Frankreich
Die extreme Rechte und die Streiks


von Bernhard Schmid, Paris

7-8/03
 
 
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Zeiten sozialer Konflikte und gewerkschaftlicher Kämpfe sind schlechte Zeiten für die französische extreme Rechte. Seit jeher ist sie Verfechterin eines ultrakonservativen bzw. reaktionären gesellschaftlichen Projekts, einer strikt hierarchisch aufgebauten Ordnung und der Aufrechterhaltung oder Verschärfung “natürlicher" Unterschiede.

Zugleich aber ist es ihr seit Anfang der Neunziger Jahre gelungen, durch erhebliche soziale Demagogie Teile der enttäuschten und desorientierten, früheren Linkswählerschaft anzuziehen. Damit konnte sie an Wahltagen Punkte sowohl unter den abhängig Beschäftigten wie auch den Arbeitslosen sammeln ­ bis dahin, dass Jean-Marie Le Pen bei der Präsidentschaftswahl im April 1995 unter allen Kandidaten den höchsten Anteil der Arbeiterstimmen erhielt. (Ein Erfolg, der dadurch relativiert werden muss, dass sowohl die Wahlenthaltung als auch die Anzahl der Nicht-Stimmberechtigten ­ mangels Staatsbürgerschaft oder mangels rechtzeitiger Einschreibung auf die Wählerlisten ­ in dieser sozialen Klasse mit Abstand am höchsten ist. Ferner ist diese, an Wahltagen punktuell gegebene Zustimmung nicht an ein hohes Niveau rassistischer Gewalt oder sonstiger "Eigenaktivität" gebunden, wie es - auch ohne enge Anbindung an die Wahlergebnisse rechtsextremer Parteien - im Deutschland der frühen 90er Jahre existierte.) Zugleich behielt die extreme Rechte aber auch eine Stammwählerschaft in Teilen der traditionellen Mittelschichten, des katholisch geprägten Kleinbürgertums sowie im wirtschaftlich aktiven Mittelstand bei.

In gesellschaftlich “ruhigen" Zeiten gelingt es der extremen Rechten, die unterschiedlichen Teile ihres Publikums unter einen Hut zu bekommen ­ indem für jeden Publikumsteil ein eigener Diskurs angeboten wird: Den Armen oder Lohnabhängigen wird mehr soziale Gerechtigkeit versprochen, den Besitzenden wird die Aufrechterhaltung der Ordnung in Aussicht gestellt, den Arbeitslosen mehr Beschäftigung und den mittelständischen Unternehmern weniger soziale Lasten und Verpflichtungen. Diese unterschiedlichen und mitunter gegensätzlichen Versprechungen passen scheinbar zusammen, indem man sie mit einer stets gleichen Begründung verbindet. Alles, was versprochen wird, soll nämlich dadurch realisiert werden, dass man das Auszugebende den “äußeren Feinden" wegnimmt. Nationale Arbeit und nationales Kapital sollen zusammengeschweißt werden, indem man auf Kosten von Einwanderern, “vaterlandslosem Finanzkapital" und bedrohlicher Globalisierung den “Eigenen" Vorrang einräumt.

Doch in Zeiten sozialer Polarisierung und des Aufeinanderpralls unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessen oder Projekte (Solidarität kontra Abwälzung sozialer Risiken auf das Inviduum) zerbricht dieses illusionäre Bündnis. Das Publikum der extremen Rechten, bis in die Reihen der eigenen Wähler und Anhänger, ist versucht, sich auf einer Seite zu positionieren.

Beispiel Streikherbst 1995

So war es im Streikherbst 1995, als alle öffentlichen Dienste Frankreichs in den Ausstand traten ­ es ging unter anderem um eine regressive Reform der Pensionen der öffentlich Bediensteten, die damals abgewendet wurde, und um die Dämpfung der Gesundheitskosten. Damals zeigten 80 Prozent der sozialistischen und über 90 Prozent der kommunistischen, aber nur 20 Prozent der konservativ-liberalen Wählerschaft Solidarität oder Verständnis für die Streiks ­ die FN-Wählerschaft jedoch (mit 54 Prozent Sympathie) war in zwei ziemlich gleich große Hälften gespalten.

Jean-Marie Le Pen und Bruno Gollnisch (die damalige und heutige “Nummer Drei" des Front National) vermieden in ihren ersten Stellungnahmen eine konkrete Positionierung und äußerten sich eher ausweichend, oder gleich vom Thema abkommend. Die soziale Krise sei “nur ein Teil der moralischen Krise der Nation", gab Le Pen damals zu Protokoll, während Parteisekretär Gollnisch erklärte: “Die “kulturelle und ethnische Spaltung in Frankreich ist viel bedeutender als die soziale Spaltung". Das klang in den Augen des breiten Publikums, gelinde ausgedrückt, nicht sehr überzeugend. In der Parteizeitung “National Hebdo" (NH) war im Leitartikel aus der Feder des damaligen Chefredakteurs Alexandre Martin zu lesen: “Man sagt mir, viele Wähler und Sympathisanten des FN haben gestreikt. Ich antworte: Es ist unsere Pflicht, ihnen zu zeigen, dass sie sich in die Falle locken lassen haben."

Dennoch positionierten NH und die rechtsextreme Partei sich letztendlich ­ gegen die “Geiselnahme" der Bewohner des Landes durch die Streiks im öffentlichen Dienst und für die Inhaftierung der “Rädelsführer" in Gestalt der damaligen Gewerkschaftsvorsitzenden Louis Viannet und Marc Blondel. Zwei Monate später allerdings gab der seinerzeitige FN-Chefideologe Bruno Mégret ein vielbeachtetes Interview in ’Le MondeŒ (vom 13.02.1996), indem er erklärte, der FN “unterstütz(e) die sozialen Bewegungen", nur auf andere Weise als die (“archaischen") Gewerkschaften. Der FN versuchte sich damals, durch Begründung eigener Pseudo-Gewerkschaften und “sozialer" Vorfeldorganisationen ­ einer Arbeitslosenvereinigung, einer Mietervertretung im sozialen Wohnungsausbau ­ aus der strategischen Klemme zu befreien und in die Offensive zu gehen. Doch waren diese Versuche, als rechtsextreme “soziale Bewegung" Fuß zu fassen, Ende der 90 er Jahre gescheitert: Die Pseudo-Gewerkschaften waren durch die Justiz verboten worden, nachdem Gewerkschaftsjuristen zuvor ganze Arbeit geleistet und solide Dossiers präsentiert hatten. Und die Spaltung der Partei zwischen Le Pen- und Mégret-Anhängern (1998/99) sorgte für den Verlust an Kadern und Aktivisten, die eine solche Strategie hätten umsetzen können. Die rechtsextremen Parteien reduzierten sich stärker als bisher auf Personen-Wahlvereine.

Die extreme Rechte und die Streiks 2003

In der sozialen Krise 2003 ­ dieses Mal geht es um eine regressive Reform der Renten, die sowohl die Privatindustrie als auch den öffentlichen Dienst betrifft ­ ist die Haltung der extremen Rechten klar: Sie steht dem sozialen Protest absolut feindselig gegenüber. Bereits in einem Interview in “Le Monde" vom 19. April 03 ­ aus Anlass des jüngsten Parteitags in Nizza ­ hatte Le Pen klargestellt, dass es für ihn nicht um eine Verteidigung der Rente mit 60 gehen können, sondern “die Rente mit 70" eingeführt gehöre. Auch in seiner traditionellen Ansprache zum 1. Mai vor der Pariser Oper hatte der FN-Chef wörtlich betont: “In Frankreich muss mehr und länger gearbeitet werden ­ sogar bei den Lehrern". Letztere sind die derzeit am stärksten in den Protesten mobilisierte Berufsgruppe, wobei sie nicht nur gegen die Rentenreform, sondern auch gegen die Sparpolitik im Bildungswesen streiken. Je nach Demo-Termin, stellten die LehrerInnen in diesem Frühjahr zwischen 30 und 60 Prozent der Demonstrierenden. Anlässlich seines Fernsehauftritts am 5. Mai 03 (in der Politikersendung "100 minutes pour convaincre") äußerte Le Pen sich ähnlich ­ ihm selbst stehe, mit demnächst 75 Jahren, der Sinn nicht nach Rente. Und es müsse Schluss damit sein, “dass schon in unseren Schulen der Hass auf die Arbeit gelehrt wird".

In einem jüngsten Kommuniqué (das in NH vom 12. Juni 03 wiedergegeben ist) fantasiert Le Pen in wüster Weise über die Streikfolgen: “Die Streikzüchter im öffentlichen Dienst gehen von der Illegalität zum offenen Aufstand über, Frankreich gleitet in die Anarchie ab." Das ist umso absurder, als der ­ von einigen sozialen Akteuren geforderte ­ Generalstreik nicht stattgefunden hat (u.a. weil bestimmte Gewerkschaftsbürokratien erheblich dazu beitrugen, ihn zu verhindern, darunter insbesondere auch jene der CGT) und der Ausstand im strategisch zentralen Transportsektor ein relativer Misserfolg blieb. Dieselbe Zeitung, NH, hatte in einem Leitartikel vom 29. Mai 03 gewettert: “Es ist hanebüchen, dass diese Gewerkschaften, die gestern noch moskauhörig waren,  ohne bekämpft zu werden, jede Reform verhindern können, die für die Zukunft der Nation lebenswichtig ist.  Wie kann man hinnehmen, dass Gewerkschaften, die aus der Schule der Dekadenz und des Totalitarismus hervorgingen, ihr Gesetz machen können ?"

Damit bietet der FN sich dem ultrakonservativen Teil der französischen Gesellschaft als verschärfendes Korrektiv zur bürgerlichen Rechten an, der ihr Misserfolg bei der Niederringung der Streiks vorgeworfen wird - was allerdings zunehmend weniger mit der Realität übereinstimmt. Damit schneidet die rechtsextreme Partei sich aber zugleich von der Möglichkeit ab, den sozialen Unmut auf ihre Mühlen zu lenken. Allenfalls kann der FN auf eine Niederlage der Protestbewegung, und die damit einhergehende Verbitterung, setzen. Vor allem unter den älteren Generationen, die ja nunmehr als Erste die Zeche der - nicht verhinderten - Renten"reform" zahlen werden, und deren Angehörige oftmals verbittert zu Hause sitzen werden, während jene jüngerer Generationen sich zu sozialen Protesten zusammenschließen können. Eine vorläufige Niederlage ist nunmehr gut möglich, da der Gesetzentwurf nunmehr höchstwahrscheinlich im Juli bei der parlamentarischen Sondersitzung verabschiedet werden wird. Die Streiktaktik, die unter anderem der Apparat der CGT - gegen erhebliche Widerstände an der Basis - durchgesetzt hatte und die aus einer Kette auseinander gerissener, isoliert bleibender Aktionstage und 24-stündiger Streiks besetzt (nach dem Motto: "Nur keinen Generalstreik...") bestand, hat längerfristig zu einer Lähmung der sozialen Bewegung beigetragen. Allerdings scheint den sozialen "Widerständlern" noch lange nicht der Atem ausgegangen zu sein, und viele beteuern, sich für den September bereitzuhalten. Dann wird die neokonservative Regierung den nächsten antisozialen Angriff starten, dieses Mal geht es gegen die Krankenversicherung, deren Aufgaben teilprivatisiert werden sollen.

Die politische Polarisierung im Land, die parallel zu der erheblichen sozialen Polarisierung existiert - aber mit teilweise unterschiedlichen Frontverläufen - ist selbst Grund genug dafür, dass man Interesse am Erfolg der (progressiven) sozialen Bewegungen haben sollte. Nebenbei sei bemerkt, dass die Präsenz der extremen Rechten manchen Akteuren des Establishments den billigen Vorwand liefert, um - im Namen eines "Antitotalitarismus", der jeder gesellschaftlichen Bewegung gegen die herrschende Ordnung den Geruch des Faschismus anheftet - die soziale Kritik abzuschmettern.

Den Anfang machte der neoliberale Ideologe Eric Le Boucher, Redaktionsmitglied bei der Pariser Abendzeitung "Le Monde" (wo es aber auch einige Linke gibt). Am 25./26. Mai 2003 schmierte er folgende so genannte Analyse zusammen: "Ein Scheitern (Anm.: der Regierung) bei einer unabdingbaren Reform" - gemeint ist jene regressive Renten"reform", gegen die am 13. Mai dieses Jahres frankreichweit zwei Millionen Menschen demonstrierten - "wäre ein 21. April auf sozialem Gebiet". Damit zieht er eine Parallele zum Walerfolg des Rechtsextremen Jean-Marie Le Pen bei der Präsidentschaftswahl im Frühjahr 2002.

Der Chef der rechtssozialdemokratischen CFDT, die als einzige größere Gewerkschaft alle rückschrittlichen sozialen "Reformen" konservativer Regierungen seit 1995 im Wesentlichen unterstützt hat, durfte da nicht nachstehen. Bereits als François Chérèque am 5. Juni 2003 auf dem regionalen CFDT-Kongress in der Region Provence-Alpes-Côte d'Azur (in der die Linksopposition innerhalb der CFDT die Mehrheit hält) in Digne-les-Bains wegen seiner Unterstützung für die Renten"reform" scharf kritisiert wurde, zögert er nicht, seine Widersacher mit Anhängern der extremen Rechten zu vergleichen. Am 26. Juni wiederholte er seinen unverschämten Vergleich in einem Interview mit der katholischen Zeitschrift "La Vie": Wenn der Staub der Debatte um die regressive Reform sich erst einmal gelegt habe, tönte Chérèque da, "wird man bemerken, dass die radikale Linke unserem Land Schaden zufügt. Die Gewerkschaften" - fragt sich nur, welche! - "drohen aus diesem Konflikt ebenso angeschlagen hervorzugehen, wie die Politik nach dem 21. April es war." Um mit einer unglaublicher Gleichsetzung von Neofaschisten und radikalen Linken, die wiederum mit den sozialen Bewegung in eins gesetzt werden, fortzufahren. Allein schon, um diese unverfrorene Demagogie abzustellen, bleibt ein Zurückdrängen der extremen Rechten wünschenswert.

Editorische Anmerkungen:

Der Autor stellte uns seinen Artikel zur Veröffentlichung in dieser Ausgabe zur Verfügung.