Was ist los auf Korsika?
Ökonomie, Politik und Widerstände in einer “Sonderzone" der französischen Politik

von Bernhard Schmid, Paris

7-8/03
 
 
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I. AKTUELL: Das korsische Wechselbad des Pariser Innenministers Himmelhoch jauchzend, und dann zu Tode betrübt? 

So vielleicht nicht aber gewiss ist, dass der französische Innenminister Nicolas Sarkozy in den ersten Julitagen wechselnde Gemütszustände durchmachte. Der größte polizeiliche Erfolg seit einigen Jahren auf der unruhigen Mittelmeerinsel Korsika und, keine 48 Stunden später, die Ergebnisse der Volksabstimmung auf ebendieser Insel verschafften ihm dieses Wechselbad der Gefühle. Zuerst konnte er am Abend des Freitag, 4. Juli die Verhaftung des, seit fünf Jahren gesuchten Yvan Colonna bekannt geben. Der radikalen korsischen Separatistenkreisen nahe stehende Colonna - dessen Persönlichkeit eher als die eines rauhen Einzelgängers beschrieben wird gehörte einem neunköpfigen Kommando an, das am 6. Februar 1998 den Präfekten Claude Erignac, den ranghöchsten Vertreter des französischen Zentralstaats auf der Insel, erschoss. Die anderen acht Mitglieder der Truppe wurden bereits in den Monaten nach dem Anschlag verhaftet und stehen in diesem Jahr, seit dem 2. Juni, in Paris vor Gericht. Just am Freitag (11. Juli) wurden die Schuldsprüche gefällt. Sechs der acht Angeklagten müssen für Zeiten zwischen 20 Jahren und lebenslänglich in den Knast.

Doch Colonna, der durch die Ermittler als der Todesschütze im Mordfall Erignac betrachtet wird, blieb flüchtig. Jahrelang wurde er auf Madagaskar, in Venezuela und an allen möglichen Orten auf der Welt gesucht vergeblich. Alles sieht danach aus, als sei er die Jahre über in der schwer durchdringlichen Strauch und Unterholzvegetation auf Korsika, dem Maquis, geblieben. Von Beruf Ziegenhirt, griff das polizeiliche Sondereinsatzkommando RAID ihn am frühen Abend des 4. Juli in einer verlassenen Schäferei aus. Um 5 Uhr morgens an diesem Tag hatten die Ermittler ihn ausfindig gemacht er war dabei, zu seinen Ziegen zu sprechen.

Manche BeobachterInnen möchten nicht so richtig an Zufall glauben, wenn der vermeintliche “Topterrorist" ausgerechnet anderthalb Tage vor dem wichtigsten Urnengang aufgegriffen wurde, bei dem indirekt über die politische Zukunft der Insel im französischen Staatsverband abgestimmt wurde. Die zahlreichen Misserfolge bei seiner Verfolgung hatten jahrelang Spekulationen über Komplizenschaften im korsischen Establishment Nahrung gegeben. Freilich muss man nicht an Verschwörungstheorien glauben unwahrscheinlich ist dennoch nicht, dass der Fahndungserfolg einem gewissen politischen “Timing" gehorchte.

Am Sonntag, den 6. Juli stimmten die knapp 200.000 wahlberechtigten Inselbewohner über eine Reform der politischen Institutionen auf Korsika ab, die durch die Pariser Zentralregierung und namentlich Innenminister Nicolas Sarkozy vorgeschlagen worden war. Für den umtriebige Sarkozy, der eifrig daran arbeitet, eine Karriere als künftiger Präsidentschaftskandidat der konservativen Rechten in die Wege zu leiten, war der Wechsel der Gemütszustände dabei nicht zu Ende: Am frühen Abend schien die Abstimmung zunächst mit 5" Prozent zugunsten des “Ja" auszugehen. Bis dahin waren vor allem die zahlreichen kleinen und kleinsten Kommunen der korsischen Bergdörfer ausgezählt worden. Doch im weiteren Verlauf der Abendstunden begann die Waage zu kippen. Die größeren Städte gaben am Ende den Ausschlag: Das “Nein" gewann mit 50,98 Prozent. In den Städten Ajaccio und Bastia war die Ablehnung deutlich.

Was stand zur Abstimmung ? Doch worum ging es in der Sache? Vorgeschlagen wurde, die Machtkompetenzen auf der Insel in einer regionalen Zentralinstanz zu konzentieren. Bisher war Korsika, dem französischen Staatsaufbau entsprechend, in zwei Départements (Verwaltungsbezirke) eingeteilt - in der Form allerdings erst seit 1975. Diese sollten aufgelöst und durch eine einheitliche Sonderregion ersetzt werden. Die Verwaltungskompetenzen wären damit im südkorsischen Ajaccio zusammengefasst worden, das nordkorsische Bastia hätte seine politische Bedeutung verloren. Dennoch stimmten beide Bezirke mehrheitlich dagegen die Ablehnung betrug in Nordkorsika 52 Prozent, in Südkorsika gut 50 Prozent.

Ziel der Regierung war es einerseits, die korsischen Nationalisten einzubinden, die von einer verstärkten Autonomie (in ihren Augen als Schritt auf dem Weg zur Unabhängigkeit) träumen. Seit fünf Jahren besteht nunmehr auf Korika ein Bündnis zwischen der konservativen und wirtschaftsliberalen Rechten sowie dem Mehrheitsflügel der korsischen Nationalisten, die damit ihrer vordergründig antistaatlichen Haltung jedenfalls im Alltag - abgeschworen haben. Materielle Grundlage dieses neuartigen Bündnisses ist das Vorhaben, Korsika in eine wirtschaftliche Sonderregion mit eigenen Finanz-, Steuer- und Wirtschaftshoheiten umzuwandeln, die als Experimentierfeld für ein neoliberales Europa der Regionen dienen soll. Auch die zahlreichen auf Korsika operierenden Mafiagruppen fänden ihr Interesse darin, da sie nach Anlagemöglichkeiten für gewaschenes Geld mit verringerter politischer Kontrolle suchen. Der wirtschaftsliberale Flügel der regierenden Konservativen - dem Innenminister Sarkozy angehört - bezeichnete dieses Projekt bereits als Modell, das auf andere Regionen im Prinzip übertragbar sei. Anfänglich hatte allerdings noch ein nationalistisch-etatistischer Flügel der gaullistischen Rechten dagegen opponiert, da er die Autorität des Zentralstaats gefährdet sah; diese Kritik ist mittlerweile, wenn nicht verstummt, dann doch erheblich leiser geworden. Sarkozy hatte sich weit zugunsten der Reform aus dem Fenster gehängt: Acht Mal war er binnen eines Jahres nach Korsika gejettet. Den korsischen WählerInnen hatte er u.a. in fast erpresserischer Weise Agrarsubventionen in Aussicht gestellt, falls sie im gewünschten Sinne abstimmten. Die mehrheitliche Ablehung des Vorschlags beim jüngsten Referendum bedeutet damit auch eine “persönliche Niederlage" für Nicolas Sarkozy, wie dieser unumwunden einräumte den ersten ernsteren Rückschlag für den ehrgeizigen “Superminister".

Die Gründe für das “Nein"

Warum stimmten die korsischen WählerInnen gegen den Entwurf? Ein Teil von ihnen mag gegen die Separatisten bzw. Nationalisten votiert haben, deren zum Bündnispartner der Konservativen geworden “realpolitischer" Flügel den Regierungsvorschlag deutlich unterstützt hatte. Denn 80 Prozent der BewohnerInnen der Insel lehnen die separatistische Bewegung ab, die seit den Achtziger Jahren zunehmend zum Deckmantel mafiöser Interessen verkommen war. Umgekehrt hat ein Teil der Basis der korsischen Nationalisten wohl aus Protest gegen die spektakuläre, da vermeintlich geschickt getimte Verhaftung von Yvan Colonna am Ende doch nicht mit “Ja" gestimmt, oder gar keine Stimme abgegeben. Auch ihr “politischer Arm" hatte sich mit dem Mörder des Präfekten Erignac solidarisiert - sein oberster Realpolitiker Jean-Guy Talamoni hatte gar den haarsträubenden Vergleich gewählt: “Das korsische Volk hat Yvan Colonna unterstützt - so wie es die verfolgten Juden im Zweiten Weltkrieg versteckt hat, so hilft es allen Bedrängten". Vor allem aber ist der Regierungsentwurf auch zum “Opfer" der sozialen Proteste der letzten Wochen geworden. Als Innenminister Sarkozy und Regierungschef Jean-Pierre Raffarin am 21. Juni gemeinsam die Insel besuchten, musste ihr Auftritt in einer Halle annulliert werden, weil heftige Proteste von GewerkschafterInnen die lautstark gegen die “Reform" der Renten opponierten - sie gleich am Verlassen des Flughafens von Ajaccio hinderten. Am Ende sprachen sie, auf Plastikstühlen stehend, in einer schmuchlosen und für solche Auftritte denkbar ungeeigneten Abfertigunghalle des Flughafens vor Vertretern der örtlichen politischen Klasse. Die Bilder gingen durch ganz Frankreich. Der genervte Innenminister, auf Rache sinnend, fand sich alsbald einen Schuldigen und feuerte den Präfekten (den Vertreter des Zentralstaats) auf Korsika, weil er die Situation nicht unter Kontrolle behalten habe. 

Auf Korsika, wo fast keinerlei Industrie und aufgrund einer jahrzehntelangen strukturellen Benachteiligung durch den französischen Zentralstaat kaum wirtschaftliche Entwicklung existiert, ist jedeR dritte BewohnerIn im öffentlichen Dienst tätig. Entsprechend stark waren auf der Insel die Proteste der öffentlichen Bediensteten, die hier (wie auch auf der zu Frankreich gehörenden Insel La Réunion) mit brutalen Polizeieinsätzen konfrontiert wurden. Unter der nicht-separatistischen Bevölkerungsmehrheit dürfte dies für eine erhebliche Mobilisierung zugunsten des “Nein" beim Referendum gesorgt haben. Politisierte Gewerkschafter hatten ihre Ablehnung der Regierungsvorlage auch damit begründet, dass sie als notwendige Ergänzung zum Kampf gegen die aktuellen neoliberalen Reformen der Regierung Raffarin auch kein neolibales “Europa der Regionen", mit bedeutendem Armut-Reichtum-Gefälle und verschärfter Standortkonkurrenz, wünschen. Sowohl die konservativ-liberalen Regierungsparteien, die in Paris und Ajaccio am Ruder sind, als auch die französische Sozialdemokratie hatten ebenso wie der “politische Arm" der korsischen Nationalisten dazu aufgerufen, beim Referendum mit “Ja" zu stimmen. Zum Nein hatten die KP, der (so genannte) linke Flügel der Sozialdemokratie und die Linksnationalisten des früheren Innenministers Jean-Pierre Chevènement aufgerufen. Ihnen ging es um die Bewahrung des republikanischen (post-)jakobinischen Modells, mit teilweise etatistischen Tönen, und auch um eine Absage an das neoliberale “Europa der Regionen". Aus anderen Motiven nämlich ungezügeltem französischem Nationalismus, der keine anderen Nationalismen neben sich dulden will - heraus hatte auch der rechtsextreme Front National (FN) gegen das Abkommen gewettert ; er konnte jedoch nicht an der Referendumskampagne teilnehmen, mangels parlamentarischer Vertretung in Korsika, und daher auch nicht öffentlich für seine Positionen werben.

Der größere Teil der politischen Klasse vor Ort hatte, neben den größten französischen Parteien vom “Festland", ebenfalls für die Annahme der Reform plädiert. Damit bedeutet der Sieg des “Nein" eine klare Abfuhr für große Teile des Establishments, in Paris wie auf Korsika.

II. ZUM HINTERGRUND: Merkwürdigkeiten und Widersprüche eines “Befreiungskampfs"

Deutlicher kann man die Ziele einer so genannten nationalen Befreiungsbewegung wohl kaum negieren: Zum wiederholten Male sprachen sich bei der letzten repräsentativen Umfrage zum Thema, die vor anderthalb Jahren publik wurde, über 80 Prozent der korsischen Bevölkerung gegen die Unabhängigkeit der Insel aus. Zugleich stimmte die Hälfte der Befragten auf dem französischen Festland für die Unabhängigkeit der Insel. Misst man sie an ihrem eigenen politischen Anspruch, so lassen sich diese Ergebnisse nur als das völlige Scheitern einer Bewegung interpretieren, die vorgab oder noch immer vorgibt, antikolonial und emanzipatorisch zu sein. Korsika steht im Mittelpunkt einer weitgehend ideologisch aufgeladenen Debatte innerhalb der politischen Klasse Frankreichs. Spätestens, seitdem der französische Staat und eine Mehrheit im Inselparlament von Ajaccio im Juli 2000 ein Abkommen schlossen, das die Voraussetzungen für einen bis zum Jahr 2004 zu erreichenden Autonomiestatus der Insel festlegte, tobte der innenpolitische Glaubenskrieg. Mit dem Scheitern der Regierungsvorlage für eine Verwaltungsreform am 6. Juli 200" dürfte er ein vorläufiges Ende gefunden haben.

Auf der einen Seite standen dabei die Mehrheit der französischen Sozialdemokratie sowie ein bedeutender Teil des liberal-konservativen Blocks. Für sie stellt das Korsika-Abkommen ein pragmatisches Mittel dar, um die Mittelmeerinsel endlich zu befrieden, nachdem sie die Republik 25 Jahre lang mit Bombenanschlägen und den Heldenritualen kapuzentragender Kämpfer in Atem gehalten hat. Auf der anderen Seite standen die Verfechter einer national-republikanischen Linie um den ehemaligen Innenminister Jean-Pierre Chevènement (eine Art nationalistischer Sozialdemokrat, der den republikanischen Nationalismus französischer Prägung gegen die völkischen Spielarten des Nationalismus verteidigt) sowie die autoritären “Souveränisten" (eine Art National-Bonapartisten) um den Altgaullisten Charles Pasqua. Auch Pasqua war, wie sein Amtsnachfolger Chevènement, zeitweise französischer Innenminister von 1986 bis 88 sowie von 199" bis 95.

Auch ein Teil der Neogaullisten des RPR (Rassemblement pour la République) zählte zu dieser Strömung; der RPR löste sich im Jahr 2002 in die neue bürgerlich-konservative Einheitspartei UMP auf, die zur Unterstützung von Präsident Jacques Chirac begründet wurde. Anfänglich opponierte der etatistisch-nationalistische Teil des RPR gegen die Korsika-Pläne der damals noch sozialdemokratischen Regierung unter Lionel Jospin. Doch der liberale und wirtschaftsfreundliche Flügel der Partei um den vormaligen Generalsekretär (damals noch nicht Minister) Nicolas Sarkozy und den früheren Premierminister Edouard Balladur stand den Plänen auch unter der Jospin-Regierung, in den Jahren 2000 und 2001, bereits sehr aufgeschlossen gegenüber. Diese Strömung hat sich nach dem Regierungsantritt der Neokonservativ-Liberalen im Mai 2002 innerhalb des bürgerlichen Lagers wohl durchgesetzt, stark forciert vom nunmehrigen Innenminister Sarkozy. Aber auch vom neuen Premierminister Jean-Pierre Raffarin, der die “Dezentralisierung" zum zentralen politischen Projekt für die Legislaturperiode 2002 bis 2007 erkor. (FUSSNOTE 1)

Die Gegner hatten den derzeit tonangebenden Teilen der politischen Klasse lange Zeit den Ausverkauf des republikanischen Modells vorgeworfen. Bruch mit der Republik?

Tatsächlich ist das bisherige gesellschaftliche Ordnungsmodell Frankreichs schweren Krisen ausgesetzt. Gemeint ist jenes Staatsmodell, das unter der Dritten Republik (1875 bis 1940) geschaffen wurde und zumindest in der Rechtfertigung, trotz einiger realer Brüche, die erfolgt sind - an die bürgerlich-revolutionären Errungenschaften der Jahre zwischen 1789 und 1794 anknüpft. Die Etablierung eines europäischen Wirtschaftsblocks und der Transfer klassischer staatlicher Hoheitsaufgaben wie der Währungspolitik nach Brüssel oder Frankfurt spielen dabei eine wichtige Rolle. Zugleich bilden sich in Europa Wirtschaftszentren unterhalb der nationalstaatlichen Ebene heraus.

Die Debatte um einen Sonderstatus für Korsika ist ein Teil dieser Entwicklung, auch wenn die Bedeutung möglicherweise mehr symbolischer Art ist. Schließlich besitzt die Insel nur ein geringes materielles Gewicht in der französischen und europäischen Ökonomie. In Frankreich klaffen das ökonomische und das politische Zentrum nicht so sehr auseinander wie etwa in Italien, wo die nördlichen Wirtschaftsmetropolen die zentrale Region um die Hauptstadt Rom weit hinter sich gelassen haben. Die Interessen der französischen Eliten an einer Zerschlagung der zentralstaatlichen Strukturen sind daher nicht die gleichen wie in Italien.

Aber nicht nur der französische Präsidentschaftskandidat und radikale Wirtschaftsliberale Alain Madelin - der bereits im August 2000 forderte, die zukünftige Stellung Korsikas auf sämtliche französischen Regionen zu übertragen und den "jakobinischen Zentralstaat" endlich aufzulösen - betrachtet die Insel gerne als eine Art Laboratorium für die Neukonfigurationen des politisch-ökonomischen Raums. So sicherte der damalige sozialistische Innenminister Daniel Vaillant der seinerzeitigen liberal-konservativen Opposition im Frühjahr 2001 zu, dass nach einer Experimentierphase einige der für Korsika neu definierten Regeln auf alle französischen Regionen ausgedehnt würden.

Insofern kann man die damaligen Bedenken der Anhänger des republikanischen Modells nachvollziehen, die sie sich zum Teil auf dessen bürgerlich-revolutionäre Ursprünge - d.h. die Überwindung konfessioneller und feudaler Partikularismen - berufen und die neuere Entwicklung für einen bedenklichen Rückfall hinter die republikanischen Errungenschaften halten. Diese Sichtweise hat allerdings einen Haken. Wie alle ideologischen Diskurse abstrahiert sie ein gehöriges Stück weit von der materiellen gesellschaftlichen Wirklichkeit. Denn tatsächlich hat es eine Gleichbehandlung der Mittelmeerinsel Korsika mit anderen französischen Regionen nie gegeben. Nicht die bloße Idee, oder gar der Wunsch nach Rückkehr hinter die revolutionären Prinzipien der Jahre 1789 bis 1794, stand am Ausgangspunkt der gesellschaftlichen Strömung, die Korsika aus dem französischen Staatsverband herauszulösen trachtete - es waren materialistisch nachvollziehbare Ursachen. Dazu ist jedoch ein Rückblick auf die Geschichte der Beziehungen zwischen Frankreich und der Mittelmeerinsel erforderlich.

Korsika und Frankreich

Korsika hatte sich mehrere Jahrhunderte hindurch im Besitz italienischer Stadtstaaten befunden, bevor es von der verschuldeten Republik Genua im Vertrag von Versailles 1768 an die französische Monarchie verkauft wurde. Anschließend brach in der Schlacht von Ponto Novo die französische Armee den Widerstand der Inselbewohner. Der dem Denken der Aufklärung verpflichtete korsische Republikaner und liberale Revolutionär Pascal Paoli musste nach der Niederlage ins britische Exil gehen. Doch mit der französischen Revolution begann eine neue Phase. Die Pariser Revolutionäre riefen Paoli 1790 nach Korsika zurück, die Jakobiner - der radikale Flügel der damaligen bürgerlichen Revolution - versprachen eine gleichberechtigte "Konföderation zwischen dem korsischen und dem französischen Volk". Dies schloss übrigens für die Jakobiner auch die Idee der Gleichberechtigung der korsischen Sprache neben dem Französischen ein. Aber in den revolutionären Wirren, die von Fraktionskämpfen innerhalb des Bürgertums gezeichnet waren, entschied sich die korsische Republik für die "falsche" Seite jene der Gegner des damals den Ton angebenden Robespierre.

Deswegen sah die Insel sich Repressalien ausgesetzt - und rief die Briten um Hilfe. Anfang der 1790er Jahre bestand für kurze Zeit ein " anglo-korsisches Königreich ". Dies brachte den Korsen unterdessen in Paris den Vorwurf des nationalen Verrats ein..

Es war Napoleon Bonaparte, der, selbst aus Korsika stammend, die Insel erneut und endgültig unter die französische Kontrolle brachte. Er bediente sich dabei brachialer militärischer Mittel, mitunter wurden komplette Dörfer massakriert. Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts stand Korsika unter einem permanenten Ausnahmezustand.

Wenn heute auf Korsika der Zentralismus der Republik als "Jakobinertum" angeprangert und der Begriff des “Jacobin" in abschätzigem Sinne gebraucht wird, dann geht diese Schuldzuweisung in die Irre. Denn die obrigkeitsstaatliche Unterwerfung der Insel geht nicht auf das Konto der gleichnamigen Strömung in der französischen Revolution, sondern sie erfolgte erst in der nachrevolutionären Epoche unter dem napoleonischen Regime. Doch Napoleon Bonaparte anzuklagen, kommt für die meisten Korsen nicht in Frage.

Er gilt auf Korsika nach wie vor als Volksheld, denn er ist die erste so genannte große Figur der Geschichte, die von der Insel stammt. Zahlreiche öffentliche Plätze auf der Insel tragen seinen Namen. So ist das eben mit den nationalen Mythen selbst wenn es sich um einen Abspaltungsnationalismus handelt.

Das Clanwesen

Die folgenden anderthalb Jahrhunderte sind vor allem von zwei Faktoren geprägt: der vernachlässigten ökonomischen Entwicklung der Insel und der Herrschaft der "Clans". So erhielt die französische Regierung von 1808 bis 1912 die Zollschranken gegenüber der Insel aufrecht, obwohl sie zwei französische Départements umfasste und somit theoretisch ein Bestandteil der "einen und unteilbaren Republik" war. Die nur in einer Richtung wirksamen Zollschranken behinderten den Export korsischer Waren auf den französischen Markt und favorisierten zugleich den Import französischer Produkte auf die Insel. Bis ins frühe 20. Jahrhundert unterhielt das Festland beinahe koloniale Wirtschaftsbeziehungen zu der Insel.

Gleichzeitig zwang die Pariser Politik viele junge Korsen zur Auswanderung, denn Frankreich schloss 1780 die korsische Universität in Corte, die erst im Jahr 1975 wieder eröffnet wurde. Das Ziel war, die jungen korsischen Generationen als Rekrutierungspotenzial für die Armee und die Kolonialverwaltung in "Übersee" zu nutzen. Tatsächlich bildeten die Korsen bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts das Rückgrat des französischen Militärapparats und des Kolonialismus. (Die korsische Krise spitzte sich just ab 1962 mit dem französischen Rückzug aus Algerien und der Umsiedlung zahlreicher Algerienfranzosen auf die Mittelmeerinsel zu. Es handelt sich um die so genannten “pieds noirs" so, als “Schwarzfüße", bezeichnete man die europäischen Siedler in Algerien, um auszudrücken, dass diese Kopf in Europa und die Füße in Afrika hätten. Sie wurden rund um den französischen Mitteleerrand angesiedelt.)

Die Rekrutierungspolitik für Polizei, Armee und Kolonien wurde abgestützt von der Herrschaft der Clans, die auf der Insel den verlängerten Arm der französischen staatlichen Herrschaft bildeten. Die korsische Gesellschaft war lange Zeit, und ist es teilweise noch heute, von Clanstrukturen geprägt. Die Französische Republik, deren offizieller Diskurs eines staatsbürgerlichen Universalismus dieser Politik diametral widerspricht, hat jedoch die Clanstrukturen über eine lange Zeit für die politische Kontrolle der Insel genutzt. So stellen die Ableger der französischen politischen Parteien auf der Insel im Wesentlichen keine Ideen- oder Interessenvertretungen im modernen Sinne dar, sondern sie sind lediglich die Verkleidungen der dominierenden Clans.

Heute sind die zwei größten "klassischen" Parteien auf der Insel, die Gaullisten einerseits und die linksliberale Radikale Partei PRG andererseits, nach wie vor von Clanstrukturen geprägt. (Der PRG wird repräsentiert von Emile Zuccarelli, dem Bürgermeister von Bastia, der Frankreichs Ex-Innenminister Chevènement in der korsischen Frage nahe steht mit der Besonderheit, dass Zuccarelli vor der jüngsten Abstimmung einer der Wortführer des “Nein" war.) Hingegen haben sich die Kommunistische Partei und die auf Korsika außerordentlich schwache Sozialdemokratie inzwischen zu politischen Parteien im modernen Sinne entwickelt. Die Clans verteilten die "Wohltaten" des französischen Staates, der sich damit eine relative Ruhe auf der Insel gesichert hat: Sozialhilfe, Pensionen und Invalidenrenten sowie meist faule Kredite für die Landwirtschaft, aber auch staatliche Arbeitsplätze. Diese “Güter" (wie auch etwa Leistungen der gesetzlichen Krankenkasse) wurden oft so verteilt, als handele es sich um persönlich vermittelte Wohltaten, und nicht um Rechtsansprüche.

Korsischer Nationalismus

Als Reaktion auf diese Herrschaftsstrukturen, die unter dem offiziellen Deckmantel der universalistischen Französischen Republik weiter existierten, formierte sich die zunächst autonomistische, später nationalistische Bewegung. Erste Versuche in den dreißiger Jahren diskreditierten ihre "Sache" über Jahrzehnte, da sie bereit waren, von Benito Mussolini Unterstützung anzunehmen. Mussolini hätte die Insel zu gerne "heim nach Italien" geholt, was die Mehrheit der Inselbevölkerung jedoch entschieden ablehnte. Dem faschistischen Zentralismus in Rom zogen die meisten Korsen denn doch die Republik in Paris vor.

Doch seit 1959 bildeten sich erneut Ansätze einer Autonomiebewegung. Zunächst protestierte man gegen die damals geplante Stilllegung einer der wenigen Eisenbahnstrecken. Der französische Staat antwortete darauf in den folgenden Jahrzehnten ausschließlich mit dem Einsatz seiner Repressionsmittel; bei der Verwaltungsreform von 1975 spaltete der Zentralstaat zudem Korsika auf zwei neu geformte Départements auf. Nach den Zusammenstößen von Aléria im August 1975 gründete sich am 5. Mai 1976 der FLNC (Front de libération nationale de la Corse), die "nationale Befreiungsfront Korsikas", als bewaffnete Organisation. Vorausgegangen war die Besetzung eines Weinkellers in Aléria, der einem so genannten Pied Noir - einem aus Algerien ausgesiedelten Kolonialfranzosen - gehörte, dem Weinpanscherei vorgeworfen wurde. Dieser Bevölkerungsgruppe, jener der “pieds noirs", hatte die Zentralregierung in den frühen sechziger Jahren oft die besten landwirtschaftlichen Nutzflächen gegeben. Die korsischen Bauern waren dafür teilweise in von Malaria verseuchte Ebenen abgedrängt worden.

Der damalige Regierungschef Jacques Chirac (Premierminister zwischen 1974 und 76) reagierte hart: 2 000 Polizisten und Soldaten waren im Einsatz, obwohl nur eine Handvoll Leute den Weinkeller besetzt hatten. Der Innenminister Michel Poniatowski musste sich daraufhin von einem gaullistischen Parlamentarier die Frage gefallen lassen, ob er sich bei der Operation noch mitten im Algerienkrieg geglaubt habe. Die Episode zeigt die damals noch starke koloniale Prägung des französischen Staatsapparats, der seine Traditionen auch im Umgang mit den widerspenstigen Regionen im "eigenen" Land fortsetzte.

Bei der Namensgebung des FLNC ist der Bezug auf den FLN, die algerische Unabhängigkeitsbewegung (Front de libération nationale / Nationale Befreiungsfront), unverkennbar. Tatsächlich bediente sich der FLNC eines stark antikolonialen Diskurses. Und er nahm entsprechende Beziehungen zu anderen Bewegungen auf, insbesondere zum FLNKS (Front de libération nationale kanake socialiste) in der französischen De-facto-Kolonie im Westpazifik, Neukaledonien.

Doch seine Ideologie war keineswegs nur progressiv, vielmehr bildete der FLNC, als einziger radikaler Gegenpol zur Herrschaft der Clans auf der Mittelmeerinsel, ein Sammelbecken, in dem sich junge Anhänger aller möglichen Ideologien wiederfanden. Denn die Nationalisten bildeten den einzigen dynamischen Gegenpol zur Herrschaft der Clans. Sie lehnen die Clans explizit ab und propagieren statt dessen eine moderne und einheitliche Kategorie des "korsischen Volkes".

Zu Beginn schlossen sich viele Linksradikale der Bewegung an, insbesondere Maoisten, aber auch Anarchisten, während die Trotzkisten zunächst skeptisch blieben. Doch daneben waren von Anfang an auch Rechte vertreten. Der langjährige FLNC-Chef Pierre Poggioli, der Ende der achtziger Jahre abgesetzt wurde, war zuvor in rechtskonservativen Kreisen aktiv. Der hochrangige FLNC-Kader Alain Orsoni hatte sich an der Universität Nizza zeitweise im neofaschistischen Milieu betätigt.

Das Hauptmerkmal der Bewegung, neben der heterogenen ideologischen Herkunft ihrer Aktivisten, war ihre theoretische Schwäche, die sich zum Teil aus dem Fehlen von politischen Erfahrungen und kollektiven Klassenstrukturen auf der Insel erklärte. An die Stelle inhaltlicher Auseinandersetzungen trat bald der Waffenkult und der Mythos des heroischen Kapuzenträgers. Beides basierte wiederum auf den sozialen Traditionen der Insel, den Clanstrukturen, der Blutrache sowie auf dem Widerstand gegen die verschiedenen Eroberer.

Zudem entwickelte sich eine Mentalität, die die Clangesellschaft hervorgebracht hatte: etwa die Vorliebe zum leicht verdienten "schnellen Geld". Denn von den Clanstrukturen hatte man gelernt, dass Geld nicht verdient, sondern verteilt wird. Hinzu kam die Struktur der nationalistischen Bewegung, in der die "militärische" Struktur fast immer die politischen, legalen Vorfeldorganisationen dominierte. Die nationalistischen Parteien wie beispielsweise A Cuncolta indipentista (Sammlung für die Unabhängigkeit), dienten nur als "Schaufenster" für den FLNC.

Konkurrenz der Waffen

Eine der Hauptsorgen aller illegalen und bewaffneten Bewegungen auf der Welt ist die Geld- und Materialbeschaffung. Im FLNC wurde seit den frühen achtziger Jahren diese Beschäftigung zum wichtigsten Anliegen überhaupt. Die Kontakte aus gemeinsamen Haftzeiten sowie die Notwendigkeit, Waffen zu beschaffen, führten dazu, dass mit der Zeit die Verbindungen ins kriminelle und mafiöse Milieu zunahmen, auch wenn zugleich große Rivalitäten zwischen diesen Gruppen bestanden. In den neunziger Jahren begannen die Nationalisten schließlich, sich untereinander zu bekämpfen. Der FLNC teilte sich in mehrere Gruppen auf, deren wichtigste der Canal habituel und der Canal historique waren. Der von 199" bis 1996 dauernde "Bruderkrieg" hat mehr Tote verursacht als die terroristischen Aktionen gegen den Staat. Neun Staatsbeamte starben seit 1975 durch die Hand korsischer Nationalisten, doch über "0 Angehörige der Bewegung wurden zwischen 1991 und 2001 von rivalisierenden Nationalisten getötet.

Der am 7. August 2000 erschossene Jean-Michel Rossi, früher eine Art Chefideologe des FLNC, hatte im Laufe der letzten Jahre diese Strukturen kritisiert. In seinem letzten Interview, das er wenige Tage vor seinem Tod führte, erklärte Rossi unter anderem: "Was die Basis der illegalen Bewegung angeht, so ist das, was sie im Wesentlichen ausmacht, das Fehlen jeglicher Politisierung. Bis auf wenige Ausnahmen besitzen die Aktivisten keinerlei theoretisches Gepäck, ja keinerlei Bildung. Die meisten rekrutieren sich aus einer Art Lumpenproletariat", das aus Erwerbslosen und einer subproletarischen, arbeitslosen Dorfbevölkerung bestehe. Rossi fuhr fort: "So ist es für die örtlichen Chefs einfach, sich eine unterwürfige Miliz heranzubilden."

Rossi bildete zusammen mit François Santoni, der anfänglich eher zu den Militaristen des FLNC gehörte, ab Ende der neunziger Jahre eine Art Erneuererfraktion innerhalb des korsischen Nationalismus. Sie sprachen sich öffentlich dafür aus, endlich eine ernst zu nehmende politische Bewegung zu organisieren. Die Gründe dafür sind nicht nur hehrer intellektueller Natur. Während François Santoni von Ende 1996 bis Ende 1998 in Paris wegen eines Erpressungsfalls in Untersuchungshaft saß, hatte ihn sein Führungskollege bei der FLNC-Abspaltung Canal historique, Charles Pieri, innerhalb der Organisation seiner Führungspositionen beraubt. Hinzu kam noch verschärfend, dass Pieri seinem Rivalen dessen Freundin - Marie-Hélène Mattei, die prominente Anwältin aller korsischer Militanten - ausgespannt hatte. Santoni sah deswegen rot und prangerte öffentlich die "mafiöse Verkommenheit" der Bewegung an. Zugleich gründeten Rossi und Santoni im Juni 1999 eine neue bewaffnete Bewegung, Armata Corsa. Hausdurchsuchungen nach der Ermordung Santonis haben nach Polizeiangaben bewiesen, dass er - in jüngerer Zeit einer der prominentesten Nationalisten - zur Führung von Armata Corsa gehörte. Zugleich soll er an einer Reihe undurchsichtiger, halbmafiöser Geschäfte - vor allem in Afrika, wo korsische Clands führend im Geschäft sind - beteiligt gewesen sein.

Als erster der beiden "Dissidenten" musste Rossi sterben. Er wurde am 7. August 2000 in einer Bar im nordkorsischen L'Ile-Rousse erschossen. Wenige Wochen vor seinem Tod war das gemeinsame Buch "Pour solde de tout compte" (etwa: "Die Abrechnung") von Rossi und Santoni erschienen. Darin lässt sich als stellenweise amüsante, alles in allem aber niederschmetternde Story nachlesen, wie die nationalistische Bewegung sich im Lauf der Jahre in eine Vielzahl rivalisierender Gangstergruppen auflöste.

Schonungslos stellen die beiden dar, wie sich hinter vermeintlich politischen Spaltungen und Konflikten in Wahrheit alte Familien- und Clankonflikte, Streitigkeiten um die Wahrung der Ehre und persönliche Karrierepläne ohne jegliche ideologische Dimension verbergen. Auch der selbst ernannte Erneuerer des Nationalismus, Santoni, scheint tief in dubiose Geschäfte verstrickt gewesen zu sein. Was er den anderen Fraktionen des zersplitterten korsischen Nationalismus in den Jahren davor öffentlich vorgeworfen hatte, traf größtenteils auch auf ihn selbst zu. Armata Corsa konzentrierte ihren Kampf in der Folge darauf, die Verhaftung der Mörder Rossis und ihrer Auftraggeber zu fordern. Diese seien dem französischen Staat bekannt, der sie allein deswegen schütze, weil die Regierung den seit Dezember 1999 begonnen Verhandlungsprozess mit den Nationalisten nicht gefährden wolle. Das behauptete jedenfalls François Santoni, der lautstark seinen Widersacher Charles Pieri sowie Jean-Guy Talamoni, den wichtigsten korsischen Vertreter bei den Verhandlungen mit der Pariser Regierung, beschuldigte. Armata Corsa wurde zu Anfang dieses Jahrzehnts von den französischen Sicherheitsbehörden als die momentan gefährlichste Organisation in Korsika betrachtet; mittlerweile scheint sie sich beruhigt zu haben. Sie nahm nicht am Verhandlungsprozess teil, weil sie seit Ende 1999 innerhalb des korsischen Nationalismus eher am Rande stand - versuchte aber, den französischen Staat zu erpressen, damit dieser energischer gegen ihre Widersacher in den Reihen der korsischen Nationalisten vorgehe. Im März 2001 stellte Armata Corsa ein mit Sprengstoff gefülltes Auto im 15. Pariser Bezirk ab, um ihre Forderung nach einer Verhaftung der Verantwortlichen zu unterstreichen.

Am 17. August 2001 wurde auch François Santoni im südkorsischen Monacia d'Aullène ermordet. In den darauf folgenden Tagen wurden weitere Mitglieder von Armata Corsa bzw. ihrer legalen Vorfeldorganisation Presenza Naziunalam getötet. Um sich nicht Untätigkeit vorwerfen lassen zu müssen, ging die französische Anti-Terror-Justiz den Hinweisen Santonis nach und verhaftete am 22. und 2". September jenes Jahres neun Angehörige des Mehrheitsblocks der korsischen Nationalisten. Dabei folgten die Polizei und die Justiz den sehr direkten Hinweisen, die Santoni vor seinem Tod auf die angeblichen Mörder Rossis gegeben hatte.

Doch die vorübergehenden Festnahmen ergaben nichts. Santonis Anschuldigungen schienen sich auf bloße Vermutungen zu reduzieren. Die parlamentarische Koalition Corsica Nazione - politischer Arm der Nationalisten - beschloss am 26. September 2001, ihre Unterstützung des Abkommens mit der Pariser Regierung vorerst "auszusetzen". Das war Theaterdonner sein, erlaubte den nationalistischen Verhandlungsleitern aber zugleich, sich vor ihrer Basis als radikale Wortführer zu legitimieren.

Die "Erneuerer"-Fraktion Armata Corsa kämpfte damit in erster Linie dafür, dass der vermeintliche Kolonialstaat ihre Widersacher in den eigenen Reihen abstraft - drastischer könnte man das Scheitern ihres politischen Projekts nicht zusammenfassen.

Seit den frühen neunziger Jahren waren alle Regierungsparteien in Paris zu der Auffassung gelangt, dass es keine Ruhe auf der Insel gebe, wenn man die Nationalisten nicht einbinde. Die Sozialdemokraten versuchten eine erste Annäherung in Form der Dezentralisierungsgesetze von 1982 und des Korsikastatuts des Innenminsters Pierre Joxe von 1991, zweier Maßnahmen, die aber auf der Insel von den Clans in den traditionellen Parteien zu ihren Gunsten genutzt wurden.

Die gaullistische Rechte machte den ersten Schritt auf die bewaffneten Nationalisten in der Illegalität zu. Anfang des Jahres 1996 waren die Verhandlungen bereits weit gediehen, die anfänglich der (bis Mitte 1995) amtierende Innenminister Charles Pasqua an führender Stelle eingefädelt hatte. Der Insel sollte der Status eines "Übersee-Territoriums" (vergleichbar mit den französischen Kolonien wie Guyana und Polynesien) mit weitgehenden Vollmachten übertragen werden. Auf einer nächtlichen Pressekonferenz im Januar 1996 in Tralonca sollten die Untergrundnationalisten die Niederlegung ihrer Waffen verkünden.

Doch das nächtliche Spektakel hatte den gegenteiligen Effekt. 600 schwer bewaffnete Kapuzenträger mit modernem Kriegsgerät posierten, in der Nacht vor dem Eintreffen des damligen Innenministers Jean-Louis Debré, vor den Fernsehkamaras und wirkten eher bedrohlich denn Vertrauen einflößend. Der rechte Premierminister Alain Juppé desavouierte seinen Innenminister und ließ den Pakt prompt platzen. In den folgenden Jahren setzten die Regierungen Juppé (bürgerlich) und Jospin (sozialdemokratisch) zunächst vor allem auf Repression gegen die bewaffneten Nationalisten. Das steigerte sich noch, nachdem Extremisten im Februar 1998 den Präfekten Claude Erignac - den ranghöchsten Repräsentanten des Staates auf der Insel - auf offener Straße erschossen hatten, was auch den Großteil der Inselbevölkerung gegen die Bewaffneten mobilisierte. Doch ein übereifriger Vertreter der repressiven Linie machte alle Erfolge des Staates zunichte.

Der Präfekt Bernard Bonnet, Nachfolger des ermordeten Erignac, versuchte Korsika mit radikalen Mitteln zu "normalisieren". Im Kampf gegen die allgegenwärtige Respektlosigkeit vor dem Gesetz - eine auf der Insel weit verbreitete Mentalität, wo selbst Sicherheitsgurte im Auto vielen als unakzeptable Freiheitsberaubung gelten - versuchte Bonnet selbstherrlich und autoritär voranzukommen. Selbst weit außerhalb der Legalität handelnd, ließ der Präfekt Bonnet illegal errichtete Strandrestaurants aus Holz im April 1999 kurzerhand nächtens abfackeln, was ihn prompt in die Untersuchungshaft brachte. Denn die Gendarmen, die in seinem Auftrag Feuer gelegt hatten, ließen Brandstiftermaterial und Funkgeräte praktischerweise gleich vor Ort zurück, als sie einen der Ihren mit Brandverletzungen ins Krankenhaus einliefern mussten was ihre Identifizierung ungemein erleichterte. (Bernard Bonnet hatte sich schon zuvor für eine Art von James Bond gehalten. Bereits als er vor seiner Station auf Korsika als Präfekt im südwestfranzösischen Perpignan residierte, war er auf rabiate Art und Weise gegen Umweltschützer in den Pyrenäen vorgangen. Die Brandstifter-Affäre trug Bonnet übrigens drei Jahre Haft ein, davon ein Jahr ohne Bewährung.)

Bereits zuvor hatte Bonnet die Inselbevölkerung gegen sich aufgebracht, da er ihr kollektiv Untreue gegenüber dem Gesetz und Subversion unterstellte. Das Ergebnis: Die korsischen Nationalisten errangen im März 1999 den größten Erfolg ihrer Geschichte bei den Regionalparlamentswahlen. Im ersten Wahlgang erhielten sie mehr als 2 Prozent der Stimmen. In der Folge der Bonnet-Affäre suchte die Regierung Jospin einen Ausweg aus den Schwierigkeiten zu finden, die Korsika bisher jeder Regierung in den letzten 25 Jahren bereitet hat, indem sie offene politische Verhandlungen mit dem politischen Arm der Nationalisten (statt, wie bisher, Geheimgespräche mit dem bewaffneten Arm) vorschlug. In der Zwischenzeit hatte sich in der korsischen Territorialversammlung eine neue Allianz aus dem rechten "Erneuerer" José Rossi (UMP), dem Präsidenten des Inselparlaments - der seit Beginn der neunziger Jahre den Pakt mit den korsischen Nationalisten propagiert hatte - und den nationalistischen Abgeordneten gebildet.

Zu diesem Bündnis gehören auch die Mehrheit der Neogaullisten des RPR um Jean Baggioni (jetzt UMP), den derzeitigen Chef der Inselregierung, sowie die korsischen RPF-Parteigänger des Rechtspopulisten Charles Pasqua unter Robert Felicciaggi - unbeschadet der patriotischen Rhetorik, mit der die beiden Parteien in Paris gegen das Abkommen wetterten. Ihre gemeinsame Absicht bestand darin, das auf mehr oder minder mafiöse Art erwirtschaftete Geld künftig in einer Art Freihandelszone in Korsika zu investieren. Dabei handelt es sich um Erlöse der von den Nationalisten eingetriebenen bzw. erpressten "revolutionären Steuer", sowie um Profite, die mit mafiösen Aktivitäten korsischer Clans auf dem Festland und besonders von den Mitgliedern des Pasqua-Clans mit zwielichtigen Geschäften in Afrika erzielt wurden.

Ethno-Lobby im Hintergrund?

Vor dem Hintergrund des anvisierten Strategiewechsels des französischen Staates auf Korsika machte sich auch der Einfluss des Europäischen Zentrums für Minderheitenfragen (EZM) in Flensburg bemerkbar. Das Zentrum, das 1996/97 gegründet und vor allem von deutschen Politikern gefördert wurde, dient der Förderung regionaler oder ethnisch definierter Minderheiten und so genannter Volksgruppen.

Nach Informationen des Réseau Voltaire (ein Netzwerk von Investigativjournalisten, das sich allerdings stark verkleinert hat, nachdem sein faktischer Chef Thierry Meyssan im vorigen Jahr einen kapitalen Bock geschossen und wüste Verschwörungstheorien zu den Attentaten des 11. September in die Welt gesetzthat) fand vom 25. bis zum "0. August 1998 in Marieham, Finnland, ein Seminar des EMZ statt. Das harmlos klingende Thema lautete: "Inselregionen und europäische Integration - Ein Vergleich zwischen Korsika und den Aaland-Inseln". Wie das Réseau Voltaire in einer Publikation erläutert, handelte es sich jedoch tatsächlich um eine "paradiplomatische Initiative Deutschlands und Dänemarks", die darauf abzielte, in unverdächtigem Rahmen Kontakte zwischen Vertretern der korsischen Nationalisten und des französischen Staates anzubahnen.

Die Pariser Regierung wurde dabei vom sozialdemokratischen Ex-Innenminister Pierre Joxe vertreten, aus Korsika waren unter anderem der nationalistische Anwalt Jean-Guy Talamoni (der spätere Führer der Verhandlungen mit der Regierung Jospin), aber auch der gaullistische RPR-Politiker Paul Giacobbi angereist.

Der Sonntagszeitung JDD, die von der Sache Wind bekam und den Teilnehmer Pierre Joxe befragte, erklärte Ex-Minister Anfang September 1999, er habe sich nur privat im Urlaub an dem finnischen Ort aufgehalten; er konnte aber nicht erklären, warum der französische Botschafter in Helsinki an seiner Seite war. Das deutet darauf hin, dass es zu diesem Zeitpunkt um heikle Verhandlungen ging, die damals parallel zur repressiven Politik des französischen Staates auf Korsika eingeleitet wurden. Vermutlich machte das blamable Scheitern der Politik des Präfekten Bonnet, den der damalige Innenminister Chevènement uneingeschränkt unterstützt hatte, definitiv den Weg für eine andere Strategie frei.

Diese Episode belegt allerdings nicht die Interpretationen mancher sich als anti-deutsch verstehender Autoren, wonach sich die Entwicklung auf Korsika auf einer gigantischen Verschwörung der Berliner Politik gegen den französischen Staat ableiten lässt. Die französische Korsikapolitik ist in erster Linie nicht aus einem von außen kommenden Komplott, sondern durch die innere Dynamik der gesellschaftlichen Widersprüche vor Ort zu erklären. Dennoch ist festzuhalten, dass das EMZ zweifelos versuchte, den französischen Staat im Sinne einer ethnischen Regionalisierung des europäischen Raums zu beeinflussen. Insofern kann ein Ergebnis der Autonomieverhandlungen auch als Erfolg des EMZ verbucht werden. 

Unpopulärer Befreiungskampf 

Nur 14 Prozent der befragten korsischen Einwohner befürworteten in einer Umfrage des CSA-Instituts, die am 11. August 2001 von der Pariser Tageszeitung “Libération" veröffentlicht wurde, die Forderung nach Unabhängigkeit von Frankreich. Drei Prozent sind demnach mit dieser Idee "voll einverstanden", elf Prozent "mehr oder weniger einverstanden". Hingegen äußern sich 84 Prozent ablehnend. Dabei handelt es sich nicht um einen vorübergehenden Trend. In allen Umfragen der Neunziger Jahre lehnten 80 bis 90 Prozent der Befragten die Unabhängigkeit Korsikas ab. Interessant ist, dass im August 2001 fast 46 Prozent der Festland-Franzosen für die Unabhängigkeit der Mittelmeerinsel waren. Sie scheinen damit sinngemäß dem liberalen Ex-Premierminister Raymond Barre zu folgen, der im Frühjahr 1996 erklärt hatte, man habe die Schnauze voll von den Ansprüchen der Korsen. "Wenn sie ihre Unabhängigkeit wollen, dann sollen sie sie nehmen - und sehen, was sie davon haben", erklärte er. Schließlich, so eine verbreitete Einstellung, koste die Insel den französischen Staat nur Geld.

Eine vorläufige Bilanz

Das Abkommen zwischen dem französischen Staat und einer Allianz von politischen Kräften auf der Insel, die von den Nationalisten über den ultraliberalen "Erneuerer" José Rossi bis zu Teilen der konservativen Rechten geht, ist zwar im Hinblick auf seine Ziele und seine Funktion als mögliches Experimentierfeld für andere Regionen bedenklich. Doch bei dem Abkommen handelt es sich nicht um eine Kapitulation des französischen Staates vor einem übermächtigen korsischen Nationalismus, wie das vor allem die Anhänger Chevènements und Pasquas glauben machen wollen.

Die korsischen Nationalisten befinden sich vielmehr in einer strategischen Schwächeposition, zumal ihr eigenes politisches Projekt restlos gescheitert ist. Sie wurden von den negativen Zügen des bestehenden Clansystems eingeholt, die sie einst zu überwinden antraten. Auf längere Sicht verfügen die Nationalisten, die sich selbst während der neunziger Jahre bis aufs Messer bekämpft haben, über nicht viel mehr als ihre Fähigkeit, einen Störfaktor in der französischen Politik zu bilden. Nicht zu unterschätzen sind allerdings ihre guten Verbindungen zur EU. Nicht zufällig ist der Anwalt Jean-Guy Talamoni, der Fraktionsvorsitzende der nationalistischen Koalition Corsica Nazione im Regionalparlament von Ajaccio, zugleich Vorsitzender des “Ausschusses für europäische Angelegenheiten" im korsischen Regionalparlament. In dieser Eigenschaft verhandelt er in Brüssel und Strasbourg über die Zahlungen aus den EU-Strukturhilfefonds an die strukturschwache Region Korsika.

Und nicht zufällig lautete der Titel des im Jahr 2000 Jahr erschienenen Buches aus der Feder von Jean-Guy Talamoni: "Une ambition européenne pour la Corse" ("Eine europäische Ambition für Korsika"). Das Vorwort hat der Europaparlamentarier und kurzlebige Ex-Präsidentschaftskandidat der Grünen, Alain Lipietz, verfasst “kurzlebig" deswegen, weil Lipietz (der der Parteilinken zugerechnet wird) nach nur zwei Monaten als offizieller Kandidat der Ökopartei abgesägt und durch den Realo-Politiker Noël Mamère ersetzt wurde. Dazu trugen eine Reihe von Faktoren bei, u.a. Lipietz persönliche Arroganz - aber auch der Bock, den er im August 2001 geschossen hatte, als er (ohne Absprache mit ParteikollegInnen) eine Amnestierung korsischer bewaffneter Separatisten öffentlich befürwortet hatte. Das ist kein purer Zufall. Denn die grüne Partei bleibt mehrheitlich begeistert von der Perspektive eines "Europa der Regionen", von der sie sich eine progressive Überwindung des Nationalstaats verspricht. Im derzeitigen Kontext ist dies, betrachtet man die Pläne der herrschenden Eliten, gelinde ausgedrückt, Ausdruck politischer Naivität.

Tatsächlich übernimmt dabei die Ökopartei, ebenso wie die korsischen Nationalisten, lediglich die neoliberale Ideologie, die neben (oder auch statt) dem klassischen Nationalstaat weitere Regulierungsebenen bürgerlicher Politik - die EU "oberhalb" und regionale Einheiten "unterhalb" der nationalen Ebene aufwerten- will. Damit sollen bisherige institutionalisierte Kompromisse zwischen den Gesellschaftsklassen unterlaufen oder umgangen und die Standortkonkurrenz soll verschärft werden. Wenn die korsischen Nationalisten derzeit scheinbar einige ihrer Ziele erreicht haben, dann vor allem deswegen, weil starke konservative und neoliberale Kräfte sie in ein neuartiges Bündnis einbezogen haben. Ihr Ziel ist es, ein Laboratorium für künftige neue gesellschaftliche Regulationsformen zu schaffen, die ohne den ungeliebten "jakobinischen Zentralstaat" auskommen. Deswegen ist dieses Projekt entschieden zu bekämpfen.

Die gemeinsame Niederlage der Regierung und des politischen Arms der korsischen Nationalisten am 6. Juli 200" hat aber diesem Prozess einen gewaltigen Dämpfer versetzt. Innenminister Nicolas Sarkozy erklärte in den 24 Stunden nach dem Referendum bereits, die Debatte über “institutionelle Reformen" auf Korsika sei damit nunmehr “abgeschlossen" und vom Tisch.

Als “Labor" für eine allgemeinere Entwicklung scheidet Korsika damit wohl aus. Die Pläne von Regierungschef Raffarin für eine starke Regionalisierung der französischen Politik haben, mit den starken Widerständen gegen eine “Dezentralisierung" im öffentlichen Bildungswesen vom Frühjahr 200", ohnehin schon beträchtlichen Gegenwind erfahren. Für Schlagzeilen könnte Korsika freilich auch weiterhin sorgen durch Anschläge und (mehr oder minder) militaristische Folklore. Eine längerfristige politische Perspektive wird darin aber nur zu erkennen sein.

FUSSNOTE 1:

Das neoliberale Lager in Frankreich (vor allem ein Teil der bürgerlichen Parteien, die Arbeitgeberverbände und der Funktionärskader der sozialliberalen Gewerkschaft CFDT) hat sich in den letzten Jahren stark für “Dezentralisierung" erwärmen können, die von Premierminister Raffarin seit dem Jahr 2002 offiziell zum politischen Programm erhoben wurde. Es hat rein gar nichts mit der Idee von Demokratisierung und Abbau autoritärer Mechanismen zu tun, mit welcher noch die erste Dezentralisierungs-Phase von 1982 unter der damaligen Ägide des sozialistischen Präsidenten François Mitterrand zumindest in Worten noch verbunden war. Die starke Politisierung der sozialen Beziehungen in Frankreich (d.h. eine, im Vergleich etwa zur BRD, stärkere Rolle des Gesetzgebers als Regulator) stellte bisher eine Art gesellschaftlicher Mindestgarantie dar. Sie beruht nicht auf Staatsfetischismus, sondern im Gegenteil darauf, dass Entscheidungen der Zentralregierungen (in einem an soziale Konflikte gewöhnten Land wie Frankreich) einem immensen Rechtfertigungsdruck unterliegen. Und dass sie des öfteren Millionen von GegendemonstrantInnen, im ganzen Land gleichzeitig, auf den Asphalt bringen können. Diese Druckanfälligkeit politischer Entscheidungen ist der Grund dafür, dass das Arbeitgeber-Lager gern verstärkt "intermediäre" Regulierungsmethoden entwickeln würde, und etwa Verhandlungen unter "Sozialpartnern" (soweit diese auf technokratische und gebändigte Weise, und relativ konfliktarm ablaufen, wie es mit dem CFDT-Apparat möglich erscheint) an die Stelle bisheriger "politischer" Regulierungsmechanismen setzen würde. Daher rührt auch die derzeitige Vorliebe der Konservativ-Liberalen für die "Dezentralisierung". Es handelt sich beim einen wie beim anderen Phänomen von (vorgeblicher) "Entstaatlichung" mitnichten um eine Demokratisierung. Ganz im Gegenteil: Sozialen Widerstandspotenzialen sollen so die Angriffsflächen genommen werden. Das jakobinische Staatsmodell - mit seinem abstrakten Gleichheits-Versprechen, das es schon aufgrund seiner bürgerlich-revolutionären Herkunft einschließt - war der Reaktion in Frankreich im Herzen schon immer ein Gräuel! (Bereits im 19. Jahrhundert plädierte die äußerste Rechte dafür, die historischen "Provinzen" - aus der Zeit von vor 1789 anstelle der nach der Französischen Revolution geschaffenen Départements wieder einzurichten. Auf sozialer Ebene wollte sie zugleich "intermediäre Körperschaften" bilden, die an die alten Zünfte erinnert hätten. Das Vichy-Regime hat einen Teil dieser Konzepte umzusetzen versucht.)

Das macht die borniert etatistischen Vorstellungen einer bestimmten Opposition gegen diese neuere Entwicklung nicht gerade besser. Dennoch muss die Neuformatierung des politischen Raums als im Kern hochgefährliche Entwicklung betrachtet werden. Die Verlagerung von politische Herrschaft auf andere Ebene jene der EU, aber auch unterhalb des bisherigen Nationalstaats gelegene regionale Ebenen hat rein gar nichts mit der Verringerung gesellschaftlicher Dominanz zu tun. Im Gegenteil, es kann sie verstärken. In diese Richtung ist die Vorstellung eines “Europas der Region" im neoliberalen Rahmen zu interpretieren. Dass auch etwa die Grünen sich aus politischer Naivität heraus für solche Konzepte begeistern, als angeblich günstige Voraussetzung für Umwelt- und Bürgernähe, macht diese Entwicklung nicht besser, sondern gefährlicher.

Editorische Anmerkungen:

Der Autor stellte uns seinen Artikel in der vorliegenden Fassung am 14.7.2003 zur Veröffentlichung in dieser Ausgabe zur Verfügung.