Facetten des militarisierten Sozialismus
von Harald Bluhm

7-8/02
 

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Nach dem Urteil vieler Historiker begann das kurze 20. Jahrhundert mit dem 1. Weltkrieg, dem definitiven Abschied vom 19. Jahrhundert, und es endete mit dem Untergang des staatssozialistischen Lagers infolge der 1989er Umbrüche. Es macht guten Sinn, diesem Ansatz zu folgen; vor allem dann, wenn man das Augenmerk auf den 1. Weltkrieg und dessen Konsequenzen lenkt. Für die Gründergeneration der Soziologie (Weber, Durkheim, Simmel u.a.) war dieser Krieg ein entscheidendes Faktum; er führte zu einem Wandel der Beziehungen zwischen den Nationalstaaten und hatte eine Reihe interner Umwälzungen zur Folge. In den meisten europäischen Staaten änderte sich die Sozialstruktur, und es kam, wie Max Weber besonders pointierte, zu einem enormen Bürokratisierungsschub. Dieser Prozeß wird häufig etwas verengt betrachtet, es handelt sich nämlich nicht nur um Bürokratisierung im allgemeinen. Mit der Kriegswirtschaft entstand vielmehr ein neues Phänomen. Im ersten totalen Krieg, d.h. einem Krieg, der nicht mehr nur von Staaten geführt wurde, sondern in den die ganze Gesellschaft eingespannt war, in dem eine Konzentration aller Ressourcen erfolgte, in dem auch die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten hinfällig wurde, kam eine neue Wirtschaftsform zum Vorschein.

Auf politischem Gebiet hatte der Erste Weltkrieg mittel- und langfristig bekanntlich enorme Auswirkungen. Im Westen wurde das Wahlrecht wesentlich ausgeweitet (jüngeres Wahlalter, Frauen-Wahlrecht), und es gab eine Reihe revolutionärer Umwälzungen, die ohne den Krieg kaum zu begreifen sind. Dazu gehören die russische Februar- und Oktoberrevolution wie die deutsche Novemberrevolution. Der Krieg leitete insgesamt ein neues Zeitalter des Militärs ein. Vom Ersten Weltkrieg an datiert in Europa nämlich ein nur selten von Demilitarisierungsprozessen unterbrochenes Wachstum des militärischen Bereichen sowie des Sektors von Überwachung und Kontrolle. Zur Zeit des alten Krieges nach 1945 gab es im Westen zwar teilweise erhebliche Demilitarisierungen, aber es entstand auch ein kaum legitimiertes Machtzentrum, das Eisenhower zu Recht als Militärisch-Industriellen Komplex bezeichnet hat. Dieser ist im Kalten Krieg oder - um einen anderen trefflichen Ausdruck zu nehmen - im "Atom-Zeitalter" dann ungeheuer gewachsen. Im Ostblock wurde das Muster des Staatssozialismus durch den atomaren Rüstungswettlauf befestigt. Erst mit der starken Friedensbewegung im Westen und Gorbatschows "Neuem Denken" setzte eine ernsthafte Abrüstung im Systemwettstreit ein, die nach den 1989er Umbrüchen in eine weitgehende Demilitarisierung der Ost-West-Beziehungen sowie Entmilitarisierungen in den Transformationsgesellschaften mündete.

Soziologen wie Anthony Giddens, Michael Mann und Martin Shaw haben den Einfluß des Militärs bzw. des miltärischen Sektors als einen basalen Trend der Moderne herausgearbeitet, der nicht auf eine Periode beschränkt ist. Giddens hält den Ausbau und das Wachstum des militärischen Bereichs und der von ihm ausgehenden Einflüsse auf die Gesellschaft für eine der grundsätzlichen institutionellen Achsen der Moderne. Jene Überlegungen aufzunehmen ist wesentlich, weil viele Moderne-Theorien dem Problem von Militär und Überwachung eine zu geringe Rolle einräumen. Bei Jürgen Habermas und Niklas Luhmann etwa wird dieser wichtige Bereich moderner Gesellschaften überhaupt nicht konzeptualisiert. Vor diesem Hintergrund habe ich nach länger gehegten Vorüberlegungen zur Nutzung der erwähnten angelsächsischen Konzepte für die Analyse des Staatssozialismus (Bluhm 1990; 1991), eine Reihe von Autoren gebeten, die Problematik des militarisierten Sozialismus zu diskutieren. Einleitend sollen einige Facetten und Perspektiven des Problems, aber auch Lücken und offen gebliebene Fragen umrissen werden.

Begriffliches

Im allgemeinen wird in der Soziologie die Herausbildung des modernen Staates mit der Genesis des staatlichen Gewaltmonopols verbunden. Die Pazifizierung nach innen ruht auf dem Gewaltmonopol und innenpolitischen Machtressourcen, wie Militär, Polizei u.a.m. Das Monopol der legitimen Gewalt basiert auf einer Unterscheidung von Innen- und Außenpolitik, zwischen einer nach außen gerichteten spezialisierten bürokratisch-militärischer Macht und der nach innen gerichteten Polizei bzw. Überwachungsinstitutionen. Mit dem Ausbau des Wohlfahrtsstaates und der Industrialisierung des Krieges durchläuft dieser Staat eine Reihe von Transformationen (vgl. Dandeker 1990: 66, 110f.).

Die Differenzierung zwischen außen- und innenpolitischen Institutionen hat nach Giddens prinzipielle Bedeutung. Er begreift die moderne Gesellschaft als einen durch vier Achsen strukturierten Machtcontainer: durch Kapitalismus und Marktwirtschaft, industrielle Aneignung und Veränderung von Natur, Überwachung von Informationen und soziale Kontrolle sowie militärische Macht, d.h. Verfügung über und Kontrolle von Gewaltmitteln im Kontext der Industrialisierung des Krieges (Giddens 1990: 59). Zu jeder dieser Achsen gehört eine ganzes Set von Institutionen und sozialen Regeln. Wenn Giddens mit großem Realismus die Achsen von Militär und Überwachung entwickelt, denkt er dabei nicht an den Staatssozialismus, sondern er konstatiert und beschreibt - im Gegensatz zu optimistischen Deutungen, die stark auf die Zivilisierungsprozesse abheben - einen grundsätzlichen Trend der Moderne. Die Differenzierung der genannten institutionellen Achsen und ihr Ausmaß im Westen sind für die Bildung eines Maßstabes, an dem die Entwicklung im Osten beurteilt werden kann, unerläßlich. Allerdings zeichnet den Staatssozialismus, eine funktional nicht hinreichend differenzierte Gesellschaft, gerade die Verschmelzung von politischer, militärischer und von Supervisionsmacht aus. Auch Michael Mann, ein angelsächsischer Macht-Soziologe, unterscheidet generell vier Dimensionen von Macht: ökonomische, politische, ideologische und militärische. Macht in bestimmten Staaten ist für ihn generell ein Geflecht dieser verschiedenen Ressourcen, wobei die Spezifik eines solchen Machtgeflechts an jeder der vier verschiedenen Ressourcen ansetzen kann.

Mann und Giddens formten damit einen Horizont, der weit genug ist, um Fragen des militarisierten Sozialismus sachlich und analytisch zu diskutieren. Denn anders als in gängigen Totalitarismus-Konzepten läßt sich der Staatssozialismus/Kommunismus so zu den Pathologien der Moderne in eine substantielle Beziehung stellen. Zugleich kann die Einbeziehung grundsätzlicher struktureller Veränderungen manche Einseitigkeit und Fixierung auf politische Sachverhalte, die Konzepte des Weltbürgerkrieges an sich haben, vermeiden. Der Vorzug ist eine breite Thematisierung von Herrschaft und Diszplinierung, einschließlich ihrer jeweiligen Spezifik. Faßt man nämlich das Problem Moderne und Militär bzw. die Achsen von Militär und Überwachung so generell wie Giddens, dann bekommt die Frage, inwieweit der Staatssozialismus eine moderne Gesellschaft war, eine neue Dimension. In dieser Perspektive erweist er sich sowohl als spezifische Antwort auf Gefährdungen und Pathologien der Moderne und zugleich als Übersteigerung pathologischer Seiten der Moderne. Der Staatssozialismus ist ein Gegenprojekt innerhalb der Moderne, d.h. er ist eine Reaktion auf die Moderne, die vormoderne und moderne Elemente miteinander verbindet.

Das Verhältnis von zivilem und militärischem Bereich hat verschiedene Seiten, zu denen Ausdifferenzierungen und Wechselwirkungen gehören. Vorentscheidend bei der Deutung ist allerdings schon, wie man militärische Institutionen überhaupt denkt. Im Prinzip lassen sich dazu drei Varianten unterscheiden.1 Sie können erstens im Gegensatz zu zivilen Institutionen als ein Sonderfall gedacht werden. Dann gilt es nicht nur, den Einfluß des Militärs einzuschränken, da er für den zivilen Sektor, der anderen Logiken folgt, schädlich ist, sondern auch eine Zivilisierung ist nur in eingeschränktem Maße möglich. Man kann zweitens eine geringe institutionelle Differenz zwischen beiden Sektoren annehmen, dann ist in der Regel die Zivilisierung des Militärs die entscheidende Perspektive. Drittens läßt sich eine beidseitige Annäherung von militärischen und zivilen Institutionen denken, die zur Konvergenz führt.

Je nach der Variante, mit der man arbeitet, verändert sich die Perspektivierung der Beziehungen von militärischem und zivilen Bereich. Will man das Problem der Militarisierung denken, so kommt der dritte Ansatz nicht infrage, vielmehr bietet sich analytisch der erste Ansatz an. Geht es um eine kritische Sicht der Militarisierung, so ist die zweite Variante wichtig, da sie auf die Zivilisierungsmöglichkeiten abhebt. In beiden Fällen geht es um die Analyse von Auswirkungen institutioneller Differenz. Auf dem Hintergrund der militärsoziologischen Überlegung rücken bei der Problematik des funktional zu wenig differenzierten Staatssozialismus die Verschmelzungen zwischen der Achse von Militär und Überwachung sowie deren massive Einflüsse auf die anderen gesellschaftlichen Bereiche - Politik, Ökonomie und ziviles Leben - ins Zentrum. Oder, in der Terminologie von Mann, es interessieren dann Dominanzen von Machtressourcen und Überlagerungen von Machtgeflechten.

Begrifflich sollten beim Problem militarisierter Sozialismus einige Differenzierungen vorgenommen werden. Zunächst ist zwischen Militarismus und Militarisierung zu unterscheiden. Militarismus als Begriff bezeichnet kein stringentes Konzept (Berghahn 1986). Er war lange Zeit v.a. auf die preußische Form bezogen, d.h. auf den überragenden Einfluß des Militärs in einem Staat und den davon ausgehenden kulturellen Prägungen. Carl Zuckmayrs Hauptmann von Köpenick ist eine wundervolle Illustration der Konsequenzen dieser Art von Militarismus. Die Anerkennung und Wertschätzung des Militärs und obrigkeitsstaatlicher Strukturen ist so weit gediehen, daß die äußeren Insignien des Militärs fraglos akzeptiert werden. Unter dem Stichwort Militarismus sind, über die sozialen und kulturellen Auswirkungen des Militärs auf den Staat und das zivile Leben hinaus, später auch strukturelle Probleme erörtert worden, aber damit verblaßte der Begriff zunehmend. Mann hat interessante Formunterscheidungen zur Operationalisierung vorgenommen. Er faßt Militarismus als Haltungen und Praxen, die Kriege und ihre Vorbereitung als normale und auch wünschenswerte Aktivität ansehen (Mann 1992: 166). Die Spezifikation erfolgt auf zwei Wegen: Zum einen werden historische Typen des Krieges unterschieden - begrenzter Krieg, enthegter Krieg, d.h. totaler Krieg, in den alle Bürger einbezogen werden, und schließlich das Nuklearzeitalter. Zum anderen werden Formen des weniger offensichtlichen, gegenwärtigen Militarismus differenziert - ein auf breite Nutzung der Wissenschaften gestützter Abschreckungsmilitarismus, der militarisierte Sozialismus und der "Zuschauer-Sport" Militarismus, d.h. jene im Westen und Osten verbreitete beobachtend-duldende Haltung des gigantischen Wettrüstens zwischen Kapitalismus und Staatssozialismus.

Durchaus abgesetzt vom Begriff des Militarismus ist der Begriff Militarisierung zu verstehen. Das legt auch die terminologische Fassung bei Mann nahe. Militarisierung von Gesellschaft heißt zunächst zweierlei Zum einen wird damit der auf dem enormen Wachstum von Militär und Rüstung beruhende Einfluß, den dieser Sektor auf die Gesellschaft ausübt, bezeichnet. Das ist ein von "oben", d.h. vom Staat und vom Militär ausgehender Prozeß. Darüber hinaus gibt es noch einen anderen Pfad von Militarisierung, nämlich zivile Militarisierung, die von der Gesellschaft, d.h. von "unten" ausgeht. Ein Beispiel dafür wäre, daß militante gesellschaftliche Organisationen an Einfluß gewinnen und die politische Kultur bestimmen. Das können fundamentalistische Bewegungen oder auch paramilitärische politische Kampforganisationen sein, man denke z.B. an die RAF.

Zu beachten sind in diesem Kontext fürderhin Effekte, die aus der Demobilisierung von Armeen entstehen. Sie lassen sich oft nicht einfach dem militärischen oder zivilen Sektor zuordnen. Ich meine etwa eine Kontinuierung von quasimilitärischen Organisationen und Verbänden, die nach der Demobilisierung im gesellschaftlichen Bereich agieren, z.B. Freikorps oder die in Rußland wieder aktiven Kosaken. Militarisierung von Gesellschaft kann demnach von oben, vom Staat gefördert werden oder eben auch von unten. Schließlich können sich beide Bewegungen wechselseitig verstärken. Allerdings gibt es in einmal etablierten kommunistischen Regimen im strengen Sinne keine zivilen Militarisierungsprozesse, denn die Machtressourcen sind alle monopolisiert.

Für die Militarisierung des Staatssozialismus ist genetisch wichtig, daß ihn anfangs beide Tendenzen von Militarisierung kennzeichnen. Ursprünge des sowjetischen Modells liegen zweifellos im Konzept der Avantgardepartei von Lenin, und es gibt eine Reihe tiefreichender Auswirkungen, die aus der militärischen Organisation der sowjetischen Streitkräfte erwachsen sind. Der große Einfluß des riesigen Sektors von Militär, Überwachungsorganen und Rüstung auf den Rest der Gesellschaft kennzeichnet alle staatssozialistischen Länder, aber in der Sowjetunion hatte er das größte Ausmaß. Frank Ettrich betrachtet in seinem Beitrag die staatssozialistischen Gesellschaften als einen Typus und verweist am charakteristischen Beispiel der Sowjetunion darauf, daß sich dort spätestens seit 1930 eine substantielle, die Gesellschaft durchdringende Militarisierung durchsetzte.

Man kann - diese Position wird im Beitrag von Zeidler vertreten - noch eine dritte begriffliche Dimension von Militarisierung ausmachen, die als kulturelle bezeichnet werden könnte. Die kulturalistische Wende in den Sozialwissenschaften hat auch die Militärwissenchaften erreicht. So führte unlängst der Kriegshistoriker John Keegan den preußischen Militarismus zu einem erheblichen Teil auf kulturelle Faktoren zurück. In dieser Richtung liegen auch mentalitätsgeschichtliche Ansätze. Ob und inwieweit man mit einem solchen Herangehen die Auswirkungen des militarisierten Sozialismus begreifen kann, wird auch in den Texten von Manfred Sapper und Alexej Levinson thematisiert.

Für die verschiedenen angesprochenen Prozesse gilt: Der Begriff Militarisierung impliziert im Falle des Staatssozialismus nicht, daß ein an sich anders geartetes System - gleichsam gegen den originären Entwurf - bloß aus äußeren Gründen militarisiert wird. D.h. aber umgekehrt auch nicht, daß die kriegerischen Auseinandersetzungen für das sowjetische Gesellschaftsmodell ohne tiefgreifenden Einfluß geblieben wären. Vergleichende Untersuchungen staatssozialistischer Länder, die den Einfluß des Militärs in ihnen ebenso wie Stufen von Militarisierung bzw. deren Abschwächung thematisieren, werden wohl noch länger Desiderate sein. Gerade deshalb sind Vergewisserungen über den theoretischen Rahmen und Konturierungen von Facetten des Problems wichtig.

Ideengeschichtliche Ursprünge & politische Sprache

Die Frage nach den Ursachen und Quellen der Militarisierung des Staatsozialismus hat realgeschichtliche Dimensionen, die Gesellschaftsstrukturen sowie innere und äußere Umstände betreffen. Sie hat aber auch ideengeschichtliche Dimensionen. Dazu gehört die Frage, inwieweit in die Ausprägungen der sozialistischen Idee im 19. Jahrhundert Momente eingeschrieben sind, die eine Wandlung zu starken militärischen Ordnungsvorstellungen nahelegen. Für die besonders wirksam gewordene Marxsche Konzeption gilt: Sie ist zum einen scharfe Kritik an Etatismus, Bürokratismus und militaristischen gesellschaftlichen Tendenzen (man denke nur an den Bonapartismus und die Kritik des gleichmacherischen Kasernenkommunismus). Zum anderen enthält sie jedoch starke Vorstellungen der Diktatur des Proletariats und gibt weder Wege noch Prinzip-Lösungen für die erwartete kommunistische Gesellschaft an, die diese gegen Zentralismus und Bürokratismus sichern. Ob eine straffe, auf Disziplin und Gehorsam setzende Organisationen der Proletarier den Weg zur Freiheit eröffnen kann, wird - wie die pauschale Abwehr der anarchistischen Einwände zeigt - nicht einmal zum Problem. Insofern gibt es starke Verbindungslinien zwischen der Marxschen Theorie und dem späteren Staatssozialismus.

Gleichwohl ist eine andere ideengeschichtliche Dimension für die Militarisierungsproblematik viel wichtiger; sie betrifft den Wandel der sozialistischen Idee und der Organisationsvorstellungen Anfang des 20. Jahrhunderts. Mit der Ausbildung des Kommunismus insbesondere Leninscher Prägung vollzog sich nämlich eine markante Veränderung. Vielfach wird die Militarisierung auf das Konzept der Leninschen Avantgardepartei zurückgeführt. Das ist zu einem Teil auch richtig, denn wir haben es hier mit einer rigiden, hierarchisch gegliederten Kampforganisation vor allem von Berufsrevolutionären zu tun. Allein diese Vorstellung und die bei Lenin allenthalben zwischen zivilen und militärischen Kategorien wechselnde Sprache des Klassenkampfes, in der etwa von den Parteisoldaten und dem Marsch der Bataillone des Proletariats die Rede ist, reicht nicht aus, um die Organisationsvorstellungen zu begreifen. Gewiß, Lenin stellt auf Organisation und Disziplin ab und erkennt sie als zentrale Ressourcen des "proletarischen" Klassenkampfes. Er hat wie einige andere politische Denker einen Konfliktbegriff von Politik. Die Partei ist aber nicht das allgemeine Muster, nach dem die neue Gesellschaft gedacht wird, und - angenommen, es gäbe solch ein Muster, dann müßte erschlossen werden, ob es Ursprünge späterer Militarisierung enthält.

Oft wird die Metapher der deutschen Post herangezogen, die als Organisationsvorstellung diene, aber auch das ist historisch zu ungenau. Im Falle der Post zitiert und nutzt Lenin die Idee eines deutschen Sozialdemokraten, die aus den 1870er Jahren stammt (Lenin 1977: 439f.). Das eigentliche Muster für den Aufbau der neuen Gesellschaft ist die deutsche Kriegswirtschaft. Lenin sah in ihr mehr noch als in den wirtschaftlichen Monopolen eine unmittelbare Vorstufe des Sozialismus, allerdings als Bestandteil eines falschen Systems. Der aus der Wehrpflicht herauswachsende Arbeitsdienst, die Arbeitspflicht für alle, ökonomische und politische Zentralisierungsprozesse überhaupt und die zentrale Verwaltung wichtiger Ressourcen sind für ihn entscheidende Veränderungen, die im Kontext des Krieges entstanden. Dabei betont Lenin häufig, daß es darauf ankäme, die als reaktionäre Mittel entwickelten Instrumente mit anderer Zielstellung revolutionär zu nutzen (vgl. etwa Lenin 1977: 355ff., 365ff.; Lenin 1975a: 413).

Der Hinweis auf die deutsche Kriegswirtschaft als Modell erhellt, daß die kommunistischen Organisationsvorstellungen per se militärische Züge haben. Allerdings erklärt dieser Zusammenhang nicht die Militarisierung selbst, sondern nur einen ideellen und geschichtlichen Bezugspunkt. Es sei zugleich noch einmal daran erinnert, daß Weber der Kriegswirtschaft große Bedeutung beimaß und in ihr den Durchbruch der Bürokratisierung erkannte. In den Kriegsheften des Archivs für Sozialpolitik und Soziologie von 1914/15 kann man ablesen, welch starken Einfluß solche Veränderungen hatten. Der Sozialist Otto Neurath, der schon früher ein Konzept der Kriegswirtschaft entwickelt hatte, aber auch Edgar Jaffe deuten diese Form als eine neue Wirtschaftsform - eine Form, für die dann auch der Begriff des organisierten Kapitalismus geprägt wurde. Shaw faßt den Einfluß pointiert zusammen: "Total war transformed industrial capitalism and socialism alike." (1991: 21) Ideengeschichtlich sind die Ursprünge des Begriffs Zentralverwaltungswirtschaft seit längerem in diesem Kontext situiert worden (vgl. z.B. Raupach 1966).

Man erkennt die Spezifik, die rasche Aufnahme kriegswirtschaftlicher Methoden und ihr Fortwirken in den kommunistischen Organisationsmustern erst richtig, wenn man den Hintergrund eruiert, der die Rezeption ermöglichte. Ausschlaggebend für diese ist - und dafür gibt es in Lenins Schriften viele Belege - eine ausgeprägte Maschinen-Metaphorik, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Varianten verbreitet war. Nicht nur die kritisierte bürgerliche Gesellschaft und ihr Staat werden nach diesem Muster buchstabiert und in eine Reihe von Instrumenten, Kräfteparallelogrammen und mechanischen Basis-Überbau-Beziehungen zerlegt. Auch die neue Gesellschaft wird am Beispiel der NÖP, einem sozialistisch kontrollierten Staatskapitalismus, bloß vermittels einer Institutionenmechnik beschrieben. Man denke in diesem Zusammenhang nur an die Bestimmung der Gewerkschaften als "Transmissionsriemen", die den Einfluß der Massen auf Partei und Staat geltend machen (Lenin 1975b: 4f.). Hier ist der Verweis auf die Post, wie ähnliche Beispiele, in denen es heißt, die neue Gesellschaft solle wie eine Fabrik oder ein großes Büro organisiert werden, am richtigen Ort (vgl. Lenin 1977: 488).

Eine solche durchgehende Hintergrundmetaphorik erlaubt nicht nur eine rasche Rezeption von kriegswirtschaftlichen Organsationsmodellen und hierarchischen Stab-Linie-Organigrammen, sondern sie trägt auch die Institutionenmechnik und die Perspektive auf den Menschen. Mit letzterem meine ich nicht nur die Parteisoldaten, sondern das, was in den deutschen Übersetzungen treffend mit Menschenmaterial wiedergegeben wird. Masse und Klasse kommen so nur als zu organisierende in den Blick. In dieser kolossalen Einseitigkeit, die für Spontaneität, Freiheit und Kreativität so gut wie keinen Raum läßt, liegt auch die Quelle für Lenins Einfluß als Politiker. Er denkt stets in Kategorien der Eroberung und Bewahrung von Macht, organisiert, agitiert und handelt entschlossen .

Erst ein Bruch mit dieser Hintergrundmetaphorik und der entsprechenden politischen Sprache gestattet es überhaupt, Sozialismus und Freiheit zusammen zu denken. Dafür gab es in den verschiedenen sozialistischen Strömungen durchaus Ansätze, und der westliche Marxismus vollzog diesen Bruch - man denke an die Debatte zwischen Karl Kautsky und Lew Trotzki - in der Auseinandersetzung mit dem sowjetischen Kommunismus. In der Sowjetunion wurde offiziell die Tradition des mechanisch-machtpolitischen Denkens erst mit Gorbatschows "Neuem Denken" durchbrochen; damit war der definitive Anfang vom Ende des militarisierten Sozialismus gesetzt, der allerdings nicht reformfähig war.

Es handelt sich bei der aufgewiesenen ideengeschichtlichen Grundlage des militarisierten Sozialismus nicht nur um ein Problem von Sprache und Hintergrundvorstellungen, es gibt auch einen bestimmten Erfahrungsraum, ohne den die Ausbreitung dieser Vorstellungen schier unerklärlich wäre. Ulrich Bröckling hat jüngst in einer eindrucksvollen Studie gezeigt, daß militärische Disziplin doppelt kodiert ist; sie verbindet zwei gegensätzliche Momente, nämlich Hierarchie, inklusive Unterordnung, und - wenn auch segmentiert - Seiten eines egalitären Männerbundes (Bröckling 1997: 10). Man kann, wenn man einmal über die Verwandtschaft von miltärischem Jargon und der Rhetorik des Klassenkampfes gestolpert ist, von hier aus die kommunistische politische Sprache als eine enträtseln, die ähnlich divergierende Momente miteinander verbindet. Die marxistisch-leninistische Ideologie ist ebenfalls doppelt kodiert, sie ist voll von Solidaritäts- und Gleichheitsversprechen und von der Anerkennung strikter Disziplin und hierarchischer Organisationsstrukuren. Den historischen Ausgangspunkt für die dem Militär analoge Kodierung bildet die Erfahrung in der Fabrik, nämlich strikte Unterordnung; dagegen wird die proletarische Organisation mit egalitären, männerbündlerischen Zügen entwickelt. Organisation und Disziplin sind die tragenden Ressourcen im Kampf mit den Arbeitsgebern, dem Kapital. Die Organisation der Proletarier, die sich im Gegensatz zur kapitalistischen Fabrik befindet, reproduziert den Gegensatz; sie erzeugt neben anderem starke Muster einer hierarchisch gegliederten Kampforganisation. Es ist genau diese Dopplung, an der Lenin zumindest für die frühe kommunistische Gesellschaft festhält: Unterordnung in Produktion und Staat wird von Gleichheitsrhetorik und egalitären Praxen flankiert. Die Unterordnung unter strikte Hierarchien wird als Weg zu ihrer Aufhebung ausgegeben. Waren Gleichheit wie Solidarität zunächst Gegenbilder zur kapitalistischen Wirtschaft, so bildet die Erfahrung, sich in ökonomischen und politischen Auseinandersetzungen nur durchsetzen zu können, wenn man sich organisiert, den Hintergrund für hierarchische Organisationsentwicklungen, deren Werte zur Zweitkodierung führten, welche die Parallelen zwischen einer Sprache des Klassenkampfes und der des Militärs trägt.

Wenn man aus ideengeschichtlicher Sicht die Organisationsvorstellungen und ihre Hintergründe zusammenfassend betrachtet, ist also eine Zwangsläufigkeit zu konstatieren, die in kommunistischen Gesellschaften zur Militarisierung führt. Verlauf, Form und Ausmaß der Militarisierung hängen jedoch stark von den spezifischen historischen Bedingungen ab. Sie sind insofern zu einem erheblichen Teil kontingent.

Auch in der DDR gehörte die Klassenkampfrhetorik mit ihrem militärischen Vokabular und den entsprechenden Konnotationen zu den kulturellen Prägungen des militarisierten Sozialismus. Die Verarmung der Sprache und die Berichterstattung von allen "Fronten" des Klassenkampfes, vom äußeren und inneren Feind bis zur Schlacht in der Ernte und der Produktion, sind bedrückende Erfahrungen, die manch einem erst nach dem Untergang der DDR richtig aufgingen. Bei Studenten und jungen Akademikern war Viktor Klemperers LTI (Lingua Tertii Imperii) besonders beliebt, und zwar wegen der vielen Parallelen zwischen der Sprache im Dritten Reich und dem ideologischen DDR-Jargon. Beide Sprachen bewegen sich im dualen Gegensatz von Freund und Feind und orientieren sich am Ausnahmezustand.2 Eine Prolongierung derartiger Sprachregelungen über Zeiten besonderer Anstrengungen hinaus führte zur Inflationierung und Entwertung. Zugleich zeigt die große Aufmerksamkeit, die die SED darauf verwandte, daß die symbolische Macht, die Macht der "richtigen" Benennung der Dinge, nicht angetastet wird, zweierlei an. Zum einen ein Bewußtsein darüber, daß die eigene Macht durchaus prekär war und Sprachregelungen stets prinzipielle Bedeutung hatten. Zum anderen ist sie beredtes Zeugnis dafür, daß die ständige Darstellung der Verhältnisse und Situationen in Kategorien angespannten Kampfes nicht nur die Basis für riesige ideologische Apparate war, sondern auch ihrer Legitimation diente.

Historisches

Die offizielle Geschichte der DDR wurde bis in die 60er Jahre nach einem der Kirchengeschichte entliehenen Plot erzählt und inszeniert. Den Anfang bildet die ecclesia invisibilis, d.h. die illegale Partei und der antifaschistische Widerstandskampf; mit der Gründung der SED und spätestens mit der DDR-Gründung wurde die sichtbare Kirche errichtet. Die frühen 60er Jahre, die Zeit nach dem Mauerbau und dem trotzigen Selbstbewußtsein stehen für die ecclesia triumphans. Bester Ausdruck dafür ist die Inszenierung des Staatszeremoniells an der Neuen Wache Unter den Linden. Hier demonstrierte der Staat, der sich als Erbe des besten und aller humanistischen Traditionen der deutschen Geschichte gerierte, seine neue Macht. Offiziell im Bruch mit Preußen und der reaktionären deutschen Geschichte, wird die eigene Macht ostentativ mit allen militärischen Insignien ausgestellt.

Im Rahmen dieses ideologischen Plots wird in der Zeit des Kalten Krieges und der sich manifestierenden Blockspaltung nicht nur eine Reihe militärischer Institutionen aufgebaut, es wird auch eine spezifische Remilitarisierung vollzogen, die die Artikel von Manfred Zeidler und Olaf Briese behandeln. Die für Militarisierungsprozesse wichtige Zeit zwischen dem Juni 1953 und 1956, dem Jahr gewaltsamer Beendigungen von Entstalinisierungsprozessen, wird Armin Mitter in einer Nachlese thematisieren. In diesem Zeitraum formt sich die Gesellschaftsstruktur mit ihren vielfältigen militärischen und paramilitärischen Institutionen und Organisationen (NVA, Grenztruppen, Staatssicherheit, Kampfgruppen der Arbeiterklasse, Ministerium des Innern mit Polizei und Sondereinheiten) aus, ein Prozeß, der mit dem Mauerbau und der kompletten militärischen Sicherung der Westgrenze abgeschlossen wird. Nun ist die Struktur des militarisierten Sozialismus der DDR kristallisiert. Im vorliegenden Heft blieb kein Raum, auch die 70er und die frühen 80er Jahre einzubeziehen - deshalb will ich im folgenden einige Trends skizzieren, die eine genauere Darstellung verdienten.

Die DDR der 70er und Anfang der 80er ist bis auf wenige Ereignisse wie die Ausbürgerung Wolfgang Biermanns eine stille Zeit. Es gibt an diese Zeit von Stillstand und langsamem Verfall, wie Lutz Niethammer betont, wenig Erinnerungen (Niethammer 1994: 109). Dennoch vollzieht sich in dieser Zeit ein gravierender Wandel. Nach der Ölkrise von 1974-76 beginnt nicht nur der definitive ökonomische Kollaps, es gibt auch auf gesellschaftsstrukturellem Gebiet markante Verschiebungen. So setzt nach der Unterzeichnung der Schlußakte von Helsinki ein höchst zwiespältiger Vorgang ein. Zum einen kommt es zu einer erzwungenen vorsichtigen Öffnung des Landes, die den Bürgern durchaus etwas mehr Spielraum gewährt. Zum anderen wird diese Öffnung durch einen gigantischen Ausbau des Sicherheitsapparates nach innen, etwa eine Verdopplung der hauptamtlichen MfS-Mitarbeiter (von etwa 52.700 in 1973 zu 75.100 in 1980 und geschätzen 100.000 in 1989; vgl. Vollnhals 1994: 501) und ein dauerndes Wachstum der Schar der inoffiziellen Mitarbeiter begleitet (vgl. Jens Gieseke in diesem Heft). Einen Höhepunkt der in die Gesellschaft reichenden Militarisierung stellt schon 1978 die Einführung des Wehrkundeunterrichtes dar. Wenig später kommt es im Zuge der Realisierung des NATO Doppelbeschlusses (1979) in Ostdeutschland zu einem weiteren Ausbau des militärischen Apparates. Die gesteigerte Bedrohungsperzeption, die durch wirtschaftliche Schwierigkeiten gewiß verstärkt wurde, liegt der forcierten Ausweitung von Überwachungsorganisationen und -institutionen zugrunde. Bei diesem Ausbau des Militärs stehen, so behaupte ich, die gewünschten Effekte in keinem Verhältnis zum quantitativen Aufwand. Strukturell betrachtet kommt es in dieser Zeit zu einer weitgehenden Durchdringung von nach innen gerichteten Überwachungsinstitutionen und Militär, die stark durch die Staatssicherheit realisiert wird. Auch die anderen Bereiche der Gesellschaft, einschließlich der Wirtschaft, werden mit paramilitärischen und militärischen Kontrollstrukturen überzogen. Die Multiplikation von Kontrollstrukturen - in der Wirtschaft gehören dazu die Partei, staatliche Institutionen und die konspirative Überwachung durch die Staatssicherheit - zeigt eine Potenzierung des Mißtrauens an, die sich auch auf die eigenen Kontrollinstitutionen erstreckt. Der auf diese Weise entwickelte Überbau erdrückt und lähmt die Basis und gesellschaftliche Dynamik. Generell wurde durch die Ausweitung der Kontroll- und Überwachungsstrukturen eine Situation verfestigt, in der Opposition gegen Militarisierungstendenzen faktisch nur außerhalb offizieller Strukturen und unter dem Dach der Kirche möglich war.

Indes ist in dieser Zeit dennoch auch ein Eindringen neuer und ambivalenter Elemente, und zwar selbst in die militärischen Strukturen, zu beobachten, die wenigstens angedeutet werden sollen. Zu Recht wird die Arbeits- und Sozialverfassung der DDR als eine Mischform von Kommando- und Aushandlungsstrukturen beschrieben. Besonders die Arbeiterschaft verfügte über eine enorme passive Stärke, an der eine Menge von Reglementierungen förmlich abprallte. Spätestens in den 70er Jahren wurde auf der Grundlage eines chronischen Arbeitskräftemangels ein erhebliches Maß an Eigeninteressen gewahrt, und in einem gesellschaftlichen Kernbereich kristallisierten sich eine Art Aushandlungsstrukturen aus, in denen die Leitungen darauf angewiesen waren, sich erheblich mit den je Untergebenen und deren Eigeninteressen ins Benehmen zu setzen. Wolfgang Engler hat solche Befunde generalisiert und spricht von einer Aushandlungsgesellschaft DDR (Engler 1997). Er betont zugleich, daß errungene Spielräume nur unter Akzeptanz offizieller Regeln gewahrt werden konnten und daß damit solche Spielräume auf eigene Weise systemstabilisierend wirkten. Die folgenden Beispiele belegen exemplarisch, daß selbst in einem Bereich wie dem Militär seit Mitte der 70er Jahre auf spezifische Weise solche Aushandlungsstrukturen entstanden bzw. in ihn einsickerten.

Nachdem das Erdöl knapp geworden und die ökonomischen Probleme gestiegen waren, kam es zu erheblichen Kürzungen von Ressourcen und Kontingentierungen für die NVA. Damit wurde der Fetisch der permanent hohen Gefechtsbereitschaft, bei dem das Personal zu gut 90% verfügbar sein mußte, unterminiert und zur ideologischen Phrase. Alle größeren Übungen wurden dem ökonomischen Kalkül unterworfen. Auf diese Weise entfielen nicht nur Druck- und Disziplinierungsmittel für die Soldaten und Unteroffziere. Mehr noch, viele Längerdienende und Offiziere, die sich mit ihrem "Klassenauftrag" identifizierten, zweifelten daran, ob unter den Bedingungen von permanentem Mangel eine "ordentliche" Armee erhalten bleiben kann. Das Einsickern der Normalität der Mangelwirtschaft in den lange davon freigehaltenen militärischen Sektor nahm diesem nicht nur Teile seiner herausgehobenen Stellung, sondern brachte lange Abstimmungsprozeduren und den normalen DDR-Schlendrian ebenso mit sich wie die Etablierung von passiver Stärke.

Die ökonomischen Probleme der DDR führten dazu, daß große Teile der Armee gerade im Winter mit Einsätzen in der Volkswirtschaft (man denke an die Braunkohle-Tagebaue) beschäftigt waren. Diese nützlichen Einsätze unterminierten allerdings die militärischen Unterstellungsverhältnisse. An die Stelle der bei der NVA generell privilegierten Befehlstaktik rückte zumindest zeitweilig die Auftragstaktik, die Gruppen und den einzelnen mehr Raum läßt. Nach der Rückkehr in die Kaserne kam es dann regelmäßig zu Schwierigkeiten. Die Unterstellten mochten den Sinn strikter Unterordnung, an den sie vor dem Einsatz im zivilen Bereich zwangsweise gewöhnt wurden, nicht gleich wieder einsehen. Weil neue Einsätze absehbar waren, mußten die Vorgesetzen sich arrangieren. Mehr noch, im Laufe der Zeit versuchte mancher Offizier die Qualifikationen Untergebener zu privaten Zwecken zu nutzen; am gefragtesten waren Soldaten mit handwerklicher Qualifikation, die Wohnungen renovierten, Datschen ausbauten u.a.m.

Die NVA hatte, was ihr Offizierskorps anging, erhebliche Rekrutierungsprobleme. Bekanntlich führten sie dazu, daß männliche Studienbewerber sich zu drei Jahren Dienst in der NVA verpflichten sollten. Dieser vielfach erzwungene Wehrbeitrag konnte einem trotz etwas schlechterer Noten als weibliche Abiturientinnen dann einen Platz in begehrten Fächern wie z.B. Medizin sichern. Wer so als Offizier auf Zeit rekrutiert wurde, tendierte sowieso zum Aushandeln von Situationen. Hatte man erst einmal unterschrieben, kam man zwar aus dieser Verpflichtung kaum heraus, aber der künftige Studienplatz konnte auch nicht ohne weiteres als Druckmittel eingesetzt werden. Die Sozialdiszplinierung durch die Armee hatte überhaupt zwiespältige Effekte. In ihr konnte die Problematik der Gesellschaft in nackter Gestalt erfahren werden, nämlich der Ausschluß von Eigeninitiative und rigorose Freiheitseinschränkungen bis hin zur schwer realisierbaren Gewissensfreiheit. Wer diese Schule durchlaufen hat, der war jedoch auf zweierlei trainiert, nämlich auf Anpassung und Unterlaufen formaler Strukturen, um wenigstens geringfügige individuelle Handlungsspielräume zu sichern. Derart sozialisierte Jugendliche und Männer verfügten über geschlechtsspezifische Erfahrungen und Handlungsrepertoires, die eine genauere Untersuchung wert wären.

Zeigen die Beispiele, daß selbst in Kernstrukturen der Macht wie dem Militär Aushandlungsstrukturen einsickerten und das strikt hierarchische Organigramm ausgehöhlt wurde, so reagierte man auf diese Unterminierungen vielfach mit erhöhter interner Kontrolle. Aber die quantitative Steigerung erbrachte generell kaum erhöhte Effektivität und Effizienz. Es kommt zu dem strukturellen Paradoxon, daß der immer weitere quantitative Ausbau des Bereichs von Militär und überwachenden Kontrollinstitutionen immer weniger die intendierten Effekte hat. Die übertriebene und dauerhafte Militarisierung blockiert sich somit auch selbst, aber sie bleibt ein gefährlicher Faktor in einer von ökonomischem und politischem Verfall gekennzeichneten Gesellschaft. Im gleichen Kontext beschreibt Heribert Seubert in diesem Heft den ambivalenten Prozeß einer partiellen Entmilitarisierung des sicherheitspolitischen Denkens, der den extensiven Ausbau von Militär und Sicherheitsstrukturen begleitet.

Post-Military Society

Die DDR war, gemessen an ihrer Größe, geradezu ein bis zum Rand mit Militär und paramilitärischen Organisationen und Institutionen vollgestopftes Land. Um dies zu erkennen, muß man nur einmal die Streitkräfte (NVA, Grenztruppen, Sowjetarmee), die riesigen von ihnen okkupierten Flächen (man denke nur an den durchgehenden, mindestens einen halben Kilometer breiten Grenzstreifen zum Westen) sowie alle anderen Organisationen zusammenzählen. Zu den breit geteilten großen Hoffnungen um 1989 gehörten deshalb Vorstellungen weitgehender Entmilitarisierung im Rahmen der DDR sowie beider Kontrahenten des Systemwettstreites überhaupt. Nun kann gar nicht in Abrede gestellt werden, daß erhebliche Abrüstungs- und Demilitarisierungsprozesse in Gang gesetzt wurden. Doch die einstigen Hoffnungen wurden bei weitem nicht erfüllt. Wie es bei der Auflösung der NVA zu erheblichen Abstrichen kam, kann man dem Beitrag von Hans-Joachim Gießmann entnehmen. In genereller Hinsicht hat ein Buch diese Situation auf eindrucksvolle Weise dokumentiert: Martin Shaws Post-Military Society (1990). Er knüpft nicht nur an damalige Hoffnungen an, sondern analysiert die Punkte, an denen sie rasch zerschellten. Dazu gehören der russisch-tschetschenische Krieg und die andauernden militärischen Konflikte in Ex-Jugoslawien. Wie auch immer man diese Konflikte bewertet, sie zeigen, daß von der einst geträumten weitgehenden Demilitarisierung viel weniger übrig bleibt als erwartet. Das gilt auch für den Westen, der nicht nur mit dem Balkan-Konflikt zu tun hatte und hat, sondern zudem im Golfkrieg die militärische Intervention auf neue Weise zu einem Mittel der Politik machte. Nach diesen Erfahrungen ist der Schluß zu ziehen, daß das Militär auch künftig zu den essentiellen Machtressourcen der Nationalstaaten gehört, mit denen gerechnet werden muß. Die Hegung und Begrenzung dieser Machtmittel ist das Problem. Eine Abschaffung geht von einem normativen Menschenbild aus, dessen Prämissen Wolfgang Sofsky jüngst in zivilisationskritischer Perspektive grundsätzlich in Frage gestellt hat.

Nach Shaw lassen sich die post-militärischen Gesellschaften durch zwei Gesichter charakterisieren: Zum einen sind die militärischen Bereiche mit ihren Anhäufungen von Destruktionsmitteln und -technologien sowie der dazu gehörenden sozialen Fähigkeiten kleiner geworden. Absolut sind sie immer noch zu groß. Als generelle, im Moment erst stärker im Westen sichtbare, Tendenz zeigt sich, daß die enormen Kosten in der Rüstung dazu führen, die Rüstungsunternehmen zunehmend vom Nationalstaat etwas abzukoppeln. Auch die lange dominierende Form der Armee, die auf der Wehrpflicht beruht, wird weltweit mehr und mehr in Richtung Berufsarmee verändert. Das sind durchaus historische Wandlungen, die die Substanz der Beziehung zwischen dem Nationalstaat und seinen militärischen Machtmitteln berühren. Zum anderen kennzeichnet die post-militärischen Transformationsgesellschaften ein großer und wachsender Raum nicht-militarisierten Lebens. Beide strukturellen Veränderungen bedeuten jedoch nicht, daß die einst militarisierten Gesellschaften innerlich friedlich sind. Für Rußland z.B. sind die Domestizierung der in den zivilen Bereich diffundierten Gewaltpotentiale und auch bestimmte kulturelle Traditionen, wie Manfred Sapper und Aleksej Levinson zeigen, ein erhebliches Problem.

Kommt man nach dem Blick auf unterschiedliche Facetten des militarisierten Sozialismus auf das generelle Problem der institutionellen Beziehungen zwischen dem militärischen und dem zivilen Bereich zurück, so erscheinen Perspektiven, die eine Divergenz und nur partielle Annäherung von Institutionen beider Sektoren annehmen, besonders plausibel. Der militarisierte Sozialismus hat ja gerade erwiesen, daß eine weitgehende Penetration gesellschaftlicher Strukturen mit militärischen Ordnungsmustern, bei Verschmelzung von nach außen und nach innen gerichteten staatlichen Machtmitteln, auf Dauer autodestruktiv ist. Umgekehrt hat die westliche Entwicklung gezeigt, daß die Zivilisierung des militärischen Bereiches an strukturelle und machtpolitische Grenzen stößt. Die Stärke dieser Position rührt daher, daß man mit ihr das Einsickern militärischer Formen und Strukturen in die Gesellschaft, wie sie nach dem 1. Weltkrieg als dem ersten totalen Krieg einsetzte, denken kann, und auch den Prozeß allmählicher Zivilisierung von militärischen Organisationsmodellen. Angesichts des Faktums, daß Kriege und militärische Interventionen als Mittel der Politik auch weiterhin bestehen, wird in diesem komplexen Sinne das Militär eine eigenständige Achse moderner Gesellschaft auch in Zeiten der Globalisierung und einer möglichen "Weltinnenpolitik" bleiben. Denn auch wenn die Nationalstaaten an Bedeutung verlieren, bleibt auf ihrer Ebene und auf der Ebene regionaler Bündnisse die Differenzierung von nach innen und nach außen gerichteten Sicherheitsinstitutionen und Politiken bestehen. Das vorliegende Heft zum militarisierten Sozialismus versteht sich insofern nicht nur als ein Anstoß für weiter zu führende Debatten um diese spezifische Gesellschaftsform, sondern auch als Anstoß, dem oft unterbelichteten Problemkreis von Militär und Gesellschaft in der Moderne mehr Aufmerksamkeit zu widmen.

Anmerkungen

1 Ich folge hier einem Vorschlag des Schweizer Militärsoziologen Karl W. Haltinger vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 10. 12.1996.

2 Dieter Koop wird in einem der nächsten Hefte diese Idee entwickeln.

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Editorische Anmerkungen:

Der Text ist eine Spiegelung von
http://www.berlinerdebatte.de/initial/heft6-97/facetten.htm