Vom Sinn und Missbrauch internationaler Strafgerichtsbarkeit

Von Norman Paech

7-8/02
 

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Der neue Internationale Strafgerichtshof in Den Haag nimmt heute seine Arbeit auf. Anlass genug für einen historischen Rückblick und eine juristische Einordnung, wie Sieger bisher über Besiegte zu Gericht saßen und wie sich eine universelle Verantwortlichkeit für Verbrechen im Krieg entwickelte. Der Hamburger Völkerrechtler Norman Paech beleuchtet die Facetten der "Siegerjustiz" und nennt die Bedingungen, unter denen der Strafgerichtshof das "Vermächtnis der Nürnberger Prozesse" antreten kann. Wir dokumentieren Paechs Beitrag gekürzt. Die Langfassung ist erschienen in der April-Ausgabe der "Blätter für deutsche und internationale Politik", Blätter-Verlagsgesellschaft Bonn.

Der gegenwärtige Prozess gegen den ehemaligen jugoslawischen Staatspräsidenten Milosevic vor dem Tribunal in Den Haag ist ein dringender Anlass, sich grundsätzliche Gedanken über die Wege oder Abwege zu machen, die die internationale Gerichtsbarkeit derzeit einschlägt. Denn es handelt
sich um ein noch junges Projekt der Kriegsjustiz vor dem Hintergrund einer Geschichte der Globalisierung militärischer Auseinandersetzungen, die nicht erst mit dem Ersten Weltkrieg 1914 beginnt. Sieger haben immer schon über die Besiegten zu Gericht gesessen. Das Bedürfnis jedoch, eine universelle Verantwortlichkeit und Haftung für Verbrechen im Krieg einzuführen, ist erst
mit der Internationalisierung der Schlachtfelder und den zunehmend unkontrollierbar und grausamer werdenden Auswirkungen der modernen Waffentechnologie im 20. Jahrhundert aufgekommen.

Kriegsverbrechen und die internationale Rechtsordnung

(. . .) Erst im dritten Anlauf gelang nach dem Zweiten Weltkrieg die Errichtung internationaler Militärtribunale mit eigener Strafrechtsordnung in Nürnberg und Tokio. Ausmaß und Ungeheuerlichkeit der begangenen Verbrechen waren zweifellos ausschlaggebend für den Konsens der Staaten, einen so folgenschweren Schritt mit so vielen ungelösten Fragen so entschlossen zu unternehmen. Denn hier handelte es sich nicht nur um die strafrechtliche Verarbeitung der Vergangenheit, sondern um die Eignung des Strafrechts, präventiv zur Verhütung staatlicher Verbrechen und kollektiver Destruktivität in diesen Dimensionen wirken zu können. Sodann griff hier das Strafrecht von den klassischen Bereichen sozialer Kriminalität über in das bisherige Sanktuarium der staatlichen Politik, die es kriminalisiert. Diese Grenze war bisher nicht nur durch den Schild der Souveränität geschützt, sondern es war durchaus fraglich, ob das Politische überhaupt den Kategorien des Juristischen zugänglich sei und ihnen unterworfen werden könne.

Hannah Arendt und Karl Jaspers waren sich zum Beispiel einig, dass der Völkermord der Nazis juristisch überhaupt nicht fassbar sei. "Das Böse hat sich als radikaler erwiesen als vorgesehen. Äußerlich gesprochen: Die modernen Verbrechen sind im Dekalog nicht vorgeschrieben." "Diese Verbrechen lassen sich, scheint mir, juristisch nicht mehr fassen, und das macht gerade ihre Ungeheuerlichkeit aus. Für diese Verbrechen gibt es keine angemessene Strafe mehr; Göring zu hängen, ist zwar notwendig, aber völlig inadäquat. Das heißt, diese Schuld, im Gegensatz zu aller kriminellen Schuld, übersteigt und bricht alle Rechtsordnungen", schrieb Arendt.

Und Jaspers antwortete ihr anlässlich des Eichmann-Prozesses: "Das Politische hat einen mit Rechtsbegriffen nicht einzufangenden Rang (der Versuch, dies zu tun, ist angelsächsisch und eine Selbsttäuschung zur Verschleierung einer Grundtatsache der Wirkungen politischen Daseins)."
Diese juristische Schwierigkeit war wohl auch ein Grund, weswegen die Alliierten den Völkermord in den KZ in ihren Pilotprozessen gegen die Hauptkriegsverbrecher nur insoweit berücksichtigten, als er als Teil der Kriegshandlungen ab 1939 unter die "Kriegsverbrechen" und "Verbrechen gegen
die Menschlichkeit" zu fassen war.

Das 20. Jahrhundert hat zwar erhebliche Fortschritte in der Verfeinerung des juristischen Instrumentariums gemacht. Es hat aber auch einen Typus des Verbrechens entwickelt, der nicht nur alle bisherigen Erscheinungsformen in den Schatten stellt, sondern gerade auch Staaten und Regierungen als kriminelle Akteure entdeckt. In dem Maße, in dem Regierungen und staatliche
Repräsentanten als Täter auftreten, wird nicht nur die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs fraglich, sondern bereits seine Begründung. Man könnte sich nämlich durchaus fragen, ob die Doppelrolle des Staates als Täter und Verfolger den Strafanspruch nicht selbst zersetzt und als ein in juristischer Hinsicht unzulässiges "In-sich-Geschäft" auch politisch eher destruktiv ist. Wird es also sinnlos, den nationalen Staat über seine eigenen Verbrechen und die Kriminalität seiner Repräsentanten zu Gericht sitzen zu lassen, so folgt daraus noch nicht, dass dies die Sache der
internationalen Völkergemeinschaft sein müsse oder auch könne. Die Tatsache, dass nach den Nürnberger Prozessen 50 Jahre hindurch kein Konsens über ein internationales Strafgerichtsverfahren gefunden werden konnte, unterstreicht diese Bedenken.

Zur Funktion des internationalen Strafrechts

Staatsverbrechen und Regierungskriminalität sind allemal Verbrechen von einzelnen Individuen, ob es sich um die allgemeinen Erscheinungen der aktiven und passiven Korruption, den Einsatz von Folter und Todesschwadronen, die Massenverbrechen unter Hitler, Stalin oder Pol Pot oder den Einsatz der Atom- und Wasserstoffbombe über Hiroshima und Nagasaki handelt. Doch sind jene Massentötungen in einem bis dahin unvorstellbaren Ausmaß nur auf Grund des gigantischen Gewaltpotenzials moderner Staaten möglich geworden, was den Einwand nahe legt, dass hinter dieser "Mordmaschine" die strafrechtliche Verantwortung des Individuums verschwimmt.

Das gilt nicht für die völkerrechtliche Verantwortung des Staates zu Entschädigung und Wiedergutmachung, aber für die individuelle strafrechtliche Sanktion, da es sich eben um ein Staatsverbrechen handelt. Es bedarf also der Überlegung, welche Funktion ein internationaler Strafprozess für die Aufarbeitung derartiger Massenverbrechen überhaupt haben kann. Die klassischen Funktionen der Bestrafung mussten scheitern: Weder Gerechtigkeit noch Wiedergutmachung, weder Sühne noch Vergeltung, ja kaum Prävention lassen sich mit internationalen Strafverfahren verbinden. Man wird damit solchen Verbrechen weder "gerecht", noch kann man zuverlässig darauf bauen, ähnliche Staatsverbrechen in der Zukunft abzuschrecken.

Eine besondere Funktion sollte allerdings nicht übersehen werden, die vor allem aus dem Verfahren und weniger aus dem Ergebnis, dem Urteil, folgt. Es ist eine ganz außerjuristische Demonstrations- und Delegitimierungsfunktion, die vor allem bei Verbrechen im staatlichen Bereich notwendig ist. Gerade der Staat hat mit seinen verschiedenen Apparaten die Möglichkeit, das Arkanum seiner Gewalt und Herrschaft gegen Untersuchung von außen und Veröffentlichung abzuschotten und undurchschaubar zu machen. Propaganda, Desinformation, Verdunkelung etc. werden im Bereich der Staatsverbrechen äußerst wirksam angewandt, um die Entlegitimierung staatlicher Politik durch Aufdeckung und Sichtbarmachung der kriminellen Vorkommnisse zu vermeiden.

Weniger die Aussicht, dass ein hoher Staatsmann verurteilt und bestraft werden könnte - sei es Pinochet, Scharon oder Kissinger -, als die Furcht vor der Durchleuchtung, Aufklärung und Veröffentlichung ihrer Verbrechen scheint die Staaten so lange davon abgehalten zu haben, ein internationales Strafrecht einzurichten. Die Unfähigkeit der Staaten, die gewachsene moralische Sensibilität ihrer Öffentlichkeit und das durch die Nürnberger Prozesse geschärfte Strafrechtsbewusstsein in wirksame internationale Institutionen umzusetzen, führte die Bevölkerung dazu, sich eigene Instrumente zu bilden, um zumindest dem Wunsch nach Aufklärung und
Entlegitimierung staatlicher Makrokriminalität nachzukommen. So entstanden die tribunals of opinion, die sog. Russell-Tribunale, die sich unter der Teilnahme weltweit anerkannter Intellektueller solchen gewaltigen Kriegs- und Verbrechenskomplexen wie dem Vietnam-Krieg, den Verbrechen der Militärregime in Lateinamerika, der Intervention der Sowjetunion in Afghanistan usw. bis zum Krieg der Nato gegen Jugoslawien widmeten. (. . .)

Die Nürnberger Tribunale und die Fortentwicklung des Völkerrechts

Alle diese Überlegungen, die zwar für die Einrichtung eines Völkerstrafrechts von Bedeutung sind, eilen jedoch den historischen Erwägungen um die Etablierung der Nachkriegstribunale von Nürnberg und Tokio voraus. In den ersten Forderungen nach einer derartigen Strafgerichtsbarkeit, die bereits Anfang 1942 Vertreter von neun Exilregierungen in London erhoben, spielten weder Vergeltung noch Rache eine Rolle, sondern jene Kategorie, die noch am wenigsten als Begründung und Emblem für justizförmige Prozesse taugt: Gerechtigkeit. (. . .)

Es ging um die Dokumentation der Barbarei, um die Prävention des Vergessens, um Fußangeln auszulegen auf dem Weg der Verdrängung. Dieses Ziel sollte nicht auf das deutsche Volk beschränkt bleiben: Die Regierungen der Welt sollten abgeschreckt werden, in Zukunft zum Mittel des Krieges zu greifen - ein legitimer Präventionsgedanke, der allerdings den Beweis seiner Tauglichkeit immer noch schuldig ist. Und es ging um noch mehr, um die Fortentwicklung des Völkerrechts. (...)

Ein System kollektiver Sicherheit auf der Basis des Rechts

(. . .) Der Anspruch des Strafrechts konnte sich anders als der der Militärtribunale nicht ausschließlich gegen die Funktionsträger des Nazi-Systems richten. Er musste sich als Teil der neuen Friedensordnung gegen alle potenziellen Friedensstörer in der Zukunft wenden und durfte
nicht vor der Souveränität etwa der jetzigen Siegermächte Halt machen. (. ..)

Doch zur Bestrafung der Auslösung eines Krieges fehlte es an einer völkerrechtlichen Grundlage und dem Willen, eine solche zu schaffen. Insbesondere die Franzosen warnten in den Londoner Debatten über das "Verbrechen gegen den Frieden" vor einer unzulässigen, rückwirkenden
Bestrafung. Diese Kritik an der Rückwirkung ist vor allem in Deutschland bis in die Gegenwart kultiviert und zu einem zentralen Hebel der Delegitimierung der Nürnberger Prozesse gemacht worden. (. . .)

Die Schwierigkeiten mit der Strafbarkeit von Aggression und Angriffskrieg wirken allerdings bis heute fort, weswegen dieser Tatbestand immer noch nicht in das Römische Statut für den Weltstrafgerichtshof von 1998 aufgenommen worden ist und weiter seiner einvernehmlichen Definition harrt. Neben der Auseinandersetzung über das Rückwirkungsverbot spielte bei der Kodifizierung der Nürnberger Prinzipien auch der Vorwurf des "tu quo que", dass die Alliierten ebenfalls das Kriegsvölkerrecht verletzt hätten (Bombardierung Dresdens etc.), eine Rolle. Diese blieben sich allerdings darin einig, nicht die Kriegsführung der Verbündeten zum Gegenstand des
Gerichtsverfahrens zu machen - was wiederum den Vorwurf der "Siegerjustiz" verstärkte.

Eine entscheidende Neuerung gelang den Alliierten bei der Bestimmung der persönlichen Verantwortlichkeit der einzelnen Individuen. Diese waren als Repräsentanten und ausführende Organe des Staates traditionellerweise vor jeder individuellen strafrechtlichen Haftung geschützt. Es gehörte zum Souveränitätsverständnis eines jeden Staates, die Immunität seiner Organe
gegenüber jedem fremden Strafanspruch zu schützen. Diese Position wurde durch Art. 7 und 8 des Londoner Statuts durchbrochen. Danach war nicht einmal ein Staatsoberhaupt mehr sakrosankt, und die beliebte Ausrede des Handelns auf zwingenden Befehl konnte allenfalls als Strafmilderungsgrund berücksichtigt werden. Art. 7 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien hat diese Neuerung ebenso übernommen wie das Statut des Ruanda-Tribunals.

Nürnberg und die UN

(. . .) Die UN-Generalversammlung hatte noch prompt nach dem Urteil reagiert. Am 11. Dezember 1946 hatte sie mit ihrer Resolution 95 (I) die dem Statut und dem Urteil zu Grunde liegenden Rechtsprinzipien als geltendes Völkerrecht anerkannt und die Völkerrechtskommission beauftragt, ein internationales Strafrecht zu entwickeln. Bereits 1950 legte die Kommission zwei Berichte vor, die die Nürnberger Prinzipien in einem völkerrechtlichen Verbrechenskodex zusammenfassten und darauf aufbauend ein Völkerstrafrecht für die Zukunft zu formulieren versuchten. Sie bilden seitdem die Grundlage für die langen, immer wieder unterbrochenen Arbeiten zur Entwicklung eines
materiellen Völkerstrafrechts und des dazugehörigen Internationalen Gerichtshofs.

Die Völkerrechtskommission war sich schon frühzeitig einig, das strafrechtliche Verfahren auf Individuen zu beschränken und nicht auf den Staat als abstrakte Rechtsperson auszudehnen. Den einzelnen Tätern sollte dabei weder das Handeln in amtlicher Eigenschaft noch auf Befehl Immunität verschaffen - an der staatlichen Souveränität sollte kein Strafverfahren scheitern. Einigkeit wurde auch darüber erzielt, dass kein umfassendes internationales Strafgesetzbuch geschaffen werden sollte, sondern sich der Katalog auf zentrale Verbrechen mit einem politischen Gehalt beschränken sollte. Damit schieden zum Beispiel Piraterie, Geldfälscherei, Terrorismus,
Menschen- und Drogenhandel aus, und die Strafbarkeit konzentrierte sich auf die Nürnberger Trias: Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Der Grund für diesen Rückzug ist der gleiche, der die gesamten Verhandlungen in die Länge gezogen hat und die Errichtung eines ständigen Strafgerichtshofes so kompliziert erscheinen lässt: der Widerstand gegen die Durchbrechung der nationalen Souveränität. Hier geht es nicht allein um die Grenzziehung zwischen nationaler und internationaler Gerichtsbarkeit, sondern nicht zuletzt um die Angst vor der Einmischung in die internen Angelegenheiten, vor allem, wenn der Gerichtshof evtl. ohne Zustimmung und gegen den Willen eines Staates anklagen und gegen ihn verhandeln kann. Die Bedeutung und Notwendigkeit eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofs leuchtet aber schließlich nur ein, wenn er auch gegen den Willen des betroffenen Staates das Verfahren aufnehmen kann, weil die nationale Strafgerichtsbarkeit keine ausreichende Strafverfolgung
garantiert.

Das Jugoslawien-Tribunal von Den Haag

Auf dem Weg zu dieser internationalen Strafgerichtsbarkeit haben die beiden Tribunale für Jugoslawien (JT) und Ruanda (RT), die 1993 und 1994 vom UN-Sicherheitsrat eingerichtet wurden, zweifellos eine herausragende Bedeutung. Bemerkenswert ist zunächst, dass nicht die UN-Generalversammlung oder ein völkerrechtlicher Vertrag ähnlich dem Londoner Statut die Tribunale
errichtet haben, sondern der UN-Sicherheitsrat. Dieser sah in der Einrichtung der Tribunale eine Maßnahme der Friedenssicherung im Rahmen des Kapitels VII der UN-Charta, die daher für alle Staaten verbindlich ist. Damit war von Anfang an klar, dass die Tribunale nicht als Modell für einen
ständigen Internationalen Strafgerichtshof konzipiert wurden. Denn der Draft Code der Völkerrechtskommission für den Weltstrafgerichtshof geht von einem völkerrechtlichen Vertrag aus, der allein der souveränen Gleichheit und dem Prinzip der Freiwilligkeit entspricht. Die Tribunale
wurden ad hoc für eine begrenzte Aufgabe und für einen begrenzten Zeitraum geschaffen, die Tatbestände wurden auf Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschränkt, auf Verbrechen gegen den Frieden wurde verzichtet. Allerdings wurden die Tatbestände konkretisiert, so dass zum Beispiel "schwere Verletzungen der Genfer Konventionen von 1949" (Art. 2 JT-Statut) sowie Folter, Vergewaltigung und Verfolgung aus politischen, rassischen und religiösen Gründen (Art. 5 JT-Statut) bestraft werden können. Zudem stattete der Sicherheitsrat die Tribunale mit viel weitergehenden Untersuchungskompetenzen aus, als sie das Nürnberger Tribunal
hatte. Sie können in jedem Staat Ermittlungen durchführen, ihre Haftbefehle müssen überall befolgt werden und ihre Auslieferungsersuchen gehen jedem Auslieferungsvertrag vor, dies gilt auch für eigene Staatsangehörige (Art. 29 JT-Statut, Art. 89 I ICC-Statut).

Das Tribunal hat Vorrang vor jeder nationalen Gerichtsbarkeit und kann jedes beliebige Verfahren vor einem nationalen Gericht an sich ziehen (Art. 9 Abs. II JT-Statut, Art. 8 Abs. II RT-Statut). Das Tribunal kann also in jede nationale Gerichtshoheit eingreifen, eine außergewöhnliche Kompetenz, die das Statut des Weltstrafgerichtshofes (ICC) durch das Prinzip der "Komplementarität" relativiert hat. Nach Art. 7 ICC-Statut ist ein Verfahren dann unzulässig, wenn die Strafverfolgung durch nationale Behörden erfolgt, es sei denn, der Staat ist nicht willens oder nicht in der Lage, die Strafverfolgung durchzuführen.

Die Zuständigkeit des Weltstrafgerichtshofes soll auch dann gegeben sein, wenn Strafverfahren national nur zum Schein oder unfair durchgeführt werden. Vom Verbot der Doppelbestrafung, welches wie für die meisten nationalen Strafordnungen auch für den Weltstrafgerichtshof (Art. 20 ICC-Statut) gilt, dispensiert das Statut das Jugoslawien-Tribunal, wenn es zu der Auffassung kommt, dass das nationale Gerichtsverfahren nicht in Ordnung gewesen ist (Art. 10 Abs. II JT-Statut). Diese Regelung ist, obwohl lange Zeit von einigen Staaten als unzulässige Einschränkung der Souveränität abgelehnt, in Art. 20 Abs. 3 ICC-Statut übernommen worden. Die USA haben darüber hinaus eine Regel durchgesetzt, die es dem Sicherheitsrat erlaubt, Strafverfolgungsmaßnahmen des Gerichtshofes durch eine Resolution auf der Basis des VII. Kapitels für die Dauer von zwölf Monaten auszusetzen (Art. 16 ICC-Statut). Die Resolution kann wiederholt werden, wodurch dem Sicherheitsrat eine erhebliche Verzögerung eines bereits anhängigen Verfahrens möglich ist. Das ist ein außerordentlich schwerer und bedenklicher Eingriff in die Rechtsprechung eines internationalen Gerichtshofs. Richard Goldstone, der nie einen Zweifel an der Notwendigkeit eines ständigen internationalen Gerichtshofs hat aufkommen lassen, wird am
ehesten die Meinung der meisten Staaten treffen, wenn er sich ganz unzweideutig gegen einen zu starken Einfluss des UN-Sicherheitsrats ausspricht.

Der Vorwurf der "Siegerjustiz" lässt sich allerdings derzeit an anderen Geburtsfehlern des Jugoslawien-Tribunals in Den Haag festmachen, die seine Unabhängigkeit und Legitimität ernstlich in Frage stellen. Die Befugnis des UN-Sicherheitsrats, auf der Basis des VII. Kapitels der UN-Charta ein Strafgericht einzurichten, wird zwar überwiegend unterstellt, entspricht jedoch in keiner Weise dem Wortlaut und Sinn der entsprechenden Artikel. Vor allem verstößt es gegen den Anspruch eines jeden Angeklagten auf den gesetzlichen Richter nach Art. 14 I 3 des Internationalen Paktes für politische und bürgerliche Rechte. Denn das völkerrechtliche Äquivalent zum Gesetz als Grundlage für ein unabhängiges Gericht ist nicht ein Beschluss des Sicherheitsrats, sondern nur ein internationaler Vertrag. Dieser Fehler wiegt schwerer, als bisher in der Öffentlichkeit wahrgenommen worden ist.

Man versucht ihn zu vermeiden bei der Einrichtung der Tribunale zu Kambodscha und Sierra Leone, wo man aus Grün- den der Akzeptanz der Rechtsprechung durch die einheimische Bevölkerung immer noch in den Verhandlungen über Standort, Besetzung, Geschäftsordnung und ähnliche Fragen mit den jeweiligen Regierungen ist. Auch der Weltstrafgerichtshof wird den Staaten nicht oktroyiert, sondern muss von ihnen vertraglich anerkannt werden. Die zwangsweise Einsetzung hingegen verletzt nicht nur die Souveränität der Staaten, sondern hat gravierende Folgewirkungen, die die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Tribunals erheblich beeinträchtigen. Die Weigerung, die Nato-Kriegsführung einer gerichtlichen Überprüfung zu unterziehen und sich allein mit Handlungen des Gegners zu beschäftigen, ist eine schwere Belastung für einen fairen Prozess des Tribunals. Sie wird verschärft durch die Finanzierung, die entgegen Art. 32 JT-Statut nicht aus
dem ordentlichen Haushalt der Vereinten Nationen bestritten wird, sondern zu über 80 Prozent aus anderen Quellen von Nato-Mitgliedern und Staaten wie Saudi-Arabien erfolgt. Ein derartiges Gericht kann es sich in der Tat nicht leisten, dem Antrag der "amici curiae" zuzustimmen, seine Rechtmäßigkeit durch den IGH überprüfen zu lassen. Und der Sicherheitsrat, der den Antrag für ein solches Rechtsgutachten beim IGH zu beantragen hätte (Art. 96 UN-Charta), kommt dafür angesichts seiner Zusammensetzung schon gar nicht in Frage. Der Vorwurf der "Siegerjustiz" lastet wie ein dunkler Schatten über dem Tribunal und wird durch die schikanösen Haftbedingungen (Mediensperre, zeitweise Telefonsperre, permanente Kamerabeobachtung wegen angeblicher Selbstmordgefahr etc.) täglich von neuem bestätigt.

Mehr als ein Schönheitsfehler ist die Auslieferung des Angeklagten Milosevic an das Tribunal durch den serbischen Ministerpräsidenten Djindjic. Dass diese Auslieferung unter Bruch der jugoslawischen Verfassung und entgegen dem Beschluss des Verfassungsgerichts erfolgte, ist zwar kein Verfahrenshindernis vor einem internationalen Gerichtshof - ganz anders als die Entführung des Vorsitzenden der PKK Abdullah Öcalan vor drei Jahren aus Kenia -, belastet das Verfahren aber zusätzlich. Denn die Umstände, unter denen diese verfassungswidrige Auslieferung erfolgte, sind bekannt: Der Druck der USA mittels Kreditversprechen ließ dem jugoslawischen Parlament keine Zeit, die Verfassung an die Zusammenarbeitsverpflichtung mit dem Tribunal durch die Überstellung eigener Staatsbürger anzupassen.

Der Vorgang gewinnt auch dadurch seine Pikanterie, dass die USA gerade mit diesem Tribunal Menschenrechte und die rule of law auf den Balkan zurückbringen wollten, ihren Widerstand gegen den Weltstrafgerichtshof aber mit der kategorischen Ablehnung begründen, jemals selbst einen ihrer Bürger an das Gericht zu überstellen. Gäbe es nicht eine weitgehende Vorverurteilung Milosevics in der europäischen Öffentlichkeit, würden die schwer wiegenden rechtsstaatlichen Defizite des Tribunals schon lange die Forderung nach Aussetzung des Verfahrens und Neugründung des Gerichts hervorgerufen haben. Der Verdacht ist aber nicht von der Hand zu weisen, dass die Nato-Staaten den Prozess benutzen, um nachträglich die immer noch bestrittene Legitimation ihrer Bombardierung Jugoslawiens zu festigen. Ob unter diesen Umständen eine unanfechtbare Klärung der Tatbestände der Verbrechen unabhängig von der interessierten Propaganda der Tribunalmächte erwartet werden kann, mehr als zweifelhaft. Da der Prozess jedoch seinen Fortgang nehmen wird, ist er - unabhängig von seinem Ausgang - als ein Menetekel, als warnendes Beispiel für die Abwege einer Strafjustiz zu nehmen, die eher der Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln dient als der Sicherung des internationalen Friedens.

Dieses Ziel darf jedoch darüber nicht aus den Augen verloren werden. Nur wenn der zukünftige Weltstrafgerichtshof die Fehler vermeidet, die dem Jugoslawientribunal von den Nato-Staaten aufgezwungen wurden, kann er das Vermächtnis der Nürnberger Prozesse antreten.
 

Editorische Anmerkungen:

Der Artikel wurde als Nachricht am 1. Juli 2002 in der Newsgroup cl.politik.recht verbreitet.