Wie sich Deutschland mit den Beneš-Dekreten eine “historische Frage” zur Erpressung eines künftigen EU-Partners offen hält

7-8/02
 

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Die Analyse des GegenStandpunkt-Verlags in Radio Lora vom 24. Juni 2002

“Fast ein halbes Jahrhundert bereits trägt die Europäische Union zur endgültigen Beilegung früherer Konflikte sowie zur Festigung von Frieden, Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und Wohlstand in ganz Europa bei. ... Der Erweiterungsprozess macht Europa für seine Bürger sicherer und trägt zur Konfliktvermeidung … bei. … Es werden keine neuen Trennlinien in Europa gezogen. Jeder neue Mitgliedstaat bringt sein politisches, wirtschaftliches, kulturelles, historisches und geographisches Erbe in die EU ein und bereichert damit Europa insgesamt.”                         (Strategiepapier der Europäischen Kommission, 2001)

Die Tschechische Republik will der EU beitreten. Lassen die EU-Mitglieder Deutschland und Österreich nun die “früheren Konflikte” mit diesem Staat und seinem Vorgänger auf sich beruhen? Ganz im Gegenteil! Gerade den Erweiterungsprozess haben sie als Gelegenheit entdeckt, ihren Revanchismus gegen den Nachfolgestaat der Tschechoslowakei (ČSR) wieder aufzuwärmen. Die Tschechische Republik soll als eine Rechtsnachfolgerin der ČSR anerkennen, dass die Beneš-Dekrete, auf deren Grundlage nach dem 2. Weltkrieg alle Bürger deutscher Nationalität entschädigungslos enteignet und ausgewiesen wurden, soweit sie nicht ihre Treue zur ČSR nachweisen konnten, der europäischen Rechtsordnung widersprächen. Umgekehrt bestehen die Repräsentanten aller tschechischen Parteien darauf, dass diese Dekrete beim Beitritt von allen EU-Staaten als rechtmäßig anerkannt werden. Immerhin geht es um nichts weniger als den territorialen Bestand ihres Staates.

Deutschlands Außenminister Fischer nutzt die Infragestellung der Beneš-Dekrete durch Politiker wie Jörg Haider zu einer Klarstellung:

“Wir haben bezogen auf die Gültigkeit der Beneš-Dekrete unterschiedliche Auffassungen. Ich hoffe, dass dies eines Tages überwunden werden kann ... Ich wäre froh, wenn wir die Debatte wirklich als eine historische Debatte eines Tages den Historikern überlassen könnten, …wenn wir ein Verhältnis zwischen unseren Staaten und Menschen hätten, wo das eine historische Frage ist.”

So redet wohl gemerkt nicht irgendein Beobachter der Zeitgeschichte, sondern der Repräsentant Deutschlands, der die deutsch-tschechischen Beziehungen gestaltet. Als ob die Verwandlung von zwischenstaatlichen Konflikten in bloße historische Fakten, die man in Geschichtsbüchern nachlesen kann, sonst aber niemanden mehr interessieren, nicht dadurch bewerkstelligt würde, dass die beteiligten Staaten irgendwann einmal auf ihre Ansprüche endgültig verzichten! Deutschland will eben an seiner “unterschiedlichen Rechtsauffassung” festhalten, weil es sie in den bilateralen Beziehungen in seinem Interesse benutzen will. Fischer konfrontiert Prag mit dem deutschen Generalvorbehalt, indem er gerade die “besonders guten Beziehungen” unterstreicht, deren Beschädigung sich Tschechien ja wohl keinesfalls mehr leisten kann:

“Für uns ist es sehr, sehr wichtig, dass die exzellenten deutsch-tschechischen Beziehungen fortentwickelt werden ... Das ist unter Freunden so – und vor allen Dingen mit solch einer tragischen Geschichte -, dass man unterschiedliche Auffassungen haben kann und dennoch sehr gut zusammenarbeitet ... Wenn wir uns dieser gemeinsamen Verantwortung für die Zukunft bewusst sind, werden wir die anstehenden Fragen partnerschaftlich lösen ... Die historischen Fragen werden wir im bilateralen Verhältnis weiter zu diskutieren haben.”

Er will sie also weiterhin als “Argument” in den Beziehungen zu einem künftigen EU-Partner benutzen. Das ist dann wohl der Gehalt der besonderen Freundschaft, die Fischer den Tschechen anträgt:

·         Das Recht, die guten Beziehungen enorm zu strapazieren, indem man Tschechien “anstehende Fragen” vorlegt und deren “partnerschaftliche Lösung” verlangt,

·         das Recht auf ein besonders “bilaterales Verhältnis” in Europa, auf Sonderbeziehungen nämlich, in denen Deutschland seinen Nachbarn auf eine spezielle Botmäßigkeit gegenüber seinen Ansprüchen verpflichtet.

Anstelle des verblichenen Protektorats Böhmen und Mähren soll die Tschechische Republik eine deutsche Domäne in Europa sein, in die der Bundeskanzler hineinregiert und das auch noch institutionalisiert – so ungefähr sieht der deutsche Bedarf nach tschechischer Vergangenheitsbewältigung aus. Nebenbei erfährt man damit auch noch, dass deutsche Interessen in der Fertigstellung Europas nicht aufgehen, sondern noch in anderer Art festgehalten werden, um einen speziell deutschen Besitzstand in Mitteleuropa zu begründen.

Mit dieser Position setzt die rot-grüne Regierung fort, was ihre schwarz-gelbe Vorgängerregierung in der deutsch-tschechischen Erklärung von 1997 der gewendeten Tschechischen Republik abverlangt hat. Damals haben es Kohl und Kinkel geschafft, die tschechische Regierung auf die Übernahme eines deutschen Standpunkts, nämlich die Zurückweisung einer deutschen “Kollektivschuld”, und auf die Umkehrung der Schuldfrage zu verpflichten, allerdings nur in der Form, dass sie etwas “bedauert”.

“Sie bedauert insbesondere die Exzesse, die im Widerspruch zu elementaren humanitären Grundsätzen und auch den damals geltenden rechtlichen Normen gestanden haben, und bedauert darüber hinaus, dass es aufgrund des Gesetzes Nr. 115 vom 8. Mai 1946 ermöglicht wurde, diese Exzesse als nicht widerrechtlich anzusehen, und dass infolgedessen diese Taten nicht bestraft wurden.”

Das Wiederaufwärmen der Beneš-Dekrete diente dazu, den tschechischen Vertragspartner zur Anerkennung einer auf seiner Seite vorliegenden Schuld zu bewegen. Er soll zugeben, dass sein Staat damals Unrecht an Deutschen begangen hat und damit anerkennen, dass er dem heutigen Deutschland etwas schuldig ist. Dass gar nicht feststeht, was und wie viel sudetendeutsche Forderungen Deutschland da dann hineinpackt, wenn es erst einmal das Geständnis in der Hand hat, macht die Sache so pikant. Zwar hat Tschechien mit dem Eingeständnis einer Schuld in allgemeiner Form noch überhaupt keine der möglichen politischen und materiellen Konsequenzen anerkannt, die Deutschland daraus ableiten mag. Aber so ein generelles Schuldanerkenntnis hat, gerade weil mit ihm nichts ausgeschlossen, sondern der Gegenseite alles eröffnet wird, den Charakter einer Auslieferung an deren Willen. Auch wenn man, was die präzise Fassung der tschechischen Schuld angeht, nicht die deutsche “Rechtsauffassung” durchsetzen kann, so steht die immerhin schon einmal in dieser Form im Vertrag, nämlich als Auffassung, die man sich durchzusetzen vorbehält. Denn bei der Behandlung dieser Frage auf einer bloß polit-moralischen, allgemeinen Ebene will es Deutschland nicht bewenden lassen, sondern die tschechische Schuld schon soweit konkretisieren, dass sie auf einer zwischenstaatlichen Ebene justitiabel wird. Woran man dabei so denkt, das ist den Auskünften des damaligen Außenministers Kinkel zu entnehmen: “Die deutsche Seite hat sich nicht verpflichtet, Eigentumsfragen nicht aufzuwerfen.” Eine beachtliche Leistung der deutschen Diplomatie: Um die tschechische Republik zur Anerkennung einer Schuld zu bewegen, hat man zuerst die Schuldfrage von speziellen Forderungen nach Wiedergutmachung getrennt, und kaum hat die tschechische Seite anerkannt, dass sie Deutschland etwas schuldig ist, stellt man die Verknüpfung wieder her. Die Form, in der das geschieht, besteht darin, dass man die nächste Frage für offen erklärt.

Die Verknüpfung mit der Eigentumsfrage würde dem Schuld-Eingeständnis, das man der tschechischen Regierung schon abgerungen hat, eine ungeheure materielle Wucht verleihen – und die deutsche Seite will sich nicht darauf festlegen lassen, diese Verknüpfung nicht irgendwann herzustellen. Da wird dann doch langsam klar, welches Spektrum von Optionen sich Deutschland eröffnet hat. Der Kern dieser “Frage” ist eine Drohung mit für Tschechien unabsehbaren Folgen, allerdings eine, die man nicht ausspricht, sondern in der Hinterhand hat und bei Bedarf aktualisieren kann. Unabhängig davon, ob der vorliegt, und auch unabhängig davon, ob Deutschland aktuell oder überhaupt darauf hinauswill, dass die tschechische Seite irgendwelchen Eigentumsforderungen irgendwelcher Sudetendeutschen nachkommt, besteht Deutschland mit seiner Politik des Offenhaltens Tschechien gegenüber darauf, dass es die Frage jederzeit eskalieren kann. Ihr Witz liegt darin, dass es im Ermessen der deutschen Seite liegt, ob und bis zu welchem Punkt es sie als Waffe gegen Tschechien ausreizt; dass es das vom Wohlverhalten Tschechiens ihm gegenüber abhängig machen kann; dass es sie das nächste Mal also auch wieder bis auf die Ebene gemeinsamer Bekenntnisse zu einem vergangenen Unrecht herunterkochen kann. Deutschland arbeitet da an einem Instrument seiner Politik, mit dem es Tschechien – neben seiner ökonomischen und euro-imperialistischen Aneignung – noch einmal ganz speziell auf sich verpflichten und sich gefügig machen will; und zwar in allen Belangen, die sich so unter dem Titel “gute Beziehungen” zusammenfassen. Die Schärfung dieses Instruments betreibt es, indem es umgekehrt diese Beziehungen, den erreichten Stand der Abhängigkeiten, als Hebel einsetzt, um der tschechischen Seite Zugeständnisse in der “offenen Frage” abzunötigen. Die Verständigung über diese Waffe, den Umgang mit ihr, ist der Inhalt der in Sachen ‚Sudetendeutsche‘ betriebenen deutsch-tschechischen Politik. Und wie weit man mit der gemeinschaftlich vorankommt, darin spiegelt sich der gute oder schlechte ‚Stand der Beziehungen‘.

Von wegen also: Europa macht all den Feindseligkeiten und Gehässigkeiten, die die vorhergehenden Jahrhunderte auf dem Kontinent so ungemütlich gemacht haben, endlich ein Ende.

Stoiber legte soeben bei der Landsmannschaft der Ostpreußen nach: Auch der Beitrittskandidat Polen soll eingestehen, dass seine Vertreibungsdekrete gegen die europäische Rechtsordnung verstießen …

Editorische Anmerkung:

Der Text wurde uns vom
GegenStandpunkt-Verlag zur Verbreitung am 30.6.2002 überlassen.

Lesetipp:

Diese Analyse ist Teil des Artikels “Vom Zusammenwachsen in Europa: A. Das ungarische Statusgesetz: Wie man aus Bürgern fremder Staaten nationale Größe macht. – B. Der Streit um die Beneš-Dekrete: I. Wie man mit einer historischen Frage die staatsrechtlichen Grundlagen eines ansonsten angesehenen Beitrittskandidaten in Zweifel zieht. – II. Der Streit hat sich zur europäischen Affäre ausgewachsen”.
In: GegenStandpunkt 2‑02. Erhältlich im Buchhandel oder beim GegenStandpunkt-Verlag.