Alles verändert sich,
warum nicht der Imperialismus?

von
Herbert Steeg

7-8/02
 

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So unbeliebt wie bei den meisten Schülern die Mathematik, so unbeliebt ist bei vielen Marxisten die Ökonomie,  von der mensch aber die wichtigsten  Grundfolgerungen zu wissen glaubt. So werden die Krisen für die Jahreszeiten des Kapitalismus gehalten, der Imperialismus mit modernem Kolonialreich gleichgesetzt und Globalisierung mit Internationalisierung. Das wäre nicht sonderlich schlimm - oft denken so Genoss/inn/en die handfest im Klassenkampf stecken - würde es nicht die Diskussion hemmen und die Richtungsfindung der Partei beeinflussen.

Weiter machen einige offene theoretische Probleme die Diskussion schwierig. So argumentiert die geniale Studie Lenins "Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus" rein empirisch. Eine treffende Untersuchung des Imperialismus mit dem Marx`schen Instrument der Wertanalyse ist mir (außer dem frühen Versuch Rosa Luxemburgs "Die Akkumulation des Kapitals") nicht bekannt.

 Folgende Problembereiche mit unterschiedlichen Einschätzungen sehe ich:

1.     Ist der Kapitalismus in eine neue, dritte Phase der Entwicklung eingetreten?

2.     Wenn ja, wodurch ist diese Phase charakterisiert?

3.     Richtet sich die grundsätzliche Aggressivität des Imperialismus heute gegen die "3. Welt", oder ist perspektivisch mit einem Weltkrieg der Zentren gegeneinander zu rechnen?

4.     Welche Klassenveränderungen sind in den Zentren und in der 3. Welt zu erwarten?

 In einigen der Diskussionsbeiträge in der UZ tauchen zudem Mißverständnisse auf, so bezüglich "Weltstaat" und "Ultraimperialismus".

 Zu 1.  Ja, der Kapitalismus ist in eine neue, dritte Phase getreten. Wer daran zweifelt sollte bedenken: Als Lenin den Imperialismus beschrieb, galten Unternehmen als Trusts, deren Größe heute als "Mittelständler" bezeichnet würden. Inzwischen haben die Konzerne einen Umfang der mittlere Industriestaaten übersteigt. Das gewachsene Quantität gesetzmäßig in neue Qualität umschlägt, dürfte zum marxistischen Grundwissen gehören. Nicht das der Kapitalismus in eine neue Phase eingetreten ist, ist überraschend. Nein, überraschend und ein theoretisches Problem wäre es, hätte er seine Struktur wie zu Lenins Zeiten behalten.

 Zu 2. Viele (u.a. auch Hans Heinz H.) meinen bei der Globalisierung handele es sich nur um eine weitere Zentralisation und Konzentration des Kapitals. Aber darum geht es bei dieser Phase des Kapitalismus nicht ausschließlich (und damit auch um nichts was in Richtung "Ultraimperialismus" geht). Denn parallel zur "Fusionswelle" geht eine Ausgliederungs- und Zerteilungsbewegung. Alte Namen verschwinden und neue Konzerne entstehen plötzlich. Und keineswegs nur "unprofitable Werke", nein sogar marktbeherrschende Unternehmen mit bester Finanzsituation (wie z.B. Messer-Griesheim) werden verkauft. Wer das nicht als Umstrukturierungsphase begreift, kann an der Logik kirre werden.

Hans Heinz H. sieht den Ursprung der Globalisierung in der "Überakkumulation des Kapitals". "Die Profite übersteigen den Investitionsbedarf für einen gesättigten (und durch die Verelendung der Ausgebeuteten tendenziell schrumpfenden) Markt bei weitem." Nun sollte mensch berücksichtigen, daß es eine zweite Variante gibt, die die Börsentendenzen und Entwicklungen der letzten Jahre genausogut, ja, vielleicht sogar besser erklärt. Könnte es nicht sein, daß es sich um eine neue Periode grundlegender Reproduktion handelt? Das fundamental neue technische Möglichkeiten die Umstrukturierung der Produktionsmittel über die normale, erweiterte Reproduktion hinaus nötig machen? Dann wäre das Problem nicht das übersteigerte Kapitalangebot, nein, es würde dem Kapitalismus daran gebrechen, daß der augenblickliche Kapitalbedarf zu groß ist und gleichzeitig der zu erwartende Profit unsicher.

Die "Überakkumulationstheorie" führt logisch zur "Casino-Kapitalismus"-These. Aber wer würde vor einem "Casino" Schlange stehen, in dem es perspektivisch nicht viel zu gewinnen gibt? Und weshalb sollte eine ausgefuchste Werbebranche mit allen Tricks weltweit versuchen den letzten Malocher dazu zu bewegen, seinen Sparstrumpf zur Börse zu tragen, wenn das gesellschaftliche Problem darin besteht, daß es zuviel Kapital gibt?

Handelt es sich heute um eine Phase grundlegender Reproduktion, so ergeben sich daraus völlig andere Folgerungen, als wenn es um  eine chronische Überakkumulation geht. Die Überakkumulationsthese geht davon aus, daß der Imperialismus des letzten Jahrhunderts sich inzwischen in eine krisenhafte Sackgassensituation entwickelt hat und damit weitere Instabilitäten, Zuspitzungen und Zusammenbrüche bevorstehen. Die Kurz`sche Krisis-Gruppe, die eine ähnliche Theorie vertritt, prophezeit deshalb seit Jahren folgerichtig einen bevorstehenden Zusammenbruch des Kapitalismus. Geht mensch aber von einer Phase der grundlegenden Reproduktion aus, so ist diese nur logisch, wenn der Kapitalismus in eine neue, dritte Stufe der Entwicklung eingetreten ist. Dann jedoch ist nach den Turbulenzen der Umgestaltung mit einer zunächst eher ruhigeren und stabileren Periode zu rechnen.

Unübersichtlich wird eine jede Einschätzung dadurch, daß das Geld sich weiterentwickelt hat, vom Goldgeld in der ersten Phase des Kapitalismus zum Kreditgeld in der Zweiten und inzwischen dem beliebig verschiebaren Rechengeld heute. In der ersten Phase des Kapitalismus gab es sowas wie ein Weltgeld, das an den Goldwert gefesselt war. Die verschiedenen Währungen unterschieden sich wirklich nur durch ihre Bezeichnung, so wie es etwa auch für die Länge oder das Gewicht verschiedene Bezeichnungen (Maße) gab und gibt, die aber stets einfach umzurechnen sind. Die Währungen schwankten nur unwesentlich zum Wert (wie Eugen Varga zeigt, waren die Abweischungen vor 1914 minimal). Das wurde anders in der Epoche des Imperialismus, wo die Ausbeutung der 3. Welt auf den verschiedenen Produktivitäten der Nationalökonomien fußt. Der Wert der einzelnen Währungen begann nun sich vom Gold abzukoppeln und deutlich untereinander zu differieren. Zugleich wurde der Kapitalexport immer wesentlicher. Das Papiergeld als Staatskredit entwickelte sich, und durch den Verlust der "Golddeckung" erhielt der Begriff "Wechselkurs" erst seine jetzige Bedeutung. Die heutige, 3. Phase des Kapitalismus charakterisiert folgendes: Das Geld ist nun dabei sogar seine Form als Geldzeichen zu verlieren, es existiert vorwiegend "bargeldlos", als Recheneinheit zwischen Konto und Konto. Es wurde zum Rechengeld. Noch vor wenigen Jahrzehnten wurde der Lohn bar, als "Lohntüte", ausgezahlt und hätte jemand in der 70ern erzählt, daß bald viele Arbeitende Kreditkarten besitzen und damit von ihrem Konto bezahlen, er wäre mitleidig belächelt worden. Dieses Rechengeld verbunden mit der modernen EDV schafft die früher undenkbare Möglichkeit Kapital und Kredit in jeder Menge blitzschnell an jeden Ort dieses Planeten zu mobilisieren, vorausgesetzt es verspricht Gewinn. Und der moderne Kapitalist ist nicht mehr darauf angewiesen zu warten, bis sich sein Mehrwert durch den Verkauf der Waren realisiert hat. Er kann selbst kleinste eingehende Summen wieder in den Wertschöpfungsprozeß zurückfließen lassen. Eine Folge ist die Zunahme des Umsatzes der Börsen. Es gibt scheinbar mehr Geld. Es war die EDV die sowohl das Rechengeld, als auch die globale Produktion möglich gemacht hat. War früher tatsächlich der Preis, den eine Ware erzielen konnte, noch die zuverlässigste Information über ihre Rolle im gesellschaftlichen Produktionsprozeß, so hat die EDV das Verhältnis umgekehrt. Durch die EDV und das Internet wäre heute eine weltweite Produktion einfacher und effektiver ohne das Geld zu bewerkstelligen, wenn, ja wenn es das Privateigentum an den Produktionsmitteln nicht gäbe.

Aus einem weiteren Grund ist mir die "Überakkumulations-These", wie auch alle anderen Theorien,die in den wuchernden Finanzen den Hort des Bösen sehen, suspekt. Es ist die böse Nachbarschaft zum schaffenden und raffenden Kapital, der wir den marxistischen Blick auf die Produktionsbedingungen entgegenstellen sollten.  "Nicht was gemacht wird, sondern wie, mit welchen Arbeitsmitteln gemacht wird, unterscheidet die ökonomischen Epochen. Die Arbeitsmittel sind nicht nur Gradmesser der Entwicklung der menschlichen Arbeitskraft, sondern auch Anzeiger der gesellschaftlichen Verhältnisse, worin gearbeitet wird." (K. Marx, Kapital I, MEW 23, S. 195) Es war die Dampfmaschine, die die Frühzeit des Kapitalismus revolutioniert hat. Dann veränderte das Fließband die Arbeitsverhältnisse in der Anfangszeit des Imperialismus grundlegend und so prägend wie der Computer die heutige Arbeitsweise. Dadurch ist es möglich geworden, den Arbeitsprozeß neuartig zu zerstückeln und den Produktionvorgang für eine Ware auf verschiedene Orte des Globus zu verteilen. Gab es früher den ordinären Handel zwischen Zentrum und Peripherie, wobei in den Zentren die Rohstoffe in moderne Produkte verwandelt wurden, wurde nun aus diesem Handel immer mehr eine Produktionskette. In diesem gobalen Produktionsprozeß werden heute etwa 1/3 aller Warenströme konzernintern abgewickelt. Damit wird die Rolle des Konzern-"Mutterstaates" entwertet. Mit den neuen Techniken zur räumlichen Zerteilung des Produktionsprozesses ist auch das Ende der Riesenwerke in Sicht, in denen Armeen von Arbeitenden tätig sind. Heute stimmt nicht mehr, was Lenin für die imperialistische Phase richtig erklärte: "der auffallend rasche Prozeß der Konzentration der Produktion in immer größeren Betrieben ist eine der charakteristischen Besonderheiten des Kapitalismus".

Das Elend vieler Genoss/inn/en ist ihr gedankliches kleben am Nationalstaat. In der Frühzeit des Imperialismus bedurften die damaligen Konzerne ihres "Mutterstaates" um zu wachsen und sich in der konkurrierenden Welt durchzusetzen.  Sie konkurrierten und bekämpften sich international, vermittelt über den Staat. Nun wo die Konzerne ihren Kinderschuhen entwachsen sind und selbst die Größe von Staaten haben, benötigen sie diese Vermittlerfunktion immer weniger, und selbst der SPIEGEL weiß inzwischen "dass die Bedeutung nationaler Regierungen gegenüber den globalen Unternehmen immer geringer wird" (3/2002). Nicht umsonst sollten im MAI-Abkommen transnationale Konzerne mit Staaten gleichgesetzt werden.

Der Imperialismus entwickelt die Staaten, die ihm einst "Wagenburg" waren, von einem Schutz, von dem manchmal auch Konzern-Arbeiter/innen etwas hatten, zu Ketten: Keine Hochzollpolitik wie ehedem, Waren dürfen international frei zirkulieren, die Grenzen sollen Menschen aufhalten vor allem, wenn sie aus der 3. Welt kommen. Der Staat ist den Konzernen immer mehr reines Unterdrückungsinstument, nach innen und nach außen. Er wird zum "schlanken Staat".

 Zu 3. Die Formel vom "kollektiven Imperialismus" (den ich lieber "übernationaler Imperialismus" nennen würde) enthält in keiner Weise eine Tendenz zu einem imperialistischen "Weltstaat". Gäbe es einen "Weltstaat", gäbe es keinen Imperialismus, denn der fußt ja auf dem ungleichen Tausch zwischen den verschiedenen nationalen Produktivkraftniveaus. Keine Nationalstaaten, kein ungleicher Tausch. 

Imperialismus ist auch keine Beschreibung für den Staat XY oder eine bestimmte Politikrichtung. Genau darüber stritt zu Beginn des letzten Jahrhunderts Lenin mit Kautsky, letzterer meinte, Imperialismus wäre die "bevorzugte Politik" des Finanzkapitals. Nein: Imperialismus ist eine politisch-ökonomische Phase des Kapitalismus. Der Versuch die Entwicklung des Imperialismus aus der Betrachtung der Tagespolitik herzuleiten ist daher im Kern sozialdemokratisch.  (W.I. Lenin: "Denn der Beweis für den wahren sozialen oder, richtiger gesagt, den wahren Klassencharkter eines Krieges ist selbstverständlich nicht in der diplomatischen Geschichte des Krieges zu suchen, sondern in der Analyse der objektiven Lage der herrschenden Klassen in allen kriegführenden Staaten.") Das Beispiel von Patrik K. läßt zudem die Möglichkeit zu völlig entgegengesetzten Schlußfolgerungen. Glaubt mensch an einen bevorstehenden Weltkrieg der Zentren, wäre es sinnvoll, sich deren Militärplanungen und Rüstungsvorhaben anzusehen. Und da deutet nichts in diese Richtung. Die Bundeswehr z.B. wird gerade umstrukturiert zu einer gegen die 3. Welt einsetzbaren Truppe.

Beschrieb Lenin noch die Schwerindustrie als den Kern des Imperialismus, die "sich alle übrigen Zweige der Industrie tributpflichtig macht", so ist deren einstige, beherrschende Macht lange verwelkt. Wer nicht die Stahlwerkruinen des Ruhrgebiets besichtigen will, sollte sich mal das "Who is who" der Superreichen ansehen. Heute kommen  gerade mal 18% der deutschen Milliardäre aus dem einstigen Kernbereichen. Außerdem, was ist die Röchling-Familie mit 1,4 Mrd. Euro gegen die Albrecht-Brüder (Aldi) mit 10 Mrd. Euro? Die einst so stolze Schwerindustrie ist nun ungeliebte Nr. X in der kollektiven Hand des Finanzkapitals. Nichts ist hier mehr wie zu Lenins Zeiten. Wem das nicht reicht: Auch Stalin hielt noch 1952 einen Krieg zwischen den großen kapitalistischen Staaten - trotz deren gemeinsamer Frontstellung gegen den Sozialismus - für "unvermeidlich" und hat sich damit herrlich blamiert. Wollen wir das wiederholen?

 Zu 4.  In den Zentren entwickelt sich immer stärker ein neuer "2. Arbeitsmarkt", der in Konkurrenz zur "alten Arbeiterklasse" in den Großbetrieben steht. In Österreich arbeitet bereits ein Drittel der Beschäftigten im ungeschützten, prekären Bereich. Die "3. Welt" schwappt in die "Erste".

Und in der "3. Welt" verfaulen die bisherigen Mittelschichten und schaffen damit den Humus für faschismusähnliche Bewegungen. Der "islamische Fundamentalismus" ist da möglicherweise erst der Vorbote.

 (Alle Lenin-Zitate aus "Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus")

Editorische Anmerkungen:

Der Artikel ist eine Spiegelung von
http://home.t-online.de/home/02151547928/glob.htm
der Website der DKP Niederrhein.
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