Die Neufassung der Verteidigungspolitischen Richtlinien für die Bundeswehr
Von der territorialen Verteidigungsarmee zur internationalen Interventionstruppe

Von Lucas Adler

7-8/03
 
 
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Am 21. Mai dieses Jahres erließ Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) eine Neufassung der Verteidigungspolitischen Richtlinien. Darin formuliert die deutsche Regierung ihre militärische Antwort auf die rasanten weltpolitischen Veränderungen seit dem Irakkrieg.

Die Verteidigungspolitischen Richtlinien werden im Planungsstab des Verteidigungsministers erarbeitet und dienen als verbindliche Grundlage für die weiteren Planungen der Bundeswehr. Die bisherigen Richtlinien stammen aus dem Jahr 1992. Die Neufassung schreibt nun fest, was damals eingeleitet wurde: den Umbau der Bundeswehr aus einer territorialen Verteidigungsarmee in eine Eingreiftruppe, die überall auf der Welt eingesetzt werden kann, um deutsche Interessen zu verteidigen.

Die Richtlinien legen großen Wert darauf, dass dies im Rahmen einer selbständigen europäischen Verteidigungspolitik geschehen und gleichzeitig ein partnerschaftlicher Beitrag zum transatlantischen Bündnis darstellen soll. Dabei muss allerdings zwischen politischer Absichtserklärung und militärischer Realität unterschieden werden: Indem das Gewicht der Bundeswehr innerhalb der Nato erhöht und ihre Fähigkeit zum selbständigen Handeln verstärkt wird, entstehen auch die Voraussetzungen, um militärisch unabhängig vom US-Verbündeten oder sogar gegen ihn zu handeln.

Obwohl sich die Bundeswehr zunehmend auf professionelle Kräfte stützt, halten die Richtlinien zumindest vorläufig an der allgemeinen Wehrpflicht fest. Gleichzeitig befürworten sie einen verstärkten Einsatz der Bundeswehr im Inland.

Entwicklung der Richtlinien

Die bisherigen Verteidigungspolitischen Richtlinien wurden am 26. November 1992 vom damaligen Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) erlassen. Ein Jahr nach der Wiedervereinigung formulierten sie den Anspruch der herrschenden Elite, nicht nur wirtschaftlich und politisch, sondern auch militärisch wieder die Rolle einer Großmacht zu spielen.

Der Autor der Richtlinien, der damalige Generalinspekteur Klaus Naumann, bezeichnete militärische Einsätze als "klassisches Mittel der Politik". Als politischen Kern nannten die Richtlinien denn auch die Wahrung und Durchsetzung der "legitimen nationalen Interessen" Deutschlands auf der ganzen Welt, zu denen vor allem die "Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt" sowie die "Einflussnahme auf die internationalen Institutionen und Prozesse im Sinne unserer Interessen und gegründet auf unsere Wirtschaftskraft" gehörten. [1] Im Klartext hieß das nichts anderes, als dass Deutschland das Recht haben sollte, seine wirtschaftlichen und politischen Interessen weltweit auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen.

Damit wurden die letzten Beschränkungen abgeschüttelt, die dem deutschen Imperialismus aufgrund seiner Rolle im Zweiten Weltkrieg auferlegt worden waren. Im August 1945 hatten sich die Siegermächte im Potsdamer Abkommen auf eine Entmilitarisierung und völlige Abrüstung Deutschlands geeinigt. Davon rückten sie allerdings bald wieder ab. Mit Beginn des Kalten Krieges rüsteten beide deutschen Staaten wieder auf. Bereits am 26. März 1954 kam es in der Bundesrepublik als Folge des Korea-Krieges zu einer Grundgesetzänderung, welche die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht wieder erlaubte. Die Aufgabe der Bundeswehr blieb aber auf die Verteidigung des nationalen, bzw. des Nato-Territoriums beschränkt. Bis zur Wiedervereinigung herrschte in allen Parteien Übereinstimmung, dass das Grundgesetz Einsätze außerhalb des Nato-Territoriums ebenso wie Einsätze im Innern strikt untersage.

Die Verteidigungspolitischen Richtlinien von 1992 bedeuteten eine grundlegende Abkehr von dieser Auffassung, für die es keine rechtliche Grundlage gab. Zwei Jahre später zog das Bundesverfassungsgericht nach: Ohne dass der Buchstaben des Grundgesetzes geändert wurde, interpretierte es ihn völlig neu. "Die ‚enge‘ Auslegung des Begriffs der Verteidigung (keine Einsätze ‚out-of-area‘') ist spätestens mit dem BVerfG-Urteil von 1994 politisch und verfassungsrechtlich überholt", heißt es dazu im erläuternden Begleittext zu den neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien. [2]

Bundeswehrsoldaten kamen nun immer häufiger außerhalb der Nato zum Einsatz, erst zu Sanitäts- und Logistikaufgaben, dann auch zu bewaffneten, sogenannten Friedenseinsätzen.

Nach dem Regierungswechsel von 1998 knüpften der frisch gebackene Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), sein Außenminister Joschka Fischer (Grüne) und Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) nahtlos an die Verteidigungspolitik ihrer konservativen Vorgänger an und gingen sogar noch darüber hinaus. Die Militärausgaben wurden erhöht, die Wehrpflicht zu Gunsten hochprofessioneller Spezialeinheiten in Frage gestellt und mit dem Kosovo-Krieg 1999 erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wieder deutsche Soldaten in Kämpfeinsätze ins Ausland geschickt.

Heute unterhält Deutschland mit über 9.000 Soldaten mehr Truppen im Auslandseinsatz als irgendein anderes Land außerhalb der USA. Die meisten Einsatzgebiete liegen dabei - mit Bosnien, dem Kosovo, Mazedonien, Georgien, Afghanistan, Usbekistan, Kuwait, Bahrein, Djibouti, Kenia, dem Horn von Afrika und der arabischen See - bereits außerhalb des Nato-Territoriums. Für eine Armee, die nach dem Buchstaben der Verfassung nach wie vor auf die Verteidigung der eigenen Landesgrenzen beschränkt ist, stellt das schon eine beachtenswerte Leistung dar.

Doch war und ist Deutschland trotz der Aufrüstung der letzten Jahre noch weit davon entfernt, den USA militärisch die Stirn bieten zu können. Daher war die deutsche Verteidigungspolitik seit der Wiedervereinigung stets auch auf eine militärisch eigenständige Europäische Union ausgerichtet, in der Deutschland selbstverständlich eine Führungsrolle spielen soll. Jüngster Ausdruck dieser Bestrebungen sind die Schaffung einer europäischen Armee samt eigenem Hauptquartier in Brüssel.

Angriff wird zu Verteidigung

Diese Militarisierung Deutschlands unter dem Vorzeichen imperialistischer Interessenwahrung wird durch die Neufassung der Verteidigungspolitischen Richtlinien rückwirkend legitimiert und für die Zukunft weiter entwickelt. Die Richtlinien unterstreichen, dass die Landesverteidigung derzeit keine Rolle mehr spiele, und machen die aktuelle Situation der faktisch bereits weltweit operierenden "Armee im Einsatz" zum Ausgangspunkt, um die komplette Bundeswehr auf derartige Einsätze auszurichten.

Da das Grundgesetz die Bundeswehr nach wie vor auf Verteidigungsaufgaben beschränkt, wird der Begriff der Verteidigung kurzerhand neu definiert. Anknüpfend an das BverfG-Urteil von 1994 bemühen sich die Autoren der Richtlinien nun ihrerseits darum, das Recht an die bestehende Praxis anzupassen.

"Nach Artikel 87a des Grundgesetzes stellt der Bund Streitkräfte zur Verteidigung auf", schreiben sie. "Verteidigung heute umfasst allerdings mehr als die herkömmliche Verteidigung an den Landesgrenzen gegen einen konventionellen Angriff. Sie schließt die Verhütung von Konflikten und Krisen, die gemeinsame Bewältigung von Krisen und die Krisennachsorge ein. Dementsprechend lässt sich Verteidigung geografisch nicht mehr eingrenzen, sondern trägt zur Wahrung unserer Sicherheit bei, wo immer diese gefährdet ist." [3]

Hinzu kommt die Betonung der militärischen Abschreckung und Einschüchterung als Vorraussetzung, in der Weltpolitik überhaupt ernst genommen zu werden: "Gleichwohl sind die politische Bereitschaft und die Fähigkeit, Freiheit und Menschenrechte, Stabilität und Sicherheit notfalls auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen oder wiederherzustellen, unverzichtbare Voraussetzung für die Glaubwürdigkeit eines umfassenden Ansatzes von Sicherheitspolitik."[4]

Mit diesen ebenso umfassenden wie schwammigen Definitionen lässt sich jede denkbare militärische Aggression rechtfertigen. Sie unterscheiden sich kaum von der neuen Sicherheitsdoktrin der US-Regierung, die auf Einschüchterung und Abschreckung beruht und das Recht auf präventive Kriegsführung ausdrücklich festschreibt.

Eine zweigeteilte Bundeswehr

Um den Aufgaben nachzukommen, die sich aus dieser Definition von Verteidigung ergeben, sehen die Richtlinien eine faktische Zweiteilung der Bundeswehr vor. Der Wehretat wird völlig umstrukturiert, um die international einsetzbaren Streitkräfte auf Kosten der Landesverteidigungskräfte zu stärken.

In den Richtlinien heißt es dazu: "Der Erhalt und die Verbesserung der militärischen Kernfähigkeiten hat Vorrang. Die diesem Ziel nicht unmittelbar dienenden Einrichtungen und Leistungen der Bundeswehr werden einer kritischen Überprüfung unterzogen." [5] Als Kernfähigkeiten gelten dabei die "internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung - einschließlich des Kampfs gegen den internationalen Terrorismus".

Im folgenden Absatz wird dies weiter ausgeführt: "Die Ausrichtung der Bundeswehr auf ihre wahrscheinlicheren Aufgaben erfordert nach Einsatzbereitschaft und Präsenz differenzierte Streitkräfte. Militärische Kapazitäten für internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung sowie zur Unterstützung von Bündnispartner müssen rasch verfügbar und durchhaltefähig sein."

Ein "angemessenes Dispositiv zum Schutz Deutschlands" soll zwar erhalten bleiben. Es soll aber vorrangig dazu dienen, "im Falle einer sich abzeichnenden Verschlechterung der politischen Lage" die Territorialarmee schnell wieder aufbauen zu können. [6]

Seinen unmittelbaren Ausdruck findet dieses Konzept der "differenzierten Streitkräfte" in den bereits beschlossenen Schließungen von zehn Bundeswehrstandorten in Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen, Bayern und Hessen, sowie der geplanten Streichung von mehreren tausend Soldatenstellen bis 2005. Dadurch sollen eine Milliarde Euro eingespart werden und im Rahmen des bis 2006 auf jährlich 24,4 Milliarden Euro festgelegten Verteidigungshaushalts in die Ausrüstung für internationale Einsätze fließen.

Als Ergebnis stünde dann auf der einen Seite eine mit modernsten Waffensystemen hochgerüstete Eingreiftruppe, die mit eigenen Aufklärungs- und Transportsystemen sehr schnell an jedem Fleck der Erde zum Einsatz kommen kann, auf der anderen Seite bliebe eine kleinen Wehrpflichtigenarmee, die mit einer maroden Ausrüstung in Deutschland bereitgehalten würde.

Stellt man dieses Bild in Zusammenhang mit der seit längerem geführten Debatte um die Beibehaltung der Wehrpflicht, so wird deutlich, warum Bundesverteidigungsminister Struck entgegen vielen anderslautenden Stimmen (vor allem aus den Reihen des grünen Koalitionspartners) auch weiterhin an der Wehrpflicht festhalten will.

In dem Dokument heißt es dazu: "Der Schutz Deutschlands und seiner Bürgerinnen und Bürger einschließlich der Befähigung zur Rekonstitution [damit ist der Wiederaufbau einer territorialen Verteidigungsarmee gemeint; d.Verf.] sowie die eventuelle Unterstützung bei Naturkatastrophen und Unglücksfällen begründen auch künftig - neben anderen Gründen - die allgemeine Wehrpflicht." [7]

Mit "anderen Gründen" ist vor allem die Verankerung der Bundeswehr in der Gesellschaft gemeint, die Struck allerdings sehr einseitig auslegt: "Die Bundeswehr übernimmt mit ihren vielfältigen Aufgaben eine in hohem Maß gesellschaftlich und politisch wichtige Rolle in unserem Land, die den uneingeschränkten Rückhalt verdient. Gleichzeitig entwickelt die Bundeswehr ihr Konzept der Inneren Führung weiter, um es an die neuen Einsatzbedingungen der Streitkräfte anzupassen und die Einbettung der Streitkräfte in die Gesellschaft zu verstärken. Dies gilt entsprechend für die Traditionsbildung und die Politische Bildung." [8]

Es geht dabei also nicht um eine demokratische Kontrolle der Gesellschaft über die Streitkräfte, sondern anders herum, um die bedingungslose Unterstützung der Streitkräfte durch die Gesellschaft. Der unkritische Verweis auf die Konzeption der "Inneren Führung" unterstreicht diese Einstellung zusätzlich, war dieses Konzept doch bisher immer damit verbunden, soldatische Traditionen in die Bevölkerung zu tragen und die Armee zur "Schule der Nation zu machen", und nicht umgekehrt. [9]

Historisch ist die allgemeine Wehrpflicht eine Errungenschaft der Französischen Revolution. Das blutige Handwerk des Krieges war bis dahin von deklassierten und sozial ausgestoßenen Söldnern unter dem Kommando adliger Offiziere erledigt worden. Nach der Revolution wurde die Bevölkerung zu den Waffen gerufen und die allgemeine Wehrpflicht diente als Grundlage zur Verteidigung der jungen Republik gegen die feudale Reaktion. Eine Rückkehr zur Berufsarmee gilt seither als rückschrittlich und politisch reaktionär, birgt sie doch stets die Gefahr der Entwicklung einer von der Gesellschaft abgehobenen Militärkaste in sich. Die speziellen Erfahrungen der deutschen Geschichte sprechen hierzu Bände. Die aus der preußischen Tradition überkommene Militärkaste lebte auch in der Weimarer Republik als "Staat im Staate" fort und spielte eine Schlüsselrolle bei deren Zerstörung.

Doch all diese historischen Erfahrungen scheinen heute vergessen. Die kleine Truppe von Wehrpflichtigen, die in Deutschland stationiert bleibt, soll als Bindeglied dienen, damit die Gesellschaft die weltweiten Interventionen der hochgerüsteten Einsatzstreitkräfte akzeptiert.

Das Bild, das die Verteidigungspolitischen Richtlinien von Deutschland in Europa und gegenüber den USA zeichnen, ist angesichts der realen Lage in jeder Hinsicht beschönigend. Es zeigt uns ein politisch und militärisch vereintes Europas, in dem Deutschland eine Führungsrolle zukommt. Eine eigenständige europäische Armee führt darin in Kooperation mit den nationalen Streitkräften der einzelnen Mitgliedsländer und der Nato-Eingreiftruppe - auch in der Nato sieht sich Deutschland mit stärkerem Einfluss - weltweite Interventionseinsätze zur Entlastung des Militärapparates der USA durch. Selbstverständlich geschieht dies alles zum Wohle der Menschheit, in transatlantischer Übereinkunft und unter Wahrung der Richtlinien der Vereinten Nationen und des Völkerrechts.

In den Worten der Richtlinien selbst stellt sich dieses Bild wie folgt dar:

"Erstens: Die transatlantische Partnerschaft bleibt Grundlage unserer Sicherheit. Ohne die Vereinigten Staaten von Amerika gibt es auch künftig keine Sicherheit in und für Europa. Deutschland wird weiterhin einen substanziellen Beitrag zur transatlantischen Partnerschaft leisten.

Zweitens: Der Stabilitätsraum Europa wird durch eine breit angelegte, kooperative und wirksame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU gestärkt. Auch die Globalisierung macht ein voll handlungsfähiges Europa erforderlich. Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik beruht auf der strategischen Partnerschaft mit der Nordatlantischen Allianz und ermöglicht selbständiges europäisches Handeln, wo die NATO nicht tätig sein muss oder will.

Drittens: Deutschland beteiligt sich aktiv an der Arbeit der VN und OSZE, um die eigene Sicherheit zu gewährleisten, der Achtung der Menschenrechte und des Völkerrechts weltweit Geltung zu verschaffen, Demokratie, wirtschaftlichen Fortschritt, soziale Entwicklung nachhaltig zu stärken, die natürlichen Lebensgrundlagen zu erhalten sowie die Kluft zwischen armen und reichen Weltregionen zu überwinden." [10]

Während die US-Regierung erst vor wenigen Wochen die Vereinten Nationen missachtet, die vielbeschworene Einheit Europas gespalten und das Völkerrecht gebrochen hat, um einen Angriffskrieg gegen ein wehrloses Land zu führen, tut die deutsche Regierung so, als wäre nichts gewesen.

Diesem Verhalten liegt neben der Einsicht in die militärische Überlegenheit der USA die Erkenntnis zugrunde, dass der amerikanische Einfluss Europa während der Nachkriegszeit stabilisiert und die traditionellen Konflikte zwischen den europäischen Mächten in den Hintergrund gedrängt hat. Zögen sich die USA aus Europa zurück oder käme es zum offenen Konflikt, würde z.B. die Frage, ob Deutschland oder Frankreich die Führungsrolle in Europa einnimmt, unweigerlich wieder aufbrechen.

Doch auf lange Sicht ist ein offener Konflikt mit den USA unvermeidlich. Das ergibt sich nicht einfach aus dem Willen der einen oder anderen Regierung, sondern aus der wachsenden Rivalität zwischen den imperialistischen Großmächten im Kampf um Rohstoffe, Absatzmärkte und strategischen Einfluss. Die US-Regierung hat im Irakkrieg unmissverständlich ihre Absicht kundgetan, die gesamte Welt dem eigenen Interesse zu unterwerfen. Das lässt sich auf Dauer mit deutschen und europäischen Interessen nicht vereinbaren.

Während dies in offiziellen Dokumenten noch mit Treueschwüren zur transatlantischen Partnerschaft überdeckt wird, findet hinter den Kulissen bereits eine Diskussion über die Notwendigkeit einer militärischen Weltmacht Europa statt, die auch Eingang in Pressekommentare findet. So hat Martin Winter, Redakteur der SPD-nahen Frankfurter Rundschau, Anfang März in einem Kommentar offen ausgesprochen dass die gegenwärtigen Interessen Europas und der USA unvereinbar seien und es beim Aufbau einer europäischen Militärmacht nicht um eine Stärkung des transatlantischen Bündnisses gehe.

Die Welt dürfe nicht einer einzigen Weltmacht überlassen werden, da Monopole zu Missbrauch und Arroganz neigten, schreibt er. Der richtige Schluss für die Europäer aus dem Irakdesaster müsse heißen: "Die Europäische Union muss sich zur Weltmacht entwickeln. Ihr wirtschaftliches und politisches Potential, allerdings noch nicht ihr militärisches, reicht dafür aus, dies heute noch utopisch anmutende, aber einzig verantwortbare Ziel zu erreichen. Dafür jedoch müssen die Europäer aufhören, sich passiv in der weltpolitischen Debatte treiben zu lassen. Ihre Außenpolitik muss sich vom bloßen Reagieren auf US-Strategien, diesem habituellen Relikt aus den Zeiten des Kalten Krieges, zum eigenständigen Setzen von Markierungen entwickeln." [11]

Derselbe Gedanke findet sich, vorsichtiger formuliert, auch in den Verteidigungspolitischen Richtlinien wieder: "Die EU ist der Kern des europäischen Stabilitätsraums. Für ihre politische Glaubwürdigkeit und Durchsetzungsfähigkeit ist es unabdingbar, dass sie umfassend in allen Politikbereichen handlungsfähig wird. Krisen, die Europa berühren, muss die EU mit einer breiten Palette ziviler und militärischer Fähigkeiten begegnen können. Die ESVP [Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik] ist daher ein entscheidender Schritt zur Vertiefung der Integration und zur Erweiterung der sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit Europas. Ziel ist die Schaffung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion als Teil einer voll entwickelten Politischen Union." [12]

Der einzige Unterschied zwischen der Position Winters und den Richtlinien der deutschen Verteidigungspolitik besteht darin, dass Martin Winter unverblümt sagen kann, worum es geht, während die Bundesregierung tunlichst bemüht ist, ihr "partnerschaftliches" Verhältnis zu den USA nicht zu verspielen.

Zehn Tage später unterstrich die Frankfurter Rundschau in einem weiteren Kommentar diesen Punkt. Die europäischen Außenminister hätten eine eigene europäische Sicherheitsdoktrin in Auftrag gegeben, weil die amerikanische für die Europäer nicht akzeptabel sei, schreibt sie. "Als unbestrittene Führungsmacht der Nato aber werden die USA versuchen, sie auch für die europäischen Alliierten durchzusetzen. Die politische Absicht in Peter Strucks Verteidigungspolitischen Richtlinien, die militärischen Anstrengungen von EU und Nato wie zwei Zahnräder ineinander greifen zu lassen, ist darum schon jetzt eine Illusion. [...] Gewiss, alle Beteiligten betonen, es gehe nur um eine Stärkung des europäischen Pfeilers in der Nato. Aber ginge es wirklich nur darum, bedurfte es weder einer europäischen Eingreiftruppe noch einer ESVU." [13]

Bundeswehreinsätze im Inland

Selbstverständlich darf in den Verteidigungspolitischen Richtlinien auch die innenpolitische Ausschlachtung des "Kampfs gegen den Terrorismus" nicht fehlen. Dieser dient nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland als Vorwand für eine massive Einschränkung demokratischer Rechte, die ihren bisherigen Höhepunkt in den beiden Sicherheitspaketen von Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) fand.

Durch die Ablösung der "Aufgabe der herkömmlichen Landesverteidigung" durch den "umfassenderen Begriff des Schutzes Deutschlands und seiner Bürger" legen die neuen Richtlinien nun die Grundlage für noch weitergehende Angriffe auf demokratische Rechte. Während der Begriff der Landesverteidigung noch impliziert, es handle sich um die Verteidigung gegen einen äußeren Feind, ermöglicht der "Schutz Deutschlands und seiner Bürger" völlig neue Einsatzmöglichkeiten auch gegen innere Feinde. Die Bundeswehr soll zukünftig auch für militärische Einsätze im Inland bereitstehen.

Dazu heißt es in den Richtlinien: "Zum Schutz der Bevölkerung und der lebenswichtigen Infrastruktur des Landes vor terroristischen und asymmetrischen Bedrohungen wird die Bundeswehr Kräfte und Mittel entsprechend dem Risiko bereithalten. Auch wenn dies vorrangig eine Aufgabe für Kräfte der inneren Sicherheit ist, werden die Streitkräfte im Rahmen der geltenden Gesetze immer dann zur Verfügung stehen, wenn nur sie über die erforderlichen Fähigkeiten verfügen oder wenn der Schutz der Bürgerinnen und Bürger sowie kritischer Infrastruktur nur durch die Bundeswehr gewährleistet werden kann. Grundwehrdienstleistende und Reservisten kommen dabei in ihrer klassischen Rolle, dem Schutz ihres Landes und ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger, zum Einsatz." [15]

Der Einsatz im Innern, der seit geraumer Zeit von rechten Kreisen innerhalb der Union gefordert wird, muss als Reaktion auf die weltweiten Massenproteste gegen den Irakkrieg verstanden werden. Die Regierung Schröder, die mit der Agenda 2010 heftige soziale Angriffe auf die Bevölkerung vorbereitet, ist sich bewusst, dass diese Proteste nur die Spitze des Eisbergs darstellen. Sie sind Ausdruck der wachsenden Entfremdung breiter Bevölkerungsschichten von der offiziellen Politik und können sehr schnell auch in eine Bewegung gegen die Kürzungen umschlagen. Das soll notfalls durch den Einsatz militärischer Gewalt unterdrückt werden. [16]

Eine militaristische Antwort auf den US-Imperialismus

Die Verteidigungspolitischen Richtlinien machen deutlich, dass die deutsche Regierung dem aggressiven Auftreten des US-Imperialismus nur eine militaristische Antwort entgegenzusetzen hat. Die Anbiederung und Anpassung an die Bush-Administration und die militärische Aufrüstung zur Durchsetzung eigener imperialistischer Interessen gehen dabei Hand in Hand.

Im gesamten Text findet sich kein kritisches Wort über den aggressiven Charakter des US-Außenpolitik. Das ist schlicht und ergreifend ein Ergebnis der Tatsache, dass die Bundesregierung an diesem rücksichtslosen Vorgehen an sich nichts Verwerfliches findet. Sie stört sich lediglich daran, dass die USA ihre eigenen Interessen rücksichtslos über die ihrer Verbündeten stellen.

Bereits vor und während des Irakkriegs ging die verbale Kritik an den US-Kriegsplänen mit ihrer praktischen Unterstützung einher. Durch das Gewähren von Überflugrechten und die Absicherung der in Deutschland stationierten US-Militärbasen trug die Bundesregierung wesentlich zur Logistik des Krieges bei, den sie dann mit der Zustimmung zur Besetzung des Irak im UN-Sicherheitsrat auch noch nachträglich legitimierte.

Die Verteidigungspolitischen Richtlinien werden von derselben widersprüchlichen Haltung geprägt. Sie lassen beide Möglichkeiten offen - die Rolle eines Juniorpartners der USA bei zukünftigen imperialistischen Raubzügen und die Rolle eines europäischen, militärischen Gegengewichts zur derzeit mächtigsten Militärmacht der Welt. Beide Wege erhöhen die Gefahr weiterer Kriege mit verheerenden Konsequenzen für die gesamte Menschheit.

Obwohl das neue Dokument noch druckfrisch ist, bereitet sich die Bundesregierung bereits auf die nächste Stufe der Eskalation vor. Sollten die Richtlinien ursprünglich für einen Zeitraum von zehn bis fünfzehn Jahren gelten, wird nun in der Neufassung betont, dass sie angesichts der "Dynamik der sicherheitspolitischen Herausforderungen" sehr bald schon völlig anders aussehen könnten.

Die Verteidigungspolitischen Richtlinien zeigen, dass die Gefahr für den Weltfrieden, die vom US-Imperialismus ausgeht, nicht bekämpft werden kann, indem man sich auf die europäischen Regierungen stützt. Die Opposition gegen Militarismus und Krieg muss sich gegen den Imperialismus als ganzen, den amerikanischen wie den europäischen, richten. Sie muss sich auf eine unabhängige Bewegung der internationalen Arbeiterklasse stützen, wie sie in den Massenprotesten vom 15. Februar in Ansätzen sichtbar wurde.

Solch eine Bewegung wird die Kriegsfrage mit der sozialen Frage verbinden, sie wird sich auch gegen die Bemühungen der europäischen Regierungen richten, in Europa die gleichen sozialen Bedingungen einzuführen, wie sie in den USA bereits herrschen. Deswegen fürchtet die deutsche Regierung eine solchen Bewegung weitaus mehr als das aggressive Vorgehen der Bush-Regierung und bereitet sich auf gewaltsame Auseinandersetzungen mit der eigenen Bevölkerung vor.

Anmerkungen

[1] Bundesministerium der Verteidigung, "Verteidigungspolitische Richtlinien" (Bonn, 1992)

[2] Bundesministerium der Verteidigung, "Verteidigungspolitische Richtlinien (erläuternder Begleittext)" (Berlin, 2003), Seite 12

[3] Bundesministerium der Verteidigung, "Verteidigungspolitische Richtlinien" (Berlin, 2003), Seite 3, Artikel 5

[4] ebd., Seite 9, Artikel 37

[5] ebd., Seite 21, Artikel 89, Absatz 2

[6] ebd., Seite 21, Artikel 90

[7] ebd., Seite 5, Artikel 16

[8] ebd., Seite 21, Artikel 88

[9] einige Hintergründe zur Konzeption der "Inneren Führung" findet der Leser im WSWS-Artikel "Die Grünen fordern schlagkräftige Berufsarmee" http://www.wsws.org/de/2002/apr2002/buwe-a17.shtml 

[10] Bundesministerium der Verteidigung, "Verteidigungspolitische Richtlinien" (Berlin, 2003), Seite 10, Artikel 40, Absatz 2-4

[11] Frankfurter Rundschau (Online-Ausgabe) vom 10. März 2003

[12] Bundesministerium der Verteidigung, "Verteidigungspolitische Richtlinien" (Berlin, 2003), Seite 12, Artikel 50

[13] Frankfurter Rundschau vom 20. Mai 2003

[14] Wladimir Iljitsch Lenin, "Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus" (1917), Seite 301

[15] Bundesministerium der Verteidigung, "Verteidigungspolitische Richtlinien" (Berlin, 2003), Seite 18, Artikel 80, Absatz 3

[16] mehr zur Debatte über den Einsatz der Bundeswehr im Inneren findet der Leser im WSWS-Artikel "Politiker aller Parteien planen Einsatz der Bundeswehr im Inneren" http://www.wsws.org/de/2003/apr2003/buwe-a19.shtml 

Editorische Anmerkungen:

Der Artikel erschien in zwei Teilen am 15. und 16. Juli 2003 auf der World Socialist Web Site www.wsws.org. Es handelt sich hier um folgende Spiegelungen: