ist ein Verlust im Klassenkampf. Darum muß die Arbeiterklasse aktiv werden in der Wahrnehmung ihrer heiligsten Interessen. Darum muß die Arbeiterklasse bestimmenden Einfluß gewinnen auf das Wachstum ihrer Kinder. Das ist auch der tiefere Sinn der Kinderfreundebewegung. Sie ist der Versuch der Arbeiterklasse, revolutionierend einzudringen in Geist und Gestalt des öffentlichen Erziehungswesens und darüber hinaus aus eigenem Wollen und eigenem Können mit den Arbeiterkindern zusammen eine Erziehungsöffentlichkeit rein aus den Bedürfnissen der Arbeiterkinder vorzubereiten." (4)

Kurt Löwenstein

1885 wurde Kurt Löwenstein in Bleckede/Elbe als Sohn einer verarmten jüdischen Kleinbürgerfamilie geboren. Orthodox erzogen, wollte er ursprünglich Rabbiner werden. Gerade das Studium machte ihm jedoch nicht nur das Judentum, sondern alle Religionen fragwürdig. Er begriff, daß Religion nur eine Flucht vor der sozialen Wirklichkeit ist und studierte Philosophie, Pädagogik und Sozialwissenschaften. 1910 promovierte er in Erlangen zum Dr. phil.. Als Pazifist wurde Löwenstein im 1. Weltkrieg Krankenpfleger beim Roten Kreuz. Der Krieg ließ ihn zum revolutionären Sozialisten werden. Er trat in die USPD ein, wurde bald deren führender Schul- und Erziehungspolitiker, Stadtverordneter von Berlin-Charlottenburg und ab 1920 von Groß-Berlin. Die USPD/MSPD-Mehrheit der Berliner Stadtverordneten wählten ihn als Oberstadtschulrat in den Magistrat. Der preußische Oberpräsident weigerte sich jedoch, ihn in seiner Wahl zu bestätigen. Von 1921-1923 war er dann in Berlin-Neukölln Stadtrat für das Volksbildungswesen und arbeitete mit Fritz Karsen an der praktischen Schulreform (Karl-Marx-Schule). Löwenstein war außerdem ab 1920 Mitglied des Reichstages (USPD/SPD), war Vorsitzender der AsL, im Vorstand des Reichsausschusses für sozialistische Bildungsarbeit und im Sozialistischen Kulturbund. Die Kinderfreundebewegung wurde ganz wesentlich durch ihn, seine Schriften, Reden, Vorträge, die Methode einer emanzipatorischen Pädagogik geprägt. Doch "er war nicht der Führer, sondern die Stimme, die einer gesellschaftlichen Bewegung Ausdruck verlieh, als sie nach diesem Ausdruck suchte" (5). 1933 mußte Kurt Löwenstein nach einem Überfall der SA auf seine Wohnung in die CSR, dann nach Frankreich emigrieren. Von dort aus reorganisierte er die Sozialistische Erziehungsinternationale (SEI) und arbeitete in der "Union deutscher Lehreremigranten" bis zu seinem Tod [08.05.] 1939 mit.

Ziele, Inhalte und Methoden

Die Erfahrungen des Weltkrieges, der Revolution und die Arbeit in der USPD verschärften für Löwenstein immer mehr die Notwendigkeit zur Veränderung der Gesellschaft durch revolutionäre Praxis, u.a. durch eine kollektive, sozialistische Erziehung. Der theoretische Hintergrund für seine Erziehungskonzeption war der historische Materialismus von Marx und Engels. ln seinem Hauptwerk "Das Kind als Träger der werdenden Gesellschaft" schrieb er, die sozialistische Erziehung brauche nur dieser materialistischen Geschichtsauffassung zu folgen, um ihrerseits im Erziehungsprozeß das bewußt zu leisten, was die Klassenlage aus ihrer Gegebenheit heraus revolutioniert und organisiert (6). Sozialismus bedeutete für Löwenstein zunächst die systematische Umgestaltung der Wirtschaft von der Planlosigkeit zur planvollen Gestaltung, von der profitorientierten Warenproduktion zur bedürfnisorientierten Güterproduktion und gleichzeitig die Ablösung des Privateigentums durch genossenschaftliche, herrschaftsfreie Produktionsweise, durch solidarische Verkehrsformen. Dies zu erreichen war die Aufgabe der Arbeiterklasse in den Klassenkämpfen.

Die Kinderfreundebewegung wollte dazu beitragen, die praktischen, seelischen und geistigen Voraussetzungen zur Veränderung der Gesellschaft zu schaffen, um durch veränderte und verändernde Praxis einen Beitrag zum Kampf der Arbeiterklasse zu leisten. In den Kindern sollten die Kämpfer der Zukunft, das Bauvolk der kommenden Welt, heranwachsen. Die zum Aufbau einer neuen Welt notwendigen Verkehrsformen konnten nicht in der proletarischen Familie alleine, sie mußten in der Kindergruppe vermittelt werden. Eine demokratische Gemeinschaftserziehung, die Erziehung zu Solidarität, genossenschaftlicher Arbeit, zu Frieden und Internationalismus, die Vermittlung der Fähigkeit zu kollektiver Selbstorganisation und Selbstverwaltung auf allen Gebieten der gesellschaftlichen Produktion waren für die Kinderfreunde zu bewältigende Aufgaben. Nicht das Studium der Lehren von Marx oder das Nachplappern der Parolen der Erwachsenen, sondern durch die Praxis in solidarischen Kindergemeinschaften sollten Grundsteine für den Kampf gelegt werden, das Kind zum Träger der werdenden Gesellschaft heranwachsen. Nur in ihnen und durch sie war eine Erziehung vom Kinde aus, die Behandlung des Kindes als Genosse möglich. Und auch nur hier konnte das proletarische Kind die Minderwertigkeit, die es tagtäglich in der Schule, auf der Straße und auch im Elternhaus verspürte, überwinden, ohne Scheinalternativen eines kapitalistischen Lebensplanes nachzuhängen. Im Kollektiv fühlte es, nicht allein zu sein, sondern Teil einer großen Gemeinschaft, und konnte allmählich ein kollektives Selbstbewußtsein, "Wir-Stärke", entwickeln.

Doch diese Kindergemeinschaften galt es zunächst zu bilden, ihnen theoretische und methodische Hilfestellung beim Aufbau zu gewähren. Innerhalb der RAG waren die 34 Bezirksarbeitsgemeinschaften das organisatorische Rückgrat der Bewegung. Jede Ortsgruppe gehörte einer solchen Bezirksarbeitsgemeinschaft an. Die Ortsgruppe wiederum vereinte die örtlichen Distrikte. Und hier wurde die eigentliche Gruppenarbeit geleistet. Nach den Vorstellungen der RAG sollte jede Ortsgruppe aus einem Helferkreis, einem Kinderkreis und einem Elternkreis bestehen, wobei weder Partei noch SAJ, noch die Eltern Einfluß auf die Gestaltung der Gruppenarbeit nehmen konnten. Inhaltliche und organisatorische Entscheidungen lagen alleine bei den Gruppen mit ihren Helfern bzw. dem Helferkreis.

Die Kinderfreunde waren eine laienpädagogische Bewegung. Die Helfer und Helferinnen waren Arbeiter und kleine Angestellte. Viele Arbeitslose fanden hier ein sinnvolles und befriedigendes Betätigungsfeld. Es wurden aber auch Lehrer und für die Neigungsgruppen (z.B. Tanz, Sprech- und Bewegungschor) häufig Künstler zur Mitarbeit gewonnen. Die Unerfahrenheit im Umgang mit Kindern, die kindgemäße Umsetzung politischer, sozialer und ökonomischer Fragen erforderte eine umfangreiche Schulung. Helfer, nicht Führer zu sein, sich immer mehr aus dem Erziehungsprozeß zurückzunehmen und sich in den meist monatlich stattfindenden "Zausestunden" genau wie die Kinder Kritik und Selbstkritik zu unterwerfen, war auch für die Helferschaft ein wichtiges Lernfeld und nicht-autoritäres Mittel zur Selbstregulierung der Gruppen.
In der Anfangszeit gab es bei den Kinderfreunden keine Alterstrennung in den Gruppen. Häufig waren Kinder zwischen 6 und 14 Jahren zusammen, und das in der Regel unter schwierigsten äußeren Bedingungen. In den seltensten Fällen stand ein eigener Raum oder gar ein eigenes Heim zur Verfügung. Großenteils trafen sich die Gruppen in Schulräumen, in denen Tische und Bänke nicht einmal verstellt, nichts an die Wände gehängt werden durfte.

Die Falkenbewegung

Obwohl die deutsche Kinderfreundebewegung von der österreichischen sicher vielfältig inspiriert und beeinflußt wurde, entwickelte sie sich doch von Anfang an eigenständig. Sie war z.B. kein Zusammenschluß von Elternvereinen, sondern von Klassenorganisationen. Im Gegensatz zum österreichischen Hortsystem gab es in Deutschland von Anfang an stärker selbstverwaltete Kindergruppen. Anders als Max Adler und Otto Felix Kanitz sah Kurt Löwenstein die Aufgabe der sozialistischen Erziehung weniger als geistige, sondern als praktische Aufgabe an. Sein Erziehungskonzept zielte weniger auf revolutionäre Innerlichkeit als auf Befähigung zum Handeln. Und doch kamen von Österreich immer wieder neue Impulse. So wurde nicht nur der Name und der Gruß "Freundschaft" übernommen, sondern auch Formen der sozialistischen Fest- und Feiergestaltung. Von dort kam auch die Anregung zu einem qualitativen Sprung, die Verwandlung der Kinderfreunde in die Falkenbewegung. Die Widersprüche zwischen der revolutionären Theorie (Kanitz/Adler) und der eher betulichen, nicht selten liebevoll-autoritären Praxis in den österreichischen Kinderfreundehorten (7) führte dazu, daß die älteren Kinder immer öfter den Horten fernblieben. Um dieser Tendenz entgegenzuwirken, schuf Anton Tesarek "eine den Pfadfindern (in der Form) ähnliche Organisation im Rahmen der sozialistischen Erziehungsbewegung" (8), die "Roten Falken" als selbstverwaltete Kindergruppen der 12- bis l4jährigen, eine Elite innerhalb der Kinderfreundeorganisation. Sie hatten Prüfungen zu bestehen, Gelöbnisse abzulegen, den "Falkengeboten" zu folgen.

"Falke" zu sein gefiel auch den deutschen Arbeiterkindern. Nicht "Kind", sondern "Falke" genannt zu werden, stärkte ihr Verantwortungs- und Selbstbewußtsein. Die Idee des Blauhemdes mit dem Falken auf dem Arm und das rote Halstuch, die wir noch heute tragen, entstanden auch in dieser Zeit als äußeres Symbol des Kollektivs. In der Helferschaft war die Tesareksche Form zunächst umstritten. Insbesondere der Einführung von Prüfungen und Geboten stand man skeptisch gegenüber. Man wollte jedoch den Bedürfnissen der Kinder in irgendeiner Weise Rechnung tragen. So fanden die Falkengebote in abgewandelter Form Eingang auch in die deutsche Bewegung. Falke zu sein, bedeutete hier jedoch keine Elite oder Auszeichnung, war nicht abhängig von Prüfungen. Alle Kinder in der Gruppe waren Falken, wenn sie sich zur Bewegung bekannten. Gleichzeitig wurde auf der Reichsarbeitstagung und der Reichskonferenz 1927 in Hohenstein die Alterstrennung in "Nestfalken" (6-10 Jahre), "Jungfalken" (10-12 Jahre) und "Rote Falken" (12-14 Jahre) beschlossen.

Das Entscheidende war die Gruppenarbeit. Was faszinierte Kinder daran so sehr, daß sie noch heute begeistert berichten und großenteils darauf bestehen, ihre politische und soziale "Grundausbildung" bei den Kinderfreunden erhalten zu haben? - Die Diskussionen politischer, sozialer und ökonomischer Fragen, die Auseinandersetzung über Alltagsprobleme in Schule, Elternhaus und Gesellschaft spielten sicher - vor allem bei den Roten Falken - eine große Rolle. Doch die Falkengruppen waren nicht Schulungszentrale, die Gruppenarbeit bedeutete nicht Eintrichtern von Theorien. Sozialistische Erziehung mußte auch damals schon Spaß machen, um erfolgreich zu sein. Spaß, das hieß Erleben und Tun, nicht vorwiegend mit dem Kopf arbeiten.

Zur Gruppenarbeit der Kinderfreunde

Musizieren, Singen, Spielen, Basteln, Tanzen und Lesenachmittage waren feste Bestandteile der wöchentlich 1-2mal stattfindenden Gruppennachmittage. Dabei sollten Gemeinschaftsspiele, soziales Verhalten fördernde und bildende Spiele einen Vorrang gegenüber Konkurrenz- und bloßen Unterhaltungsspielen haben, Bastelarbeiten sollten nicht um ihrer selbst willen, isoliert und für den Eigenbedarf, sondern möglichst gemeinsam angefertigt und für einen gemeinsamen Zweck hergestellt werden, z.B. zum Schmuck des Gruppenraums, für Basare, um dadurch die Arbeit zu finanzieren oder auch für Solidaritätsaktionen, wie die Herstellung von Spielzeug für Kinder streikender oder erwerbsloser Arbeiter. Bei den beengten Wohnverhältnissen, wie den meistens unbefriedigenden Gruppenräumen, waren selbstverständlich auch Spiele im Freien ein wichtiger Bereich. Schwimmen, Ball- und Geländespiele, mit Themen aus der Geschichte der Freiheits- und Klassenkämpfe - z.B. Bauernkrieg, Rote Feldpost - gehörten zum Programm.

Einen besonders wichtigen Stellenwert in der Falkenpädagogik hatten die an den Wochenenden stattfindenden Ausflüge, Wanderungen und Fahrten. Kurt Löwenstein meinte: "Wir sehen in der Kultur des Wanderns eine weitere Reaktion gegen die Verödung durch den lndustrialismus."(1O) Die Forderung zu wandern, der Schrei der Kinderfreunde nach Licht, Luft und Sonne war eine ganz wichtige sozialhygienische und gesundheitspolitische Maßnahme für Arbeiterkinder, doch das war nicht der einzige Grund. Die Fahrten, das Gemeinschaftserlebnis, das Aufeinanderangewiesensein, aber auch die Aufregung, nachts nicht zu Hause, sondern im Zelt, der Jugendherberge oder einem Naturfreundehaus zu schlafen, ist in der Erinnerung ehemaliger Falken ein SchIüsselerlebnis. Daß Jungen und Mädchen nicht nur in den Gruppen zu Hause, sondern auch in den Zelten gemeinsam waren, gehörte zu den unabdingbaren Grundsätzen der Falkenpädagogik. Zu Fahrten brachte jeder von zu Hause mit, was dort entbehrt werden konnte. Unterwegs wurde dann aus Brühwürfeln, Wurst, Gemüse, Kartoffeln "Schlamm" gekocht, alles im großen Topf, und es schmeckte natürlich herrlich.

Die Bedeutung des Wanderns reichte jedoch darüber und über das Kennenlernen der Natur, das Fahrplan- und Kursbuchlesen hinaus. Das Motto war: "Wir wandern nicht zur Lust allein, wir wandern, um einst stark zu sein." Die Erlebnisse und Erfahrungen schlugen sich in Gruppentagebüchern, Berichten und Lichtbildervorträgen nieder. Die Wanderungen waren gleichzeitig Agitationsmittel. Fahnen und Wimpel wurden mit auf Fahrt genommen, an den blauen Kitteln oder Kleidern erkannte man die Falken sofort. In den Dörfern, auf dem Marktplatz wurde häufig Kontakt zu den Arbeiterorganisationen aufgenommen und entlang der Wanderwege neue Gruppen angeregt. Unterwegs wurden ganz bewußt auch Kampflieder, Lieder der Organisation gesungen oder Wahlagitation betrieben. "Soziales Wandern" wurde vielfach praktiziert; man besichtigte Fabriken und Handwerksbetriebe, es wurde hingewiesen und diskutiert über Erscheinungen der privat-kapitalistischen Gesellschaft, wenn man z.B. an einem "Privatwald" vorbeikam oder darüber, ob es denn wirklich der Bischof oder Ritter waren, die den Dom oder die Burg erbauten.
Ohne Musik waren die Gruppenstunden der Falken kaum denkbar. Sie begannen und endeten in der Regel mit einem Lied, wobei die Kinder sich zu einem Kreis zusammenstellten und sich an den Händen faßten. Es gab ein buntes Liederrepertoire für alle Gelegenheiten; von Tanz- und Spielliedern, über Volkslieder, Chansons zu Wanderliedern. Die Kampf-, Agitations- und Gesinnungslieder der Arbeiterbewegung wurden bei Gruppenfeiern, Demonstrationen und anderen besonderen Gelegenheiten gesungen. Die Kinderfreunde schufen sich jedoch auch ihre eigenen Lieder, die auf kindgemäße Weise sehr sinnlich das Befinden, die Hoffnung und Bedürfnisse der Falken ausdrückten.

Die Kinderrepubliken

Auf pädagogisches Neuland wagten sich die Kinderfreunde dann mit ihren "Roten Kinderrepubliken", die wesentlich zur Ausbreitung und Vereinheitlichung der Bewegung beitrugen. Das Experiment begann 1927 mit der "Kinderrepublik Seekamp" bei Kiel. Erstmals fuhren 2.300 Arbeiterkinder für 4 Wochen in ein Großzeltlager. Hier konnten sie ihre Republik mit eigenen Händen aufbauen - abgesehen von den Sanitäreinrichtungen, der Küche, Wasserleitungen und Lagerräumen - und verwalten. Da das Leben in der Zeltgemeinschaft nicht nur beachtliche gesundheitliche Erfolge für die Kinder brachte, sondern das Massenerlebnis, die Feste, Feiern, Demonstrationen starke emotionale Erlebnisse schufen und neue, starke Impulse für die Gruppenarbeit brachten, fanden bis 1933 insgesamt 35 Kinderrepubliken in Deutschland, der Schweiz, Österreich, Dänemark und Frankreich mit 35.000 Teilnehmern statt.

1927: Kinderrepublik Seekamp
1928: Kinderrepublik am Uedersee - in der Mark Brandenburg - in Franken - am Bodensee - in Braunschweig - in der Lüneburger Heide
1929: Kinderrepubliken im Allgäu - in Sachsen - Schlesien - Rhein I - Rhein II (Insel Namedy) - Dänemark
1930: Kinderrepubliken am Rhein I - Rhein II (Insel Namedy) - in der Schweiz I und II (Thuner See) - in der Lübecker Bucht - in Österreich (Kärnten) - ein Nestfalkenlager in Munster
1931: Kinderrepubliken im Harz - im Lahntal I und II - am Rhein (Insel Namedy) - in der Lübecker Bucht - ein Nestfalkenlager in Blankensee bei Lübeck
1932: Da kurz vor den Ferien von den zuständigen Behörden in Preußen die 75%ige Fahrpreisermäßigung für Erholungsfürsorge gestrichen wurde, konnten die Kinderrepubliken - mit Ausnahme der Kinderrepublik "Solidarität" in Draveil bei Paris nicht durchgeführt werden. Statt dessen fanden Bezirkslager oder nur kurze Fahrten und Wanderungen statt. (11)

Die Kinderrepubliken wurden und werden immer noch von Kritikern als "pädagogische Inseln" dargestellt, die Erziehung der Kinderfreunde als Erziehung zur bürgerlichen Demokratie. In der Tat gab es hier keine sozialen Kämpfe, der Klassenkampf war gewissermaßen aufgehoben. Ganz bewußt blieb auch der ökonomische Faktor ausgeschlossen, da während der 4 Wochen keine Eigenproduktion aufgenommen werden konnte und die Falken zudem auch nur über Dinge entscheiden sollten, bei denen sie tatsächlich Einfluß nehmen konnten.

Kurt Löwenstein schrieb:

"Unsere Falken singen: ,Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt', und die Kinderrepubliken sind gar nichts anderes als die praktische, kindlichem Können angepaßte Verwirklichung dieses Gedankens... Wir Kinderfreunde bringen unsere Falken mit dem Aufbau der Kinderrepubliken mitten in die Werkstatt staatsbürgerlichen Werdens. Für sie sind Zeltgemeinschaft, Zeltobmann, Gemeindevertretung, Bürgermeister, Lagerparlament, Sachverwalter und Präsident keine leeren Worte... Sie lernen daher nicht nur Staatsbürgerkunde, sondern sie werden Staatsbürger aus eigenem Erleben, aus eigenem Können, aus eigener Verantwortung heraus... Aber unsere Kinderrepubliken sind nicht nur ein Staat, sie sind zu gleicher Zeit ein sozialistischer Staat. ln unseren Kinderrepubliken gibt es keinen Unterschied zwischen arm und reich, es gibt keine Vorrechte und keine Ausbeutung." (12)

Die Kinderrepubliken waren ein ausgezeichnetes Schulungsinstrument. Die Isolation der Gruppen und ihrer Helfer wurde durchbrochen. Neue Gruppen brachten neue Anregungen. Im abendlichen Helferkreis wurden Kenntnisse, Erfahrungen und Hoffnungen ausgetauscht. Die Gemeinschaft erforderte von jedem ein hohes Maß an solidarischem Verhalten. Die Kinderrepubliken mit den Zelten, den Dörfern, den Bürgermeistern und dem Lagerparlament waren kein Abklatsch der bürgerlichen Weimarer Republik. Es sollte staatsbürgerliches Verhalten sowie neue Verkehrsformen gelernt und ausprobiert, es sollte Aufbauarbeit geleistet werden. Sie alle wurden zu mächtigen Demonstrationen in die Umgebung genutzt. Die "Roten Kinderrepubliken im schwarzen Land" riefen oft Stürme der Entrüstung hervor. Vor allem waren sie von Anfang an eine lebendige Internationale. Immer waren ausländische Kindergruppen in den deutschen Lagern zu Gast und deutsche Kinderrepubliken fanden im Ausland statt. Besonders die 1932 in Draveil bei Paris durchgeführte Kinderrepublik "Solidarität" war eine klare Absage an den Faschismus und ein Bekenntnis zum Internationalismus der Arbeiterklasse durch die Solidarität der Arbeiterkinder.

Die Entwicklung der Kinderfreundebewegung

1930 schrieb Kurt Löwenstein:

"Die Kinderfreundebewegung hat sich durchgesetzt. Das ist eine Tatsache, die niemand bestreitet, noch nicht einmal die Gegner. Es gibt in ganz Deutschland keinen Bezirk mehr, in dem nicht die Falkenbewegung lebt und wirkt und wächst. Wir erfassen nicht nur in ständiger Erziehungsarbeit mehr Kinder als irgend eine andere Bewegung für Kinder, sondern die Eigenart unserer Bewegung besteht darin, daß sie nicht nur eine Bewegung für Kinder ist, sondern eine Kinderbewegung mit wachsender Tendenz zur Eigenart und Eigengesetzlichkeit"(13)

1931 gab es 914 Ortsgruppen mit mindestens 120.000 Kindern, ca. 10.000 unbezahlten Helfern und 70.000 Eltern und fördernden Mitgliedern. Die Bewegung wuchs auch bis 1933 ständig:

Ortsgruppen
1923 54
1924 127
1925 208
1926 245
1927 343
1928 374
1929 555
1930 788
1931 914
1932 1100

Die Kritiker der Bewegung

Doch mit ihrer Ausbreitung stieg auch die Angst, Kritik und Polemik der Konservativen, Klerikalen und Nationalisten. Koedukation, Weltlichkeit, politische Erziehung, sozialistische Zielsetzung, Internationalismus und Pazifismus wurden aufs schärfste bekämpft. Das bürgerliche Weltbild geriet offensichtlich ins Wanken, wenn Jungen und Mädchen gemeinsam in Zelten schliefen, zusammen badeten und spielten und vor allem, wenn sie - noch so jung - bereits selbstbewußt, fordernd und zielstrebig im Kollektiv auftraten und eigene Interessen vertraten. Die Hetze fand nicht nur in Zeitungen statt, sondern es kam zu massiven Behinderungen und Einschüchterungen. In Bayern wurde, insbesondere auf Betreiben der Bischöfe und des Vatikans, den Eltern unter Androhung von Geldstrafe verboten, ihre Kinder an Veranstaltungen der Kinderfreunde teilnehmen zu lassen. Nach der Machtergreifung Hitlers stellten die Kinderfreunde ihre Arbeit ein. Widerstandsgruppen bildeten sich nicht, doch widerstanden haben die meisten den Verlockungen oder Drohungen des faschistischen Regimes. Einige Helfer trafen sich noch kurze Zeit mit den Kindern in Schrebergärten, im Schwimmbad, bei Familienfeiern. Doch die Falkenbewegung konnte nicht leisten, wozu die gesamte Arbeiterbewegung nicht in der Lage war. Allerdings haben Kinderfreundehelfer und ehemalige Falken in verschiedenen Widerstandsgruppen mitgearbeitet, wurden verfolgt, verhaftet, kamen ins KZ.

Beim Wiederaufbau der sozialistischen Kinder- und Jugendorganisation nach 1945 haben viele ehemalige Kinderfreunde ihre Erfahrungen und Arbeitsmethoden wieder eingebracht.


Literaturangaben

SPD Hamburg: Jahresbericht 1913/14, S.27
Brandecker, Ferdinand: unveröff. Manuskript, 4.1, S.19
Löwenstein, Kurt: Sozialismus und Erziehung. Neu hrsg. v. Brandecker/Feidel-Mertz. Berlin - Bonn, 1976, S.244 (zit. als: Löwenstein, 76)
Ebenda, S.112
Brandecker, a.a.O., S.10
Löwenstein 76, S.270
Uitz, Helmut: Die österreichischen Kinderfreunde und Roten Falken 1908-1938. Beiträge zur sozialistischen Erziehung. Wien - Salzburg, 1975, S. 589 f.
Ebenda
Löwenstein 76, S.424 f.
Ebenda, S.191
Reichsarbeitsgem. der Kinderfreunde Deutschlands (Hrsg.): Vorwärts trotz alledem. Arbeit und Aufstieg der deutschen Kinderfreunde-Bewegung, Berlin, 1933, S.21
Löwenstein 76, S. 230f
Ebenda, S.237
Vorwärts trotz alledem ..., S. 12

 

Editorische Anmerkungen:

Der Artikel stammt aus:  80 Jahre Arbeiterjugendbewegung in Deutschland 1904 - 1984, Jugendpflege - Sozialistische Erziehung - Politischer Kampf, Von Wolfgang Uellenberg und Günter Rütz, Unter Mitarbeit von Renate Wolter-Brandecker und Jürgen Thiel, DOKUMENTE Nr. 25 - Schriftenreihe der Sozialistischen Jugend Deutschlands - Die Falken , Herausgeber: Sozialistischen Jugend Deutschlands - Die Falken - Bundesvorstand
und ist eine Spiegelung von http://www.sjd-falken.de/h/hi00kf.htm