Imperialismus und Antiimperialismus zwischen Marx und Vermurksung
Zur Aktualität eines umstrittenen Begriffs

von Bernard Schmid

7-8/03
 
 
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Es ist noch nicht so lange her, da konnte man kaum ein deutschsprachiges linkes Flugblatt - jedenfalls aus bestimmten politischen Milieus - lesen, das nicht mindestens ein mal pro Satz die Begriffe "Imperialismus", "imperialistisch" oder "Imperialisten" enthalten hätte. Die inflationäre Benutzung ließ es unvermeidlich werden, dass ein oft sinnentleerter Gebrauch damit betrieben wurde: Imperialismus, das waren eben die Bösen, das System, die anderen - der Gesprächspartner würde schon wissen, wie es gemeint war. Heute, vielleicht 15 Jahre später, verhält es sich - wiederum in bestimmten politischen Milieus - genau umgekehrt. Auch nur den Begriff "Imperialismus" in den Mund zu nehmen, gilt mitunter als unanständig, anrüchig, wenn nicht gar latent antisemitisch und in die Nähe zu Rechtsextremen rückend - vom Begriff des "Antiimperialismus" ganz zu schweigen. Nur ein Beispiel: So macht ein im Oktober 2002 veröffentlichter Reader sich als linksradikal verstehender Berliner Gruppen (Fußnote 1) macht gleich auf seiner ersten Seite mit dem Motto auf: "Das antimperialistische Weltbild macht keine Fehler - es ist der Fehler." Die Abwandlung eines Slogans, der dereinst "dem System" - welche Vorstellungen man auch immer davon hatte, oftmals mögen sie vage gewesen sein - vorbehalten blieb. Woran macht sich die Kritik fest? 

Wenn wir eine zwischen Februar und Mai 2002 publizierte Serie von Diskussionsartikeln in der Berliner Wochenzeitung Jungle World heranziehen, dann lässt sich die Kritik in drei Kernargumenten zusammenfassen. Erstens daran, dass der militärische Aspekt der Unterwerfung fremder Länder nicht gleichermaßen aktuell und charakteristisch für das dominierende System sei, wie das vielleicht vor dem Ersten Weltkrieg der Fall war. "Luxemburg und Lenin können sich kapitalistische Expansion nur militärisch vorstellen, nicht jedoch auf dem klassischen Weg der Handelsbeziehung", moniert beispielsweise Martin Krauss. Zum zweiten basiere der Imperialismusbegriff auf der falschen Annahme einer Fusion zwischen Staatsmacht und dominierenden (Monopol-)Kapitalfraktionen. Drittens werde diese Vokabel aber "inzwischen auch (durch) Rechtsextreme und religiöse Fundamentalisten" benutzt, heißt es in der Einleitung zum ersten Beitrag dieser Debattenserie. "Dass sich rechtsextreme Gruppen heute als ' Antiimperialisten'  sehen und den Kampf ' unterdrückter Völker'  bejubeln, ist nicht einfach nur ein Diebstahl von Begriffen", hält seinerseits Micheal Heinrich fest. Derselbe Audor plädiert energisch dafür, "diesen mit Vulgärmarxismus, Ökonomismus und Moral geprägten Zopf des Traditionsmarxismus abzuschneiden".

"Imperialismus" - ein Einfallstor für rechtsextreme Diskurse?

Zum dritten Punkt sei allerdings sogleich angemerkt, dass beispielsweise der historische Nationalsozialismus sich durchaus auch als "antikapitalistisch" begriff, oder jedenfalls in seiner Propaganda so darstellte.

Die Umfunktionierung gesellschaftskritischer Begriffe durch die Todfeinde der Linken und jeglicher sozialer Emanzipation allein genügt jedenfalls noch nicht, um diesen Konzepten von vornherein ihren Sinn zu rauben. Allerdings macht die Tatsache, dass antiemanzipatorische Bewegungen manche Begriffe linker Provenienz in ihren Diskus einbauen konnten, es dringend erforderlich, den ihnen zugrunde liegenden Denkgebäuden hinreichend analytische Schärfe zu verleihen. Hinreichend, um eine Verwechselbarkeit linker und faschistischer oder auch fundamentalistischer Diskurse auszuschließen.

Jeder Begriff kann seiner ursprünglichen Bestimmung entfremdet und in einen anderes Diskurszusammenhang eingebettet werden. Die Karriere des Begriffs "Sozialismus" beispielsweise führt von ihrem Ursprung - der Arbeiterbewegung - über den "deutschen Sozialismus" preußischer Nationalrevolutionäre, den "nationalen Sozialismus" (ein Begriff, mit dem die Abteilung für psychologische Kriegsführung der Reichswehr im Zuge der Unruhen 1918/19 experimentierte) bis hin zum Nationalsozialismus. Ferner gab es auch noch den "real existierenden Sozialismus" (post)stalinistischer Prägung und schließlich den "spezifischen Sozialismus" nationalistisch-autoritärer Regime im Trikont, etwa unter Saddam Hussein. Deswegen gibt es keinen Anlass, auf das am Ausgang stehende emanzipatorische Gesellschaftsprojekt zu verzichten. Doch umso dringender wird es dadurch aus Sicht von Linken, für genügend inhaltliche Trennschärfe zu sorgen, um jede Verwechselbarkeit oder Austauschbarkeit der Diskurse auszuschließen.

Umgekehrt wäre es fatal, würden Linken deswegen aufhören, Aspekte des aktuell herrschenden Weltsystems zu kritisieren, nur weil unappetitliche Bewegungen dies ebenfalls tun. Auch die Nazis denunzierten die Arbeitslosigkeit und das damit verbundene soziale Elend, doch deswegen wird keine linke Demonstration zugunsten des Lebens unter Sozialhilfe-Bedingungen abzuhalten sein.

Die entscheidende Frage ist, welche Analyse und - im zweiten Schritt - welche Alternative vor dem Hintergrund des kritisierten, aktuell vorherrschendenSystems konstruiert wird. Wenn, um im Beispiel zu bleiben, der Gegenentwurf zur Massenarbeitslosigkeit nämlich "deutscher Arbeitsethos" heißt, mit einer Idealisierung der Mühe und Plackerei als solcher, und deren "Genuss" auch noch für die Angehörigen einer bestimmten Nation oder (vermeintlichen) "Rasse" reserviert werden soll - nach dem Motto "Arbeitsplätze (nur) für Deutsche" - dann ist er selbstverständlich grundsätzlich von Übel. Deswegen wird das Leben mit Arbeitslosen- oder Sozialhilfe aber noch lange nicht zum erstrebenswerten Zustand.

Doch die vorherrschende Tendenz in bestimmten Teilen der deutschen Linken (beispielsweise während des Afghanistanfeldzug 2001/02) war eher, auf breiter Front auf frühere Erkenntnisgewinne hinsichtlich des internationalen Herrschaftssystems zu verzichten, weil Nazis, Ethno-Nationalisten oder konfessionelle Fundamentalisten dieses anprangerten. Dieses Vorgehen schafft die Gefahr, dass extrem rechte Strömungen als alleinige "Systemgegner" freies Feld vorfinden. Freilich ist die Frage aufzuwerfen, ob die Verwendung des Begriffs bzw. die analytische Kategorie des "Imperialismus" nicht notwendigerweise - aufgrund der Beschaffenheit dieser Idee selbst - eine Schlagseite nach rechts aufweist, die dafür sorgen würde, dass Rechtsextreme, völkische Nationalisten und religiöse Fundamentalisten die zugrunde liegende Idee stets als die ihre beanspruchen können. Doch ein Blick auf die Verwendung dieses Begriffs bei deutschen Rechtsextremen zeigt, dass es sich auf ihrer Seite um einen groben Missbrauch der Terminologie handelt - aber mitnichten um eine Verwendung der analytischen Kategorien, die dieser Begrifflichkeit zugrunde liegen. Die NPD oder ihr nahe stehende neonazistische Gruppierungen denunzieren zwar in ihren Verlautbarungen wiederholt den Imperialismus. Doch analysiert man den Sinnzusammenhang näher, so stellt sich schnell heraus, dass der Begriff nur als Platzhalter für eine andere Chiffre benutzt wird, nämlich jene der "jüdischen Weltherrschaft", die offen zu benutzen die geltende Gesetzgebung diesen Kreisen verbietet. In diesem Milieu stellt man sich vor, dass die "jüdische Weltverschwörung", eine alte Denkfigur rechtsextremer Diskurse und Ideologie, vermittels der USA über die Länder und Nationen dominiere. Daher bedeutet Imperialismus den Vertretern dieses Milieus nichts anderes als eine Chiffre für "amerikanisch-jüdisches Imperium". Das aber hat nichts, aber auch gar nichts mit den Kategorien der marxistischen Imperialismustheorie(n) zu tun. Letztere versuchen, das weltweite ökonomische System und darin vorhandene Hierarchien zu beschreiben. Bei konsequenter Anwendung diese analytischen Kategorien muss notwendigerweise auch von einem deutschen Imperialismus, wie beispielsweise auch einem französischen, gesprochen werden. (FUSSNOTE 2) 

Eine Erwähnung desselben oder gar Kritik an demselben aber ist im Diskurs der Rechtsextremisten und Deutschnationalen undenkbar, geht es ihnen doch primär darin, die "unterdrückte deutsche Nation" als (halluziniertes) Opfer fremder Machenschaften darzustellen. Spätestens hier also werden sich die Geister sehr schnell scheiden. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass fortschrittliche, linke Imperialismuskritik - um ein, ungewolltes, Andocken an ihren Diskurs mittels rechtsextremer Ideologieverschnitte zu verhindern - stets vermieden werden muss, diese Begrifflichkeit ausschließlich auf die alleinigen USA zu beziehen. Dies wäre noch dazu ein schwerer analytischer Fehler.

Kritik von rechts an den jeweils aktuellen Formen des Kapitalismus oder Imperialismus (nicht aber am Prinzip von Dominanz, Herrschaft und Ausbeutung an sich) hat es im Übrigen immer gegeben. Vorgestern opponierten französische Reaktionäre gegen die Kolonisierung des 19. Jahrhunderts, genauer: gegen deren vorgeblichen Legitimationszweck, "den Primitiven die Zivilisation zu bringen". Da die Rassen von Natur aus ungleich seien, sei dies verschwendete Energie und koste nur Geld - man solle sich lieber um "französische Belange" kümmern, und etwa die Ergebnisse der (bürgerlichen) Revolution der Jahre 1789 bis 1793 rückgängig machen. Heute kritisiert beispielsweise Jean-Marie Le Pen die neuen Formen der "Globalisierung", da sie die französische Ökonomie zugunsten jener fremder Länder ausbluten ließen. Auch hier übersieht die Kritik von rechts selbstverständlich gerne, wem die weltwirtschaftlichen Entwicklungen in Wirklichkeit nutzen - um fälschlicherweise zu behaupten, die eigene Nation (und nicht etwa bestimmte soziale Komponenten dieser Gesellschaft) gehöre zu ihren Verlierern.

Worum geht es?

Nun zum Kern des Disputs, dem Imperialismusbegriff. In den oben zitierten Kritiken werden, meiner Auffassung nach, mehrere Betrachtungs- und Diskussionsebenen auf unzulässige Weise miteinander vermengt. Zunächst gilt es, zwischen (erstens) dem analytischen Kern eines Konzepts, (zweitens) einer zum Zeitpunkt der Niederschrift eines Textes aktuellen Zustandsbeschreibung und (drittens) dem eigenen Gegenentwurf des Gesellschaftskritikers zu unterscheiden.

Die Beschreibung des Imperialismus als ein Zustand der (vorwiegend militärischen) Aufteilung und Beherrschung fremder Territorien, und sei es zum "tieferen" Zwecke der Ausplünderung ihrer Rohstoffe und Arbeitskräfte, gehört eindeutig zur zweiteren Kategorie. Es handelt sich um eine Beschreibung, die sich ausschließlich auf eine, zu einem bestimmten Zeitpunkt aktuelle Form eines historisch-politisch-ökonomischen Systems bezieht. Diese Form kann vollkommen überholt sein, ohne dass sich das Grundverhältnis an sich notwendig geändert hätte.

Nun zum dritten Aspekt: Es ist sehr wahrscheinlich, dass Lenins Beschreibung der zu seiner Zeit aktuellen Erscheinungsform des imperialistischen Kapitalismus - und namentlich die Idee der weitgehenden Verschmelzung von Staatsmacht und Monopolkapitalen, ausgehend von der real zu beobachtenden Tendenz zur Kapitalkonzentration - zum Teil bereits durch seinen Gegenentwurf, in Gestalt seines Revolutionsmodells, geprägt war. Die Idee einer Konzentration aller Macht an einer Schnittstelle zwischen Staat und Ökonomie sollte dem Vorhaben Vorschub leisten, diesen Knotenpunkt zu besetzen, indem die Staatsmacht erobert und ausgeübt würde. Auf diese Weise sollte eine zentralisierte, disziplinierte und ihrer historischen Mission bewusste Partei die Gesellschaft - im Ergebnis bedeutete das: von oben - revolutionieren können. Der Ausgang dieses Versuchs ist bekannt.

In späteren Jahrzehnten diente die, vom offiziellen "Kommunismus" sowjetischer Prägung weiter entwickelte, Idee vom "staatsmonopolistischen Kapitalismus" - abgekürzt Stamokap - dann den (stalinistisch bzw. realsozialistisch deformierten) Kommunistischen Parteien in westlichen Ländern oft als Rechtfertigung einer de facto staatsorientierten Politik.

Die parlamentarische Regierungsbeteiligung sollte dadurch gerechtfertigt werden : Zwar liege die ökonomische Macht in privater Hand, weshalb das Erringen einer parlamentarische Mehrheit allein die realen Machtzentren noch nicht antaste. Allerdings öffne die Tendenz zur Verschmelzung von Staatsmacht und dominierenden Kapitalfraktionen der Möglichkeit den Weg, durch Erringen parlamentarischer Regierungsfunktionen das Gesellschaftssystem zu transformieren. Diese Strategie etwa der französischen oder italienischen KP ist bekanntlich ebenfalls gründlich gescheitert.

Räumen wir also auch die Ideen von abgeschlossener monopolistischer Konzentration, oder gar "staatsmonopolistischem Kapitalismus" beiseite. Nachdem wir uns dieser historischen Schlacken entledigt haben, können wir zum eigentlich interessanten, theoretischen Kern des Disputs gelangen. Worin besteht der analytische Kern der Imperialismustheorie? Lenin oder Rosa Luxemburg hatten zu ihrer Zeit zunächst auf eine drängende Fragestellung zu antworten, die da lautete: Warum hat die Sprengkraft der "sozialen Frage" den Kapitalismus nicht bereits erschüttert, während doch ein massenhaftes Industrieproletariat existiert ? Die zwar nicht von Karl Marx selbst, aber von seinen - oft vulgärmarxistischen - Epigonen verfochtene These eines alsbaldigen Zusammenbruchs des kapitalistischen Systems hatte sich als falsch erwiesen. Lenin und Luxemburg antworteten darauf: Der Kapitalismus hat es geschafft, die in seinen Kernländern drängend gewordene "soziale Frage" im Weltmaßstab zu exportieren. Durch Erwerb und Ausbeutung von Kolonien, Ausplünderung neu entdeckter Kontinente - wie Lateinamerikas im 16. und 17. Jahrhundert - und auf diese Weise erzielte Extraprofite haben die dominierenden Kräfte in den kapitalistischen Kernländer es geschafft, die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft in gewissen Grenzen zu halten, und auf diese Weise gesellschaftlichen Erschütterungen vorzubeugen.

Zu Lenins Zeiten hieß dies: Eine - minoritäre - "Arbeiteraristokratie", die am stärksten vom Kolonialhandel profitiert und beispielsweise in den Hafenindustrien arbeitet, dient als revolutionshemmender Faktor. Bereits Friedrich Engels hatte, eine Generation vor ihm, diese Tendenz beschrieben, so schrieb er im Jahr 1858 an seinen Korrespondenten Marx: "(...) dass das englische Proletariat faktisch mehr und mehr verbürgert (...) Bei einer Nation, die die ganze Welt exploitiert, ist das allerdings gewissermaßen gerechtfertigt." Derselbe schreibt in seinem Vorwort zur Neuauflage der ' Lage der arbeitenden Klasse in England" im Jahr 1895: "...und die Arbeiter zehren flott mit von dem Weltmarkts- und Kolonialmonopol Englands." Dabei bezog er sich allerdings immer nur auf bestimmte Sektoren der britischen Arbeiterschaft. Lenin suchte nach ihm nach einer kohärenten Beschreibung und theoretischen Einordnung dieses Phänomens.

In seiner Polemik mit dem "reformistischen", und während des Ersten Weltkriegs de facto staatstragenden und die jeweiligen Kriegsziele unterstützenden, Teil der europäischen Sozialdemokratie - die er in dieser Schrift als die Strömung des "sozialistischen Opportunismus" bezeichnet - rekurriert Lenin auf die Beobachtungen Engels' . Und versucht, sie in theoretische Form zu gießen: Einerseits gebe es privilegierte Sektoren der Arbeiterschaft, die von der weltwirtschaftlichen Stellung ihrer (Kolonial-)Staaten profitierten: "Der Imperialismus hat die Tendenz, auch unter den Arbeitern privilegierte Kategorien auszusondern und von der großen Masse des Proletarats abzuspalten." Andererseits komme hinzu, dass die kapitalistischen Strukturen das wirtschaftliche Gefälle zwischen kolonialen Wirtschaftszentren und ausgebeuteten Ländern nutzten, um die unteren Ränge der industriellen Arbeiterschaft mit schlecht bezahlten und kaum gewerkschaftlich organisierten, eingewanderten Arbeitern aufzufüllen, dabei gewissermaßen die koloniale Struktur in die Kernläder importierend. Gestützt auf eine 1913 in New York publizierte Untersuchung, formuliert Lenin etwa: "In den Vereinigten Staaten nehmen die Einwanderer aus Ost- und Südeuropa die am schlechtesten bezahlten Stellen ein, während die amerikanischen Arbeiter den größten Prozent der Aufseher und der bestbezahlten Arbeiter stellen". (Fußnote 3) Angemerkt sei lediglich, dass dieses Phänomen auch unabhängig von einer genauen Reproduktion des Kolonialverhältnisses innerhalb der Landesgrenzen stehen kann, denn Ost- und Südeuropa waren keine kolonisierten Länder - freilich waren sie von der Tendenz zur Bereicherung der kapitalistischen Kernländer im frühen 20. Jahrhundert tendenziell abgeschnitten. In anderen Fällen, etwa dem der algerischen Immigration in Frankreich und ihrer Behandlung über längere Zeiträume hinweg, hängen Kolonialpolitik und soziale Schichtung innerhalb der "Metropole" deutlich enger zusammen.

In späteren Jahrzehnten war diese Zustandsbeschreibung in den kapitalistischen Metropolen notwendigerweise zu modifizieren. Vor allem in den drei Jahrzehnten zwischen 1945 und 1975 kamen die Früchte des in den Kernländern des weltweiten Wirtschaftssytems erreichten Entwicklungsniveaus nicht nur einer Minderheit, sondern dem größten Teil der abhängig beschäftigten Gesellschaftsmitglieder zugute - auch wenn sie selbstverständlich ungleich verteilt blieben. Ein, im historischen Maßstab gesehen, hohes Maß an sozialer Absicherung wurde auch auf die am schlechtesten gestellten Teile der Lohnabhängigen in den Kernländern ausgedehnt. Seit Mitte der Siebziger Jahre freilich werden diese Zugeständnisse auch in den Metropolen selbst allmählich zurückgedreht. 

Der Kern des imperialistischen Verhältnisses ist also ökonomischer und nicht militärischer Natur. Der militärische Aspekt ist lediglich die Form, in welche die Absicherung dieses Zusammenhangs allerdings jederzeit zurückfallen kann. Des Pudels Kern aber ist, dass die Ausbeutung - die von Menschen wie jene von belebter und unbelebter Natur - im Weltmaßstab unterschiedliche, differenzierte Niveaus aufweist. Dabei stehen sich nicht "imperialistische" und andere Länder, oder anders ausgedrückt: "Nord" und "Süd", jeweils als monolithische Blöcke gegenüber - sondern auf beiden Seiten sind es soziale Klassen, die in eine transnationale Produktions- und Wertschöpfungskette eingebunden sind. Ihre globale Ausgestaltung ist nach wie vor die sicherste Garantie dafür, dass das kapitalistischen Klassenverhältnis, das sich darunter verbirgt, unerkannt und damit stabil bleibt.

Denn nicht nur, dass in den privilegierten Kernländern ein bedeutender Teil der abhängig Beschäftigten, auf vielleicht unbewusste Weise, von dieser Differenzierung der Lebensverhältnisse - auf relative Weise - profitiert. Und sich teilweise, im Falle einer Absenkung ihres Lebensniveaus, auf die Seite der Verteidigung des bereits erreichten Standards und gegen den "Ansturm der Armen" zu schlagen droht - rechtsextreme Parteien gewinnen auch unter abhängig Beschäftigten an Sympathisanten und WählerInnen, wie sich in Frankreich oder Dänemark ablesen ließ. Nein, hinzu kommt, dass auch in den dabei schlechter abschneidenden Gesellschaften auf anderen Territorien ebenfalls eine verzerrte Sichtweise die Erkenntnis des zugrunde liegenden Ausbeutungszusammenhangs verdrängt. Demnach gilt die Schlechterbehandlung den ärmeren Bevölkerungen beispielsweise deswegen, "weil wir Muslime sind" und weil (wahlweise) "die gottlos gewordenen Gesellschaften" oder auch "die Christen und die Juden" darauf trachten, "unsere Religion zu vernichten". Eine identitätspolitisch verzerrte Sichtweise - die beispielsweise durch die islamistischen Strömungen propagiert wird - droht so die Wahrnehmung und Bekämpfung des konkreten Ausplünderungsverhältnisses zu ersetzen. Und letzteres zugleich zu verewigen. Denn auch unter diesen Bedingungen kann die weltweit wirksame Ausbeutungsbeziehung fortexistieren. Die militärische Form der Imperienbildung, die direkte Kontrolle fremder Territorien durch Hissen der eigenen Flagge und Stationierung der eigenen Armee sowie Verwaltung charakterisierte vor allem den imperialistischen Kapitalismus der Periode zwischen 1880 und 1914. Es ist wahr, dass diese Erscheinungsform seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts allmählich durch Formen der indirekten Kontrolle ehemals politisch beherrschter Territorien abgelöst worden ist.

Das Elend wird jetzt besser durch "eigene" Eliten dieser Länder verwaltet, denn dadurch braucht sich das politische Personal der ehemaligen Kolonialmetropolen nicht länger die Hände durch direkte Herrschaftsausübung schmutzig zu machen. Die Bevölkerungen der ökonomisch abhängigen Länder schneidet damit mitunter noch schlechter ab als davor. Und ihre Ausbeutung kann jetzt durchaus unter identitätspolitischen Vorzeichen, im Rahmen der Legitimationsideologie "ihrer" Eliten, stehen. Das ökonomische Gefälle zwischen ehemaligen Metropolen und ehemaligen Kolonien oder unterworfenen Territorien wird dadurch mitnichten aufgehoben. Unter der Kolonialverwaltung dereinst auf eine enge Spezialisierung, im Rahmen inter-imperialer Arbeitsteilung, zugeschnittene Ökonomien beispielsweise in Afrika hängen mitunter in hohem Maße von den Exporterlösen einiger weniger Rohstoffe oder Agrarprodukte ab. Nach Angaben der französischen Wirtschaftszeitung Les Echos aus dem Jahr 2002 hat der afrikanische Kontinent seit Ende der Siebziger Jahre von jedem Dollar "Hilfe" für seine Ökonomien - und es gäbe viel über diese "Hilfe" zu sagen, die oft bestehende Abhängigkeiten noch verstärkt hat - "50 Cents infolge der Verschlechterung der terms of trade verloren". Und nach Angaben von Philippe Hugon, des Autors von L' économie de l' Afrique, sind im Afrika südlich der Sahara (wobei die höher entwickelte Republic of South Africa ausgenommen ist) gerade einmal eine Million Menschen im industriellen Sektor beschäftigt. (FUSSNOTE 4). Eine lächerliche Zahl für einen rohstoffreichen und -exportierenden Kontinent.

Es ist Unsinn, diesen internationalen Ausbeutungszusammenhang mittels eines abstrakten Kapitalismusbegriffs bezeichnen zu wollen - so, als ob Käufer und Verkäufer sich auf gleichförmige Weise in einem nationalen wie einem internationalen Rahmen gegenüber stehen würden. Die Rede ist natürlich von Kapitalismus. Aber dieser Kapitalismus, der abstrakt als Beziehung zwischen Käufer und Verkäufer der Ware Arbeitskraft gefasst werden kann, ist durch die geschilderten Phänomene ein für allemal historisch ausgeformt und überformt.

Imperialismus - oder einfach Kapitalismus?

Dabei stellt sich allerdings noch die Frage, warum man dann einen speziellen Begriff wie jenen des Imperialismus wählen soll, wo die Entwicklung des Kapitalismus doch nicht erst seit gestern oder dem späten 19. Jahrhundert, sondern bereits seit der Renaissance an seine Internationalisierung, an "Entdeckungen" und koloniale Eroberungen, an Plünderungen und Sklavenhandel gebunden ist. Tatsächlich, so ließe sich einwenden, hat die Benutzung eines eigenen Begriffs dann keinen Sinn mehr, wenn das, was er aussagen soll, sich nicht auf eine bestimmte Phase in der Geschichte des Kapitalismus eingrenzen lässt Der Einwand ist bedenkenswert, allerdings sollte ein bedeutender Umstand nicht übersehen werden: Die internationalen Auswirkungen der kapitalistischen Entwicklung betrafen in früheren historischen Perioden regelmäßig fast nur die BewohnerInnen der unmittelbar (etwa durch koloniale Plünderungszüge) betroffenen Länder einerseits, das an der Organisierung des kolonialen Raubs beteiligte - militärische - Personal und die davon unmittelbar profitierenden sozialen Schichten in den Ausgangsländern andererseits. Im spätfeudalen Spanien des 16. Jahrhunderts beispielsweise änderten die Eroberungszüge der Krone in Südamerika wenig an der Lebenssituation der bäuerlichen Bevölkerung, die nach wie vor der Herrschaft von Grundherren, Kirche und Inquisition ausgeliefert blieben. In einem umfassenden Handbuch, das die Strukturen und Praktiken des Kolonialismus in unterschiedlichen Ländern untersucht und vergleicht, wird die spanische Kolonialisierung im späteren Lateinamerika als une colonisation d' Ancien Régime bezeichnet. (FUSSNOTE 5) Der Begriff des Ancien Régime bezieht sich dabei auf die Verhältnisse im Frankreich vor der bürgerlich-liberalen Revolution von 1789, also auf Zustände feudaler Herrschaft unter dem Mantel einer Monarchie, die - mitsamt ihrem juristischen Rahmen, wie die Autoren herausarbeiten - auf das unterworfene Südamerika ausgedehnt wurden. 

Ab dem 18. Jahrhundert und mit dem britischen oder französischen Kolonialismus löst die Bourgeoisie tendenziell die alten, feudalen Schichten als Träger und Hauptprofiteure der Kolonialpolitik ab. Vor allem aber tritt ab dem späten 19. Jahrhundert eine wesentliche Veränderung ein: Die gesellschaftlichen Auswirkungen der Kolonial- und internationalen Wirtschaftspolitik betreffen nicht mehr länger nur die unmittelbar daran beteiligten, herrschenden Schichten oder Klassen, sondern zeitigen ihre Rückwirkungen auf die innergesellschaftlichen Verhältnisse in den wirtschaftlich dominierenden Staaten. Ab dieser Phase kann man, um die daraus resultierenden Verformungen und Verzerrungen der Klassenbeziehungen zu charakterisieren, von Imperialismus - als besonderer historischer Ausformung des Kapitalismus - sprechen.

Notwendige Aktualisierung des Imperialismusbegriffs

Nach dem Einschnitt des Zweiten Weltkriegs hat sich die Ausgangssituation in den entwickelten kapitalistischen Zentren dann erneut geändert. Aufgrund des zeitweisen Legitimätsverlusts des Kapitalismus in strategisch wichtigen Ländern, unter anderem aufgrund der Rolle des nationalen Kapitals im faschistischen Europa bzw. unter der deutschen Besatzungsherrschaft - beispielsweise sind sowohl in Frankreich als auch in Italien unmittelbar nach 1945 die Kommunistischen Parteien die jeweils stärkste politische Kraft. Aber auch aufgrund der drohenden Präsenz eines gegnerischen politischen Lagers, in Gestalt der UdSSR und ihrer Satellitenstaaten. Diese Faktoren drängen den entwickelten Kapitalismus dazu, in seinen Kernländern - in denen (neben der ökonomischen Macht, die in privaten Händen bleibt) demokratische Formen der politischen Macht aufrecht erhalten werden, da diese höchste Stabilität sichern - soziale Rahmenbedingungen zu garantieren, die dem größten Teil ihrer Einwohner zu gute kommen. Dadurch wird der Binnenkonsum in den Metropolenländern zum wichtigsten Zugpferd der Produktion, mithin der kapitalistischen Akkumulation. Zwar baut dieses, nunmehr stärker auf den jeweiligen Binnenmarkt zentrierte, politisch-ökonomische "Modell" auf dem historisch "erwirtschafteten" Sockel imperialistischer weltwirtschaftlicher Beziehungen auf, und ist in gewissem Sinne als "Blüteform" des - zuvor nur partiell entwickelten - Imperialismus zu bezeichnen. So stehen ihm relativ billige Rohstoffe aus den ehemaligen Kolonien zur Verfügung, die zwar oft ihre politische Unabhängigkeit erreicht haben, aber in der Mehrzahl der Fälle ökonomisch auf den (Export-)Handel mit der früheren Metropole aus- und zugerichtet bleiben. Dennoch macht das Volumen des Austauschs - Import wie Export - mit den Ex-Kolonien und den ökonomisch abhängigen Ländern auf quantitativer Ebene in dieser Phase nur einen geringen Anteil an der "Wirtschaftsleistung" der entwickelten Kernländer des Kapitalismus aus.

Freilich liegt dieser Erscheinung auch die Deformation der Weltmarktpreise für bestimmte Rohstoffe und Produkte zugrunde, die ihrerseits das imperialistische Grundverhältnis widerspiegelt. Denn der geringe Verkaufspreis (also Tauschwert), den letztere auf dem Weltmarkt erzielen, fällt weit hinter die wirkliche Bedeutung dieser Produktionsfaktoren für die entwickelte kapitalistische Ökonomie (also ihren Gebrauchswert) zurück. Allerdings wird die ungleiche ökonomische Entwicklung zum Selbstläufer: Das bedeutet, dass selbst in jenen (neuen) Sektoren, wo die Wertschöpfung nicht auf der Zulieferung billiger Rohstoffe aus ehemaligen Kolonien und ihrer Weiterverarbeitung in den Metropolen beruht, eine dauerhafte Abkoppelung von Teilen der "Peripherie" von den Entwicklungsmöglichkeiten des "Zentrums" stattgefunden hat. Das bedeutet, dass der einmal errichtete Akkumulationssockel in den westlichen Industrieländern als Grundlage der Entwicklung neuer Produktions- oder Dienstleistungszweige dienen kann, die - auch wenn sie nicht unmittelbar auf einer "Entreicherung" der in der Weltwirtschaft "peripheren" Länder beruhen, sondern auf einem hohen Anteil an Informationsverarbeitung und "immaterieller" Produktionsfaktoren - durch letztere kaum oder nicht eigenständig entwickelt werden können. Oder jedenfalls nicht auf vergleichbarem Niveau, was dazu führt, dass die entsprechenden Wirtschaftszweige diese Länder allenfalls als "verlängerte Werkbänke" (oder Programmierwerkstätte) aufgrund ihrer geringeren Lohnkosten nutzen.

In jüngerer Zeit hat das als "Globalisierung" beschriebene Phänomen eine Reihe von Veränderungen in der internationalen Arbeitsteilung mit sich gebracht. Früher waren die Ökonomien der kapitalistischen Kernländer weitgehend steuerungsfähig, während jene der ehemaligen Kolonien einseitiger Abhängigkeit unterlagen.

Noch vor einem Jahrhundert wurden überwiegend Rohstoffe in die Metropolen importiert, und in den dort konzentrierten Industrien verarbeitet. Heute, vor allem seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts, jedoch werden zahlreiche Industriezweige aus den Ex-Metropolen ausgelagert, um vor allem die gering qualifizierten Tätigkeiten woanders verrichten zu lassen. Im Zuge einer neu ausgestalteten transnationalen Arbeitsteilung wächst die Interdependenz, der nunmehr auch die höher entwickelten kapitalistischen Ökonomien unterliegen und die Handlungsspielräume nationaler Politik - und damit die Möglichkeiten eines eventuellen sozialen Reformismus - beschränkt. Das internationale Wirtschaftssystem lässt sich nicht mehr als binäres Gegensatzpaar von Zentrum und Peripherie beschreiben, sondern eher als Leopardenfell mit - auf manchen Kontinenten stärker, auf anderen weniger stark konzentrierten - Inseln höherer Entwicklung und breiten Zonen tieferen Entwicklungsstands. Manche besser ausgestatteten Inseln finden sich mittlerweile auf dem lateinamerikanischen oder asiatischen Kontinent - mit aller extremen Krisenanfälligkeit, die sich etwa mit der Asienkrise 1997/98 gezeigt hat, die in der Härte ihrer Auswirkungen die in den europäischen und nordamerikanischen Metropolen bekannten, sozialen Krisenphänomene sichtlich übertraf.

Nicht übersehen werden sollte aber, dass der industrielle Entwicklungsboom etwa in ostasiatischen Ländern in hohem Maße durch Kapitalimport aus den Zentren der imperialistisch strukturierten Weltökonomie hevor gerufen wurde, um bestimmte Charaktermerkmale dieser Zone zu nutzen, etwa die Präsenz autoritärer Regime und geringe Lohnkosten. Der (kurzfristige) Abzug der solcherart angelagten Kapitalien ruft jedoch einen Krisenschock hervor, wie er in den Krisen der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts - in Mexiko oder Ostasien - aufrat. Es ist derzeit kaum denkbar, dass die international operierenden Kapitalien auf ähnliche Weise aus der gesamten EU-Zone abgezogen werden, um etwa ihre Hauptquartiere in Indonesien zu beziehen. Denn auch wenn Südkorea oder Indonesien keine Rohstofflieferanten, sondern Industrieproduzenten sind, spielen diese und vergleichbare Länder nicht dieselbe Rolle in der Weltwirtschaft wie die "klassischen" Metropolenstaaten: Sie führen nicht den Ton in internationalen Finanzinstitutionen (wie dem IWF oder der Weltbank) an, die einer Reihe von Ländern Strukturvorgaben für die Entwicklung ihrer Ökonomien diktieren; sie können keine militärische Erzwingungsmacht gegenüber den Kernländern geltend machen.

Umgekehrt breiten sich auch die Armutszonen etwa im höher entwickelten Nordamerika aus. Und seit dem Ende des Kalten Krieges wächst auch die Zahl der "abgeschriebenen" Landstriche, die nicht einmal mehr ausgeplündert werden - etwa, weil nichts mehr zu holen ist - und die, als abschreckendes Beispiel, einem hoffnungslosen Chaos überlassen werden. Oder in denen man gerade einmal eine Ordnungsmacht rund um die Bergwerkszonen aufrecht erhält, wie in Sierra Leone oder zeitweise in den beiden Kongo-Staaten. 

Als vorläufiges Fazit lässt sich festhalten: Selbstverständlich hat sich seit Lenins Zeiten vieles geändert. Aber auch, wer den Kapitalismus beschreiben will, muss seit Marxens Ära eine Reihe von Veränderungen in seinen konkreten Erscheinungsformen zur Kenntnis nehmen. Es ist in jedem Falle blanker Unsinn, die Theorien solcher Autoren als eine Form von "Heiliger Schrift" zu benutzen, aus denen - mit ein wenig Interpretationshilfe - eine Beschreibung der heutigen Realität ablesbar sein soll. Mit den berüchtigten "Klassikerzitaten" ließ sich bekanntlich in der Vergangenheit, in der Praxis autoritärer Staaten oder auch nicht minder autoritärer Politsekten, so ziemlich jedes gewollte Ergebnis beweisen, wenn man nur den passenden Auszug heraussuchte und entsprechend zurecht schnitt. Eine neue Version der Bibel oder des Koran zu schreiben, kann aber gar nicht in der Absicht marxistischer Autoren gelegen haben. Allenfalls konnte es darum gehen, ein Analyseinstrument zur Verfügung zu stellen, das in jeder geschichtlichen Phase neu auf die jeweils veränderten Verhältnisse Anwendung finden kann.

Imperialismus oder Globalisierung?

Seit einigen Jahren erhebt ein neuer Begriff Anspruch darauf, einen Schlüssel für das Verständnis weltwirtschaftlicher und -politischer Zusammenhang zu liefern. Oft wird er gar benutzt, als liefere er aus sich selbst heraus die Erklärung für eine Vielzahl internationaler, aber auch lokaler sozialer Entwicklungen. Denn während der Begriff des Imperialismus grundsätzlich erklärungsbedürftig und an ein konzeptuelles Verständnis des dominierenden ökonomischen Systems gekoppelt ist, kann jener der "Globalisierung" vorgeblich für sich selbst stehen - und alle vermeinen zu wissen, wovon die Rede ist.

Mitunter wird er durch die wirtschaftlichen oder politischen Eliten als Legitimation für, angeblich aufgrund des "objektiven Prozesses der Globalisierung" unvermeindliche, ökonomische Entscheidungen - wie etwa im Falle von Massenentlassungen und betriebsbedingten Kündigungen, im Kontext von Veränderungen der internationalen Arbeitsteilung - herangezogen. Auch hierin liegt ein Unterschied zum Gebrauch des Konzepts "Imperialismus", dem gewöhnlich eher eine kritische, ja denunziatorische Note anhaftet (mitunter mit moralischem Überschuss, der die analytische Kategorie hinter einem Überschwang an Empörung verschwinden lässt).

Auch KritikerInnen der herrschenden Weltordnung haben sich in vielen Fällen den "neuen" Begriiff als vermeintliche Generalerklärung zu eigen gemacht. So bezeichnen sich Initiativen und Mobilisierungen, die den Umgang mit den Kontinenten Asien, Afrika und Lateinamerika oder weltwirtschaftliche Vorgänge (wie das Voranschreiten von Privatisierungen und den Abbau der Sozialsystemen vielerorts) anprangern, seit den späten Neunziger Jahren regelmäßig selbst als "globalisierungskritische" oder "Antiglobalisierungs"-Bewegung. In Frankreich hat sich allerdings in neuerer Zeit eher die Selbstdefinition als altermondialistes (im Sinne des Eintretens für eine "andersartige Globalisierung", also mondialisation alternative) für diese Bewegungen durchgesetzt. Eine Begrifflichkeit, die mir deutlich sympathischer ist, weil sie den Anspruch beinhaltet, internationalistisch zu sein und zu bleiben - und keinen nationalistischen oder identitätspolitischen Bezugsort, gegen einen als Bedrohung wahrgenommenen Rest der Welt, zu verteidigen.

Dennoch wirft die Benutzung des Interpretationsschemas analytische Probleme auf. Zunächst einmal fällt die große theoretische Willkür auf, mit der die Terminologie auch durch die Kritiker eingesetzt wird. Der Pulizist Thomas Ebermann hat dazu einigende treffende Bemerkungen veröffentlicht: "Große Uneinigkeit besteht, wann' s los ging mit der Globalisierung. Einige neigen zum Jahr 1990 (Wegfall der Blockkonfrontation), andere eher zur Mitte der Siebziger Jahre, wieder andere gehen sehr viel weiter zurück und sprechen von ' der sehr Jahrhunderten schon laufenden Globalisierung'  (Carl Amery). (...) Jedenfalls ist, wenn man trotz aller Pluralität eine gemeinsame Klammer sucht, Globalisierung eine ziemlich üble Angelegenheit -- dachte ich bis vorgestern. Da fiel mir der Aufruf von attac zur Demonstration in Köln (...) in die Hände. Hier heißt es nun: ' Wir wollen eine Globalisierung für alle' . Ich bin verzweifelt..." (FUSSNOTE 6) 

Diese Schwierigkeit, in kritischer Absicht genau zu bestimmen, was Globalisierung sei und wann sie wirklich begonnen habe, rührt nicht von ungefähr. Sie entspricht dem konzeptlosen, inhaltsleeren Charakter der Begrifflichkeit selbst. So wird die "Globalisierung", im heute gebräuchlichen Sinne, in der Mehrzahl der Fälle als ein neuartiges Phänomen des späten 20. Jahrhunderts dargestellt - vor dem Hintergrund der Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Doch im lateinamerikanischen Falle war die "globalisierte" Natur der Wirtschaftsbeziehungen des Kontinents im 16. und 17. Jahrhundert wohl stärker ausgeprägt als heute, wo die dortigen Binnenmärkte ein gewisses Maß an Produkten absorbieren. Auch für den afrikanischen Kontinent ist die Einbindung in eine transkontinentale Ökonomie seit dem 16. Jahrhundert eine greifbare Realität. Sie basierte zunächst auf dem Sklavenhandel - gleichzeitig der Akkumulationssockel, auf dem westeuropäische Ökonomien aufbauten - und später auf der Ausplünderung seiner Bodenschätze. Von einer Entwicklung hin zur "Globalisierung" zu sprechen, die nach gängiger Vorstellung diese - bisher durch ihre Abgeschnittenheit von modernen weltwirtschaftlichen Strukturen unterentwickelt gebliebenen - Länder jetzt erst erreiche (und ihnen auf Dauer Nutzen bringen werde)  ist vor diesem Hintergrund blanker Unsinn. Denn bezogen auf den afrikanischen Kontinent lässt sich feststellen, dass dessen Ökonomie bereits heute stärker "globalisiert" ist als jene der am höchsten entwickelten Länder - legt man jedenfalls den Anteil des Außenhandels am Gesamtsozialprodukt zugrunde. Nach Zahlenangaben des argentinischen Ökonomen Claudio Katz beträgt dieses Verhältnis für die afrikanischen Länder im Durchschnitt 45,6 Prozent, jene des europäischen Kontinents 13,8 Prozent und im Fall der USA 13,2 Prozent. (FUSSNOTE 7) 

Diese Anteile widerspiegeln einerseits einen höheren Binnenkonsum der Einwohner Westeuropas und Nordamerikas, andererseits aber auch den geringen Tauschwert (bei gleichzeitig hohem Gebrauchswert), der den Produkten der afrikanischen Länder zuerkannt wird. Darin wiederum spiegelt sich die geringe Anerkennung der gesellschaftlichen Arbeit, die auf diesem Kontinent verrichtet wird, wider - vor dem Hintergrund einer jahrhundertelangen Geschichte. In jedem Falle aber widersprechen sie der These einer bisher nur geringen "Öffnung" dieser Ländern für eine transnationale oder -kontinentale Ökonomie.

In ihrem Buch Globalization unmasked (FUSSNOTE 8) stellen zwei nordamerikanische Autoren die Konzepte von Imperialismus und Globalisierung auf über 250 Seiten einenander gegenüber - Henry Veltmeyer ist kanadischer Soziologieprofessor, James Petras sein emeritierter Kollege, der seit einigen Jahren mit der Landlosenbewegung in Brasilien zusammen arbeitet und in Lateinamerika weit bekannter sein dürfte als in den USA. Voraus geschickt sei, dass James Petras in jüngerer Zeit auch durch kritikwürdige Äußerungen von sich reden gemacht hat, in denen er den israelisch-palästinensischen Nahostkonflikt durch das Raster eines klassischen Kolonialkonflikts - mit den USA als kolonialer Metropole - (verkürzt) zu interpretieren suchte. Dabei tätigte er, bei der Suche nach den Motivationen der US-Eliten, auch einige Äußerungen, die Verschwörungstheorien über die angebliche Macht einer "jüdischen Lobby" in den USA zwar nicht selbst verbreiten, aber ihnen doch zumindest Vorschub leisten können. (FUSSNOTE 9) Kritik daran ist berechtigt, freilich nimmt sie anderen Ausführungen und Analysen des Autors - etwa über die weltwirtschaftliche Rolle Nordamerikas - nichts von ihrer Aussagekraft und Triftigkeit.

In kondensierter Form fassen Petras und Veltmeyer ihre Gegenüberstellung der beiden Konzepte folgendermaßen zusammen: Erstens streiche das Konzept der Globalisierung die "Interdependenz der Länder", im Zuge eines Anwachses der Austauschbewegungen, und die - theoretisch auf jeden Fall - auf allen Seiten verteilten Nutzeffekte heraus. Jenes des Imperialismus betone, im Gegenteil, das Element der strukturellen Ungleichheit, die sich verschärfe und nicht im Abbau sei. Nutznießer der (sich verändernden) internationalen Arbeitsteilung seien "imperialistische Staaten, multinationale Firmen und Banken". Hingegen seien die strukturell abhängigen Länder oftmals an eine begrenzte Zahl nationaler Märkte - jene der am höchsten entwickelten Länder - angebunden und nur mit einer begrenzten Spannbreite von (Export-)Produkten in eine globale Ökonomie integriert.

Zum Zweiten liefere das Konzept des Imperialismus, nicht aber jenes der Globalisierung eine präzise Vorstellung von den gesellschaftlichen Akteuren, welche die aktuelle Entwicklung vorantreiben. Letzteres rekurriere vor allem auf abstrakte, subjektlose Tendenzen, wie "die Marktkräfte" und die angebliche "technologische Revolution", die in Wirklichkeit nur veränderte Instrumente liefert. Hingegen betone die Imperialismuskritik die Rolle der Wertschöpfung und der Akkumulation durch das - in einigen Ländern am stärksten konzentrierte - Kapital. Zum Dritten ließe sich die These einer subjektlosen, sich über den gesamten Planeten ausbreitenden "Globalisierung" nicht verizifieren, sofern man die Richtung der "Flüsse" heranziehe. So seien die Ausrichtung der Investitionsflüsse, aber auch die Richtung des Anwachsens von Einkommensgefällen in dieser Hinsicht ein eindeutiges Dementi. Auch die Nutzung militärischer Instrumente, die im Notfall den wirtschaftlichen Tendenzen zu ihrer Durchsetzung verhelfen soll, erfolge in höchst asymmetrischer Weise: "Die Interventions-Bewegung verläuft in einer nur Richtung, von den imperialistischen Zentren hin zu den dominierten Länder."

Diesen Ausführungen der beiden Autoren ist zuzustimmen. Hinzuzufügen wäre, dass - aufgrund der im Prinzip subjektlosen Natur der, als objektiver Prozess beschworenen, "Globalisierung" - diese Theorie im Kern einen fatalistischen Charakter hat, der auf eine Hinnahme eines vermeintlich nicht zu vermeidenden, in der Technologie begründeten Prozesses hinausläuft.

Jene, die keine solche Fatalität anerkennen wollen, sondern die Veränderbarkeit der ökonomischen und politischen Weltordnung einklagen, denunzieren im Gegenzug die neoliberale Ideologie als vorgeblichen Motor. Der "neoliberale Virus", so die bei einem Teil der französischen Globalisierungskritiker bzw. altermondialistes geläufige Anklage, habe in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts die Festplatte der nationalen Politiken in einigen bestimmenden Ländern infiziert - seitdem sei es zu sozialen Funktionsstörungen gekommen. Dem lässt sich entgegen halten, dass die Formveränderungen der herrschenden Welt(wirtschafts)ordnung kein Anlass dafür sein können, einem uralten Idealismus zu verfallen, demzufolge irgendwie vom Himmel gefallene Ideen den Lauf der gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmen. Jene unter den Globalisierungs-Kritikern wiederum, die die radikalste Kritik üben, aber ihren Gegenstand zugleich vom "klassisch" verstanden Imperialismus ablösen wollen, rekurrieren oft auf "die Finanzmärkte" als wesentlichen Motor der jüngsten weltwirtschaftlichen Verschiebungen. Aber egal, ob deren Bedeutung zugenommen hat oder nicht - ein spekulativ am Finanzmarkt angelegtes Kapital muss zuvor aus der materiellen Produktion entnommen worden sein, d.h. ein eventueller Bedeutungsgewinn des Ersteren widerspiegelt notwendigerweise ein zuvor (!) verändertes Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit in der "realen" Produktionssphäre und im Weltmaßstab. Verselbständigt sich die Sichtweise vom "Finanzkapital" als handelndem Akteur, kann sie hingegen allerhand Verschwörungstheorien den Weg ebnen.

Imperialismus oder Empire?

Vor dem Hintergrund der intellektuellen Mode, die durch die verschiedenen Globalisierungs-Diskurse geprägt ist, haben verschiedene TheoretikerInnen - etwa in Frankreich Odile Castel, die von "Ultraimperialismus" spricht und einen zunehmend von Staaten (und Kontinenten) abgelösten, weltweiten Kapitalismus meint - Thesen bezüglich einer weitgehend transnationalisierten Weltordnung entwickelt.

Die mit Abstand bekannteste Illustration der "transnationalistischen" These bildet das Werk Empire von Antonio Negri und Michael Hardt. Hier wird das Gemälde eines "deterritorialisierten" ökonomisch-politischen Weltsystems entworfen, das kein Zentrum (und damit keine Peripherie) kennt und durch eine globalisierte Elite gelenkt werde. Zwar ziehen die Autoren mitunter Elemente und Institutionen der US-Politik als Anschauungsbeispiele heran, doch betonen sie, das von ihnen beschriebene "Empire" sei mitnichten identisch mit der Macht der USA - sondern stelle eine Struktur planetaren Maßstabs dar, die möglicherweise auf alten Institutionen der US-Staatlichkeit aufbaue. An anderer Stelle konstatieren die beiden Verfasser, es bestehe eine Tendenz zur Herausbildung einer neuen (internationalen) Rechtsordnung, die ihrerseits durch die us-amerikanische Verfassung als Vorbild "inspiriert" sei und die sich mittels der Übertragung von Souveränitätsrechten an die Organisation der Vereinten Nationen realisiere. (FUSSNOTE 10)

Dazu lieferten die dramatischen internationalen Ereignisse zu Anfang des Jahres 2003 gleich das passende Dementi hinterher: Um ihren seit längerem geplanten Krieg im Mittleren Osten zu führen, setzte die US-Außenpolitik sich schlicht über die UN hinweg, nachdem die hinhaltenden Widerstände anderer Staatsführungen - darunter jene imperialistischer Kernländer - ihnen die Möglichkeit zu einer Legitimierung ihres Handelns durch die UN vorläufig versperrt hatte. Zugleich ließ sich am Verhalten der untereinander rivalisierenden, als imperialistische zu qualifizierenden Staaten ablesen, wie quicklebendig die "zwischen-" oder "innerimperialistischen Widersprüche" nach wie vor sind - sofern sie nicht an Stärke gewinnen. (FUSSNOTE 11 und 12)

Nicht idealistische Erwägungen, etwa der Einfluss von Humanismus oder Pazifismus auf die Staatsführungen, sondern ein anhaltendes Ringen um die Bewahrung oder Verschiebung von Einflusszonen erklären primär das Auftreten einiger (nicht aller) westeuropäischer Mächte. Flagrant wird das am Verhalten Frankreichs: In den Siebziger Jahren bei der Neu-Aufteilung der politischen und ökonomischen Einflusssphären im Nahen und Mittleren Osten (nach dem Ende der klassischen Kolonialära) zu spät gekommen, hatten die Pariser Eliten dann doch noch in der irakischen Führung den Garanten für eine eigene Einflusszone mit Zugang zu wesentlichen Rohstoffen gefunden. Nachdem ihr Versuch misslang, diese Eigeninteressen durch Wohlverhalten gegenüber der stärkeren Macht USA - im Kontext des Golfkonflikts im Januar/Februar 1991 - zu wahren, entschied Frankreich sich bei der Wiederholung zu Anfang des Jahres 2003 für einen stärker konfrontativen Kurs, den das offizielle Paris jedoch zurück nahm, nachdem der Krieg der US-geführten "Koalition der Willigen" einmal begonnen hatte. Wollte man sich doch nicht völlig von künftiger Einflussnahme, oder wenigstens Geschäftsmöglichkeiten, auch in einem US-amerikanisch/britisch besetzten Irak abschneiden. Dieses - späte - "Wohlverhalten" sowie das französische Votum für die Resolution UN-Sicherheitsrats vom 22. Mai 03, das die neue Besatzungsverwaltung im Irak legitimiert, wurden im Gegenzug belohnt, denn eine Hand wäscht bekanntlich die andere. Bei einem der ersten Verträge im Erdölsektor, die unter US-Kontrolle abgeschlossen wurden, erhielt der französische Konzern Total-Fina-Elf den Zuschlag (laut der Tageszeitung "20 minutes" vom 13. Juni 03).

Auch andere internationale Krisen oder ähnliche Zuspitzungen belegen zumindest, dass das zwischenimperialistische Gerangel um ökonomische und politische Gewichte nicht ohne weiteres der Vergangenheit angehört. Das Beispiel des Genozids in Ruanda zwischen April und Juni 1994 zeigt, wie etwa traditionelle imperialistische Denkmuster aus der Kolonialära des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nach wie vor die Interessendefinition Frankreichs auf dem afrikanischen Kontinent prägen. Kritische Beobachter unter den JournalistInnen verwiesen damals auf den so genannten "Faschoda-Komplex". Er trägt den Namen einer sudanesischen Stadt : In ihr trafen im Jahr 1898 französische und britische Interessen aufeinander, als beide Kolonialmächte daran arbeiteten, entlang territorialer Schnittmuster den Kontinent unter sich aufzuteilen. Die Briten gewannen schließlich im damaligen Sudan die Oberhand. Dieses "Trauma" prägte Akteure der französischen Afrikapolitik so sehr, dass sie im Frühjahr 1994 dem ruandischen Habyarimana-Regime freie Hand ließen, als dieses den Genozid gegen die Tutsi-Minderheit und kritische Angehörige der Hutu-Mehrheitsbevölkerung in die Wege leitete. Warum? Die Rebellen der "Ruandischen Patriotischen Front" stützten sich auf das englischsprachige Nachbarland Uganda, weshalb es galt, einen Einbruch der französischen zugunsten der "anglo-amerikanischen" Einflusssphäre zu verhindern.

Tatsächlich weistbeispielsweise die französische Politik auf dem afrikanischen Kontinent - die ökonomisch motiviert ist, aber zugleich auch symbolische und ideologische Aspekte hat, da sie einen Großmachtstatus mit seinen Attributen zu bewahren hilft - sehr "traditionelle" Formen auf, wie sie im 19. Jahrhundert üblich waren. Die Rolle des Ölkonzerns Elf-Aquitaine (mittlerweile mit Total und Fina fusioniert), die noch in jüngerer Vergangenheit Formen ausgesprochen klassischer Kolonialpolitik annahm, hat dessen früherer Vorstandschef Loïk Le Floch-Prigent 1996 aus der Gefängniszelle heraus geschildert. ( FUSSNOTE 13)

Selbstverständlich nehmen imperialistische Ökonomie und Politik heute keineswegs immer solche "klassischen" Formen an, auch wenn sie weiterhin - neben anderen Formen - fortbestehen. Eine wichtige Formveränderung ist aber zu beobachten: In der Mehrzahl der Fälle - im Unterschied zum Beispiel der Einflussnahme von Elf-Aquitaine auf afrikanische Länder, die anderen Mustern gehorcht - wird die Einbindung in imperialistische Strukturen nicht durch die Bildung oder Bewahrung geschlossener Einflusszonen abgesichert. Während der Imperialismus des 19. Jahrhunderts danach bestrebt war, geschlossene geographische Blöcke unter Kontrolle der jeweiligen Staatsapparate zu formen, sind die heute vorherrschenden Mechanismen vorwiegend ökonomischer Natur. Zugleich bestehen in der Regel keine abgeschlossenen, monolithischen Einflusszonen, sondern die verschiedenen Zusammenballungen imperialistischer Macht liefern sich eine (in Grenzen) freie Konkurrenz innerhalb der stukturell abhängigen Länder oder Regionen.

Um aus dieser wechselseitigen Durchdringung ökonomisch-politischer Einflussfelder erwachsende Konflikte zu lösen, wird konsequenterweise meist nicht mehr an die Staatsmacht (oder ihre polizeiliche bzw. militärische Abteilung) appelliert, sondern an neuartige "Schiedsrichter"-Instanzen wie die Welthandelsorganisation WTO. Die außerhalb der Staatsapparate imperialistischer Kernländer angesiedelten Akteure - aufgefächert in einer außerordentlichen Spannbreite, die von diversen NGOs (Nicht-Regierungs-Organisationen) bis hin zur WTO und den internationalen Finanzinstitutionen reicht, aber auch eigens von Verträgen eingerichtete Handels-Schiedsgerichte umfasst - haben dabei eine eigene Rolle zu spielen. Die Kontrollmechanismen und -institutionen haben sich in hohem Maße diversifiziert und verfeinert. Aber ihre Spielbühne bleibt eine Weltordnung, die von einer grundlegenden, strukturellen und sich weiterhin aus sich selbst heraus erzeugenden Ungleichheit - ökonomischer Natur - geprägt ist. Sollten diese Instrumente sich als unzulänglich erweisen, so bleibt im Hintergrund auch das "traditionelle" Instrumentarium polizeilicher und militärischer Zwangsmechanismen erhalten.

Statt eines Fazits: Imperialismuskritik statt Antiimp-Kleister 

Vor dem Hintergrund des zuletzt Festgestellten muss sogleich ein wichtiges Missverständnis ausgeräumt werden. Denn Teile der politischen Linken verfochten lange Zeit hindurch einen deformierten, verkürzten Imperialismus-Begriff. Das Konzept des Imperialismus wurde von ihnen systematisch mit bestimmten Formen der Durchsetzung imperialistischer Praxis - der Anwendung militärischer Gewalt - identifiziert, die aber nicht den Kern dieses gesellschaftlichen Verhältnisses selbst treffen. Dies ist auch ein Ausfluss der sowjetischen Politik, die Jahrzehnte lang auf bestimmte Sektoren der internationalen Arbeiterbewegung - die Mehrzahl der "traditionellen" Kommunistischen Parteien, aber auch ihnen verbundene Teile der Gewerkschaften - einen erheblichen Einfluss ausübte. In verschiedenen Phasen des Kalten Krieges (der, in wechselnden Perioden, von 1947 bis ungefähr 1987 andauerte) war die UdSSR auf der Suche nach außenpolitischen Bündnispartnern, die über ihren "klassischen" Einflussbereich rund um die jeweiligen KPen hinaus reichten. Dabei wurden auch bürgerliche Nationalisten für sie interessant, namentlich in den deutschsprachigen, aber auch in westeuropäischen Ländern, die man für eine national-neutralistische Linie gewinnen könnte. Die Hauptsorge lautete, möglichst breite Allianzen gegen den strategischen Hauptfeind USA zu mobilisieren, um dessen militärisches Gewicht auf dem europäischen Kontinent zu begrenzen.

Auch aus diesem Grunde wurde Imperialismus oftmals schlicht mit "US-Army" gleichgesetzt. Das war und ist in der Sache doppelt falsch. Einerseits hängt das Wesen von Imperialismus nicht hauptsächlich an militärischer, sondern an ökonomischer Macht. Andererseits, und deswegen, umfasst der Kreis der als imperialistisch zu bezeichnenden Gesellschaften eben nicht nur die USA, sondern auch die führenden Länder des europäischen Kontinents - namentlich die ehemaligen Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien sowie die ökonomische (aber, im derzeitigen Stadium, nicht zugleich auch politische bzw. militärische) Kernmacht Deutschland.

Ein anderes politisches Projekt, das ebenfalls theoretische Verzerrungen hervorgerufen - und noch bis heute hinterlassen - hat, entsprach jener Richtung, die ein Teil der nach dem Mai 1968 (binnen kurzer Zeit) radikalisierten Generation einschlug. Alle Hoffnung auf gesellschaftliche Veränderung wurde auf die "vom Imperialismus unterdrückten Völker" projiziert, da die eigene revolutionäre Ungeduld nicht schnell genug ihre Früchte zu tragen schien. Dabei wurden, im unerschütterlichen Glauben an "kämpfende Völker", die heldenhaft im Kampf zusammenstünden, alle sozialen und politischen Widersprüche innerhalb der solcherart mystifizierten Gesellschaften zugeschüttet. Im spezifisch deutschen Falle wurde dabei oft "durch die Hintertür" eine nationalistische Ideologie wieder eingeführt, in Form eines Identikationswunsch mit "dem Volk" (das faktisch als weitgehend homogener Block aufgefasst wurde), der nur - in einer ersten Zeit - auf einige Tausend Kilometer weit entfernte Projektionsflächen übertragen wurde. 

Die "maoistische Generation" der Jahre 1967 bis 1977 - jene, die autoritäre marxistisch-leninistische und sich auf den Antiimperialismus berufene Organisationen durchlaufen hat - hat sich teilweise genau so verhalten. (FUSSNOTE 14)

Der Begriff des Antiimperialismus, erst recht in seiner abgekürzten Fassung Antimp, bezeichnet vor diesem Hintergrund mehr als nur eine Kritik am Imperialismus, dessen reale Existenz man analysieren kann. Vielmehr kennzeichnet er eine fest definierte politische Strömung, mitsamt ihrer politischen Mythologie. Aus diesem ideologischen Schutt gilt es die Analyse des und die Kritik am Imperialismus freizuschaufeln, soll diesen theoretische Schärfe zukommen. Wer vom Imperialismus reden will, kann deswegen ruhig zum ideologischen Kleister des Antiimp-ismus schweigen, ja er sollte dessen trübe Untiefen unbedingt vermeiden.

Ein drittes Problem - das epochenmäßig mit dem vorausgehend beschriebenen zusammenhängt - ist jenes der Verbindung, die in einer bestimmten historischen Phase zwischen Antiimperialismus und der Ideologie, die einen Staatsgründungsakt begleitete, hergestellt wurde. In dem Zuge, in dem klassische, überholte Formen imperialistischer Kontrolle - durch militärischen und adminstrativen Zugriff auf ein fremdes Territorium, dessen Ausbeutung durch eine Kolonialverwaltung kontrolliert werden sollte - abgelöst wurden, begründeten sich in den 50er, 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts eine Reihe neuer Staaten. In anderen Fällen wurden die bereits zuvor, unter kolonialer Kontrolle, bestehenden Staatsapparate für unabhängig erklärt und ideologisch aufpoliert, dabei den (falschen) Eindruck erweckend, sie seien etwas anderes als Unterdrückungsapparate gegen "ihre" Bevölkerung.

Zwar begleiteten mitunter bedeutende politische Brüche, jedenfalls im Sinne eines tiefgreifenden Austauschs der herrschenden Eliten, diese Staatsgründungen oder -umgründungen. Doch regelmäßig erwies sich die nunmehr "einheimische" Herrschaft über kurz oder lang als nur umso effektivere - weil anfänglich besser akzeptierte - Repressionsstruktur, die zugleich die wirtschaftlichen Zwänge nach "innen" exekutierte, die aus der Einbindung in die äußeren weltwirtschaftlichen Strukturen erwuchsen. Und selbst wenn eine scharfe Rhetorik gegen "die Imperialisten" an den Tag gelegt wurde, wie im Falle des irakischen Baath-Regimes, so verbarg diese doch oftmals nur eine brutale Unterdrückung der "eigenen" Bevölkerung - und zugleich die Tatsache, dass gerade diese Regime die Ressourcen ihrer Länder hemmungslos verschleuderten, um Waffen und Vernichtungstechnologie in den imperialistischen Kernländern einzukaufen. Von einem Ausbruch aus dem weltweit dominierenden, ökonomischen und politischen System konnte somit gar keine Rede sein. Doch gleichzeitig trug die Praxis dieser unsäglichen Regime trefflich dazu bei, den - von ihnen als Legitimationsideologie bemühten - Antiimperialismus zu diskreditieren.

Dabei soll kein völliger Automatismus vorgespiegelt werden: Nicht alle Staatsgründungen im Zuge der Entkolonialisierung führten zu solcherart abscheulichen Regimen, und die Regierungspraxis eines Thomas Sankara im westafrikanischen Burkina Faso ist radikal anders zu bewerten als jene eines Saddam Hussein im Irak. Es gab und gibt keine Fatalität des Negativen.

Dennoch bleibt die Notwendigkeit bestehen, das im Kontext der Entkolonialisierungskriege der Sechziger und Siebziger geschlossene, faktische Bündnis aus Imperialismuskritik und Staats(gründungs)ideologie definitiv aufzukündigen. Einiges muss also neu gedacht, vieles muss überprüft werden. Aber das Konzept des Imperialismus ad acta zu legen, während seine Richtigkeit sich alltäglich überprüfen lässt, dazu besteht kein Anlass.

 

FUSSNOTEN:

(1) Gruppe.Internationale.Webteam (Herausgeber): <the antigerman show must go on!>, Reader zur Debatte, im Internet veröffentlicht als PDF-Datei.

(2) Bereits im Jahr 1975, als die damalige westdeutsche Bundesrepublik noch - nach Aussagen eines damaligen führenden CSU-Politikers - "ökonomisch ein Riese, aber politisch ein Zwerg" war, gab ihr amtierender Außenminister folgende Devise aus: Die BRD müsse und werde mittels ihres ökonomischen Einflusses in Afrika, Asien und Lateinamerika "überall dort einspringen, wo die Amerikaner, Briten und Franzosen aus ihren angestammten Positionen verdrängt werden". Imperialismus ist eben systematisch nicht an den Status klassischer Kolonialmächte gebunden... Zitiert nach: Rainer Falk: Die heimliche Kolonialmacht. Bundesrepublik und Dritte Welt, Köln 1985, S. 19.

(3) W. I. Lenin: Ausgewählte Werke, Band I, Berlin (DDR) 1970, hier S. 763 ff.: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Gemeinverständlicher Abriss. Die Zitate von Friedrich Engels sind auf S. 854 und 855 aufgeführt, Lenin wird von S. 854 zitiert.

(4) Philippe Hugon: Economie de l' Afrique, Paris 2001 (dritte Auflage), hier S. 36.

(5) Marc Ferro (Herausgeber): Le livre noir du colonialisme. XVIe - XXIe siècle: de l' extermination à la repentance, Paris 2003, hier S. 180 - 201.

(6) Zitiert nach: KONKRET 12/2002, S. 15.

(7) Zitiert nach: Correspondance de presse internationale, Septembre 2002. S. 6.

(8) James Petras/ Henry Veltmeyer, Globalization unmasked, Kanada, 2001; im folgenden zitiert nach der französischen Ausgabe: La face cachée de la mondialisation/ L' impérialisme au XXIe siècle, Paris 2002. Die folgenden Zitate (und sinngemäßen Zusammenfassungen) geben die Ausführungen auf den Seiten 39 - 41 wieder.

(9) So in der mexikanischen Tageszeitung El Jornada vom 26. Januar 2003, wo er feststellt, die USA seien "von einer Regionalmacht kolonisiert". In der Ausgabe vom 15. Februar 2003 hat Petras präzisiert, dass er keinesfalls von "einer jüdischen Weltverschwörung" rede, wohl aber von einer "israelischen Lobby in den USA". Seine ursprünglichen Äußerungen weisen in jedem Falle eine starke konzeptuelle Schieflage auf.

(10) Micheal Hardt und Antonio Negri: Empire (französische Ausgabe), Paris 2000, Kapitel III-5 und III-6.

(11) Dies erscheint plausibel, nachdem die Unterordnung diverser Einzel-Imperialismen unter den stärksten aus ihren Reihen, die von der Phase der Systemkonkurrenz sowie des Entkolonialisierungs"schocks" bedingt war, in den Jahren 1989 bis 1991 zu Ende ging. Freilich ist nicht zu erwarten, dass die "innerimperialistischen Konflikte" sich in der Form zuspitzen, die Lenin und Luxemburg zu ihren Lebzeiten diagnostizierten - ein Faktor, der dies sicherlich verhindert, besteht in der Existenz von ABC-Massenvernichtungswaffen.

(12) Zu den Hintergründen der "zwischenimperialistischen" Konflikte vor Ausbruch des Golfkriegs 2003, vgl. vom Verfasser dieser Zeilen: Gallischer Hahn oder Friedenstaube?, in der Ausgabe 03/2003 der Internet-Zeitung trend.partisan http://www.trend.partisan.net/trd0303/t510303.html 

(13) Siehe dazu Le Floch-Prigents "Beichte" im französischen Wochenmagazin L' Express vom 12.12.1996, sowie vom Autor dieser Zeilen: Afrikanische Angelegenheiten, in KONKRET 02/1997.

(14) Dabei landete einige der autoritärsten dieser Gruppen (an vorderster Front die KPD-AO, für "KPD-Aufbauorganisation", auch als "Studenten-KPD" bezeichnet) im Laufe der Siebziger Jahre bei einem ordinären Nationalismus, der sich dann auch auf Deutschland bezog, da dieses ebenfalls als "unterdrückte Nation" wahrgenommen wurde, die sich "gegen die Supermächte USA und UdSSR wehren" müsse.

Editorische Anmerkungen:
Eine Kurzfassung dieses Beitrags erschien in dem Sammelband : "radikal global. Bausteine für eine internationalistische Linke", herausgegeben durch die BUKO (Bundeskoordination Internationalismus) , Verlag Assoziation A, erschienen Ende Mai 2003 (271 Seiten, 16 Euro). Die Langfassung erscheint hier mit Genehmigung der Herausgeber.