Der blinde Fleck der israelischen Linken

von Matan Kaminer
7/8-06

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Seit dem Beginn meiner politischen Tage wusste ich, was falsch läuft in der israelischen Linken. Mein Wissen war keine einzigartige Begabung: fast alle von uns wissen, das grundlegende Problem der israelischen Linken die Trennung zwischen ihr und den arbeitenden Massen. "Überall auf der Welt", sagen wir uns, "unterstützen die Armen und die ArbeiterInnen die Linke. Nur hier in Israel unterstützen die armen Jüdinnen und Juden - die Misrachim (1) und die Russen - die Rechte, die sie immer wieder verarscht."

Dieses grundlegende Problem wurde schon unterschiedlich analysiert. Es gibt natürlich die überhebliche und rassistische Attitüde (die sich, außer wenn wir Radikale uns selbst täuschen wollen, nicht auf den zionistischen Teil der Linken beschränkt), die ausgeklügelte und verdrehte Formen findet, um zu sagen, dass die Armen blinde und indoktrinierte Wilde sind. Das Spiegelbild dieser Attitude ist die, der Linken selbst die Schuld an allem zu geben: Wir sind überhebliche Aschkenasim, warum sollen sie auf uns hören? An dieser Selbstkritik ist etwas Wahres dran, aber in ihrem Kern versteckt sich eine Annahme, die nicht weniger rassistisch ist, nämlich dass die einfachen Leute ihre Meinungen nicht aufgrund von Prinzipien oder Interessen bilden, wie rationelle Menschen das tun; sie unterstützten vielmehr Politiker, die wissen, wie man "ihre Sprache spricht", mit anderen Worten: ihnen schmeichelt und sie belügt.

Andere, vor allem in der radikalen Linken, kommen der Wahrheit ein Stück näher, wenn sie der israelischen Linken vorwerfen, "gar keine Linke" zu sein. Normalerweise meinen sie damit, dass die zionistische Linke nicht wirklich die Gleichheit zwischen Juden/Jüdinnen und Araber/innen fordert, und nicht wirklich sozialistisch oder überhaupt sozialdemokratisch ist (obwohl sie oft so tun). Diese Kritik ist korrekt, aber sie beantwortet zwei Fragen nicht: Warum gibt diese "Linke" sich die Mühe, sich so zu nennen? Und warum hat die echte, radikale Linke, für die diese Kritik nicht gilt, nicht mehr als gelegentliche und vorübergehende Erfolge im Proletariat?

Wir haben ein Werkzeug, um diese Fragen zu beantworten: Den historischen Materialismus, eine Herangehensweise, die historische Phänomene als primär durch materielle Interessen bedingt sieht, und nicht durch Ideen, Gebräuche, Vorurteile oder Kultur. Doch erstaunlicherweise bieten selbst die Hardliner-Materialisten der israelischen Linken, die Marxisten, normalerweise keine materialistische Analyse des Verhältnisses zwischen der israelischen Linken und dem jüdisch-israelischen Proletariat. Warum? Haben wir Angst vor den Antworten, die wir finden werden?

In seinem Artikel "Profits or Glory" (2) liefert Yoav Peled eine materialistische Arbeit. Er lehnt die konventionellen, idealistischen (3) Erklärungen ab, die die Unterstützung der Misrachim für die Rechte entweder durch deren Wunsch erklären, sich für die "Beleidigung", die ihnen MAPAI (4) in den 50ern zugefügt hat, zu "rächen" oder "zu ihren jüdischen Wurzeln zurückzukehren", oder auch durch ihre "genauen Kenntnisse über die AraberInnen". Wenn israelische ArbeiterInnen, in der Mehrheit, die rassistischsten, rechtesten, bösesten Politiker unterstützen, müssen sie wohl ein Interesse daran haben.

Der Gedanke hat etwas Schreckliches an sich, für die radikale Linke mehr als für sein zionistisches Gegenstück. Liegen wir komplett falsch mit unserer Losung, "Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" ? Sind die Interessen der jüdischen Massen nicht identisch mit denen der arabischen Massen? Könnte die Kluft zwischen "Jüdischen AraberInnen" (5) und "arabischen AraberInnen" - eine Kluft, die die aschkenazische radikale Linke oft als oberflächlich betrachtet -, viel tiefer sein, als wir glauben möchten?

Die Antwort ist ja. Unser ersehnter Frieden wäre ein Disaster für das jüdische Proletariat. Der einzige Grund, warum diese ArbeiterInnen nicht unter ähnlichen Bedingungen leben wie ihre KlassengenossInnen in Kufr Manda (6), Marrakech, Novosibirsk oder Bagdad ist der, dass sie Juden/Jüdinnen sind. Und so sehr ihre Lebensbedingungen sich in den letzten Jahren auch verschlechtert haben (und das haben sie sich, drastisch), dieses Privileg ist nach wie vor bedeutend. Woher kommt dieses Privileg? Ist es Produkt einer jüdischen Gesellschaft der Solidarität, die ihre ärmsten Mitglieder an erste Stelle stellt?

Natürlich nicht. Israel ist eine kapitalistische Gesellschaft, wenn auch keine typische. Die israelische Wirtschaft basiert auf und wird finanziert durch die Besatzung und ihre Rolle als Vorhut des Imperialismus im Nahen Osten. Ein paar Einzelstatistiken, um diesen Punkt zu beweisen: Der einzige Sektor der israelischen Wirtschaft, der zur Jahrtausendwende neue Arbeitsplätze schaffen konnte, war die Sicherheit; 40% der Drusen (7) arbeiten im Sicherheitssektor (öffentlich und privat).

Die israelische Bourgeoisie und ihr Schirmherr, die globale Bourgeoisie, sind gezwungen, dem jüdischen Proletariat einen Bonus zu gönnen, damit es vom ewigen Krieg, zu dem es einberufen wurde, nicht desertiert. Dieser Bonus hat kulturelle Aspekte, denen die Linke viele Aufmerksamkeit geschenkt hat (etwa die nationalen Symbole und der Status der Judaismus als Staatsreligion). Aber wichtiger ist der wirtschaftliche Aspekt, der sich zum Beispiel ausdrückt in der Diskrimierung auf dem Arbeitsmarkt und in der Karriereleiter in der Armee (was mehrere Misrachim zu obersten Stellen in der Regierung geführt hat). Jüdische ArbeiterInnen sind die Nutznießer der legalen Diskrimierung, welche Veteranen begünstigt bei Sozialleistungen und Wohnungen (8), sowie des staatlich unterstützten Lifestyles der Siedlungen in den besetzten Gebieten und anderen Orten, die nur für Juden/Jüdinnen sind.

Nun gibt es andere Teile der israelischen Bourgeoisie, die einen palästinensischen Staat und zivile Gleichheit in Israel unterstützen (manche von ihnen wie der Ha'aretz-Herausgeber Amos Shocken sind ziemlich radikal dabei). Sie handeln auch aus Eigeninteresse. Ihr Interesse besteht darin, die (wenigen) Privilegien zu zerstören, die das jüdische Proletariat geniesst, für die sie viel bezahlen müssen. Diese Teile, geführt vom "Sozialdemokraten" Yossi Beilin und anderen, stehen momentan nicht an der Spitze – wahrscheinlich wegen der bedingungslosen Unterstützung, die die US-Regierung in letzter Zeit den Falken der israelischen Bourgeoisie angedeihen lässt. In diesem Kampf zwischen zwei Sektoren der Bourgeoisie (der einzig mögliche Kampf in einer liberalen Demokratie) unterstützt das jüdische Proletariat diejenigen, die es etwas weniger verarschen.

Heißt das also, dass unsere Anerkennung von Marx' philosophischem Erbe - dem historischen Materialismus - uns zur Ablehnung seines politischen Slogans, "Proletarier aller Länder, vereinigt euch", zwingt? Ich glaube nicht. Es ist nun lange her, seitdem Lenin die Notwendigkeit begriff, "unterdrückte Völker" zu diesem Slogan hinzuzufügen. Die Bourgeoisie ist leider nicht dumm. Sie versteht sehr gut, dass sie Ressourcen aufbringen muss, um das System durch die Schaffung von Mittelschichten auf nationaler Ebene zu stabilisieren. Doch die grundlegende Dynamik des Kapitalismus liegt außerhalb der Kontrolle der Bourgeoisie, und eben diese Dynamik erodiert das Fundament der Pyramide und schafft instabile und gefährliche Situationen.

Der Kapitalismus braucht kurzfristige Profite. Diese fallen aber tendenziell. Gruppen der Bourgeoisie, die nicht bereit sind, Risiken einzugehen und Kosten zu sparen (auch die Kosten der stabilisierenden sozialen Bestechungen) werden früher oder später zur Seite geschoben durch abenteuerlichere Gruppen. In der heutige Welt regiert der abenteuerliche Teil der US-Bourgeoisie. Dieser unterstützt sein israelisches Gegenstück; aber diese Bourgeoisie, in einer interessanten Umkehrung, hat tatsächlich ein Interesse daran, die lokale Pyramide der Klassenbestechung aufzustocken, was für den fortgesetzten Kriegszustand in unserer kleinen Gemeinschaft entscheidend ist. Das internationale Fundament der Pyramide wird ausgehöhlt, was die Aufrechterhaltung des jüdisch-israelischen Fundaments erfordert.

Doch die Pyramide höhlt sich in unseren Teilen ebenfalls aus, schnell genug um die Wut der Unterschichten hervorzurufen. Peled argumentiert, der Staat entschädigt die Bourgeoisie für den Mangel an Friedensgewinnen durch Kürzungen der Sozialausgaben und Umverteilung des Reichtums zugunsten der Reichen. Das jüdische Proletariat erkennt die sich verschlechternde Situation und weiß, wer daran Schuld ist: die linke Bourgeoisie, die sein Blut saugen darf als Gegenleistung dafür, dass man keinen Frieden bekommt. Hier haben wir ein Albtraumszenario: die jüdischen Armen erkennen, dass Scharon sie verlassen hat (das Wort "Verräter" klingt relevanter als je zuvor) und gehen in Scharen zur extremen Rechten über. Doch die extreme Rechte gefährdet direkt die fundamentalsten Interessen der israelischen Bourgeoisie, deshalb wird sie nie an die Macht kommen (bzw. wird an die Macht kommen, und sofort in eine moderate Rechte verwandelt werden). Das jüdische Proletariat ist gefangen: So lange es die Strategie wählt, für das Weiterbestehen seiner ethnischen Privilegien zu kämpfen, hat es keine andere Wahl als sich mit der lokalen und globalen Bourgeoisie zu verbünden, die die Waffen für den Krieg liefert.

Und was ist mit uns? Was ist mit uns Linken, die die Besatzung ablehnen und zivile, aber auch wirtschaftliche Gleichheit fordern, und uns selbst als "radikale Linke" bezeichnen? Wer sind wir und was ist unser Interesse? Trotz unseres öffentlichen Image sind wir meistens keine reichen Leute. Wir sind sicher nicht "bürgerlich" im marxistischen Sinn (obwohl das Wort, wie es in der israelischen Kultur verwendet wird, uns ganz gut beschreibt (9)). Nichtsdestotrotz, die Juden/Jüdinnen unter uns (und, in geringerem Maß, die AraberInnen ebenfalls) sind auch keine ProletarierInnen. Unsere Zahlen sind am höchsten in spezifischen Sektoren der Mittelschichten, vor allem in den Berufen, die eine breite Bildung erfordern (Jura, Journalismus, Literatur). Eine hohe Konzentration von Linksradikalen lässt sich dort finden, wo uns jeder Materialist erwarten würde, wo wir von unseren Prinzipien leben können, in Nichtregierungsorganisationen. Andere Konzentrationen von Linksradikalen lassen sich in Bereichen mit hoher internationaler Mobilität finden, in Bereichen also, wo man sich eher dem internationalen Konsens als dem lokalen anpassen soll (AkademikerInnen sind hierfür das beste Beispiel). Eine Minderheit innerhalb unserer Minderheit stellen diejenigen dar, die "nichts zu verlieren haben", die Deklassierten, die aus ihren Gemeinschaften hinausgeschmissen wurden (etwa Queer-Leute aus religiösen Gemeinschaften) und eine neue, pluralistische Heimat in der radikalen Linken gefunden haben.

Die Klassenzusammensetzung der radikalen Linken ist ein Thema, über das wir nicht gerne reden. Vielleicht ist das der Grund, dass wir uns selbst fantasierend als "freie Subjekte" betrachten. Andere mögen nach ihren Interessen handeln - aber wir sind von unserer Moral geführt! Wir geben ungern zu, dass, obwohl wir vielleicht moralischer sind als andere, wir das nicht sind wegen irgendeiner uns eigenen, wesentlichen Qualität, sondern wegen unserer sozialen Stellung.

Wollen wir effektiv sein, dann kommen wir nicht um diese Diskussion herum. Die anderen Schwierigkeiten, die wir bei der Kontaktaufnahme mit dem Proletariat haben, werden verschlimmert durch die Klassenteilung, die uns tiefer trennt als die ethnischen Unterschiede. Es kann sein, dass wir "zu den Massen gehen" müssen, wie Radikale der Mittelschichten es an anderen Orten, zu anderen Zeiten gemacht haben. Doch solche Aktivität kann auch das Ergebnis externer Prozesse sein, die im Moment nicht vorhanden sind. Sicher wollen die meisten von uns nicht auf Studium und Karriere verzichten, um in Mitzpeh Ramon (10) zu leben, für den Lebensunterhalt Fussböden zu wischen und die Arbeiterklasse zu organisieren.

In diesem Fall, sollten wir aufgeben, nach Hause gehen, emigrieren, uns terroristischen Organisationen anschliessen? Sollen wir unser Zelt im Lager der anständigeren Teile der lokalen Bourgeoisie aufstellen? Ich habe vielleicht keinen allzu guten Grund, diese Vorschläge abzulehnen. Ich bin kein Pessimist, nicht weil ich irgendwelche "objektiven" Beweise habe, die mich zum Optimismus führen, sondern weil ich weiß, dass der Pessimismus der Radikalen ein Geschenk an unsere Feinde ist. Der revolutionäre Optimismus ist keine Blindheit gegenüber der deprimierenden Realität, sondern die ständige Suche nach Brüchen und Rissen, so klein sie auch sein mögen, die sich öffnen und zum revolutionären Wandel führen können.

Diese Risse existieren tatsächlich. Um sie zu finden, müssen wir uns klar werden, dass Interessen keine absoluten, unveränderlichen Fakten darstellen. Wir haben bereits gesehen, wie die Bourgeoisie ex nihilo ein Interesse unter einer Gruppe von ArbeiterInnen schaffen konnte, eine andere Gruppe von ArbeiterInnen zu töten; und wir haben den inhärenten Widerspruch in diesem Interesse auch gesehen. Individuen und Gruppe mögen widerstreitende, widersprüchliche Interessen haben, die nebeneinander existieren, wie wir es alle aus dem Alltag kennen. In einer Gesellschaft, die derartig mit Widersprüchen geprägt ist wie der Kapitalismus, hat jede/r mindestens ein paar widerstreitende Interessen: Einerseits würde jede/r von uns von der Abschaffung eines Systems profitieren, das zur Zerstörung der Menschheit innerhalb unserer Lebenszeit führen könnte; anderseits könnten die repressiven Mittel, die diesem System zur Verfügung stehen, uns leicht töten, wenn wir uns widersetzen, oder zumindest unser Leben sofort in eine Hölle verwandeln.

Es gibt unterschiedliche Arten von Interessen: langfristige und kurzfristige, offene und verstecke, vorübergehende und notwendigere. Das System, das unser Leben kontrolliert, betont spezifische Interessen und bedeckt andere, wie ein Spielfeld, das durch Linien geteilt ist. Die Menschen, die das System kontrollieren, zeichnen diese Linien, und sie zeichnen sie auf einer Art, die für sie vorteilhaft ist, abgesehen von bestimmten Grenzen, die sie nicht kontrollieren können. Doch ihr Feld ist nicht ewig, und wenn seine Linien in starken Widerspruch mit den Interessen anderer oder mit diesen Grenzen geraten, kann das ganze Spielfeld in sich zusammenbrechen.

Die Interessen, die ich an dieser Stelle beschrieben habe, sind nicht die einzigen Interessen der jüdischen Arbeiterklasse in Israel. Es sind ihre Interessen, so lange sie in unserer ethno-liberaler Demokratie gefangen bleibt; es sind ihre Interessen gegenüber den wichtigen Spielern auf dem Feld, wie es heute definiert ist. Aber sie hat auch andere Interessen: Sie hat ein Interesse daran, die Tötungen, Verletzungen und mentalen Narben, die sie während Polizeioperationen in den besetzten Gebieten oder durch terroristische Angriffe bekommt, zu stoppen. Sie hat ein Interesse an Arbeit, die befriedigender, gesünder und produktiver ist als über den Reichtum anderer zu wachen. Die Misrachim-Mehrheit hat ein Interesse an einem Ende der Unterdrückung gegen die arabische Kultur ihrer Vorfahren. Die russiche Mehrheit hat - ein Teil davon ist nicht jüdisch nach religiösem Gesetz - ein Interesse an ziviler Gleichheit. Die gesamte Klasse hat ein Interesse daran, sich nicht um die falsche Flagge der Nation sondern um die echte Flagge der Klasse zu sammeln. Auf lange Sicht hat diese Klsse ein Interesse daran, Israels gefährlichen Status als imperialistischen Keil im Nahen Osten zu ändern, um sich mit ihren arabischen Geschwistern zusmmenzutun, in einer Revolution gegen den Kapitalismus und die Kriege des Kapitals.

Diese Interessen sind weniger unmittelbar und materiell wie das Gefühl, dass eine Misrachi-Teenagerin in Ha'aretz (11) beschreibt: "Ich bin froh, dass ich Jüdin bin, denn mein Jüdisch-Sein stellt mich auf die richtige Seite ... ich bin froh, dass auf meinem Ausweis nicht "jüdische Araberin" steht, denn Araber zu sein ist schlimmer. Misrachi ist noch jüdisch, obwohl es Misrachim gibt wie Sand am Meer." Doch wenn wir weiterhin an der Tür der Arbeiterklasse klopfen, finden wir vielleicht manche ZuhörerInnen unter ihren weitsichtigsten Mitgliedern. Das haben wir in der Vergangenheit schon geschafft.

Unsere Stellung als radikale Israelis, die mit dem jüdischen Proletariat in Dialog kommen wollen, ist sehr schwierig, und deshalb ist unsere Zahl so gering. Doch unsere Haltung ist die einzige, die das langfristige, gemeinsame Interesse der meisten Menschen, die hier leben, vertritt – aus diesem Grund ist unser Weiterbestehen notwendig. Es ist wichtig, dass wir verstehen, welche unserer Interessen uns daran hindern, stärkere Bindungen zum jüdischen Proletariat zu schaffen, und es ist wichtig, das wir es trotz alledem weiter versuchen. Es ist wichtig, dass wir weiter Wissen sammeln und schaffen bis zum dem Moment - der vielleicht tatsächlich nie kommen wird – in dem unsere Hilfe unerlässlich wird.



Nachwort, Mai 2006

Die Zukunft wird zeigen, ob die Wahlen im März 2006 einen Wendepunkt oder einen Zufall darstellen. Die Wahlbeteiligung war die niedrigste in der Geschichte, doch auf der anderen Seite scheint es eine qualitative Änderung gegeben zu haben. Fragen, die mit dem Konflikt zu tun haben, haben die israelische Wahlpolitik immer dominiert, aber nun haben Parteien, die ihre Kampagnen auf soziale Fragen konzentrierten - d.h. die Parteien, die behaupten, sich neoliberaler Politik zu widersetzen - unerwartet gut abgeschnitten. (12) Es wird sich zeigen, ob das einen Einfluss auf die herrschende Koalition hat, aber es könnte Zeichen eines Wandels sein in der Machtbilanz zwischen den Partnern im historischen Block, der Israel regiert, formiert aus der lokalen Bourgeoisie und Mittelschichten, dem militärischen Establishment und der jüdischen Arbeiterklasse. Die Arbeiterklasse und die Mittelschichten haben vielleicht, durch ihre Stimmen, der Erosion der Sozialsysteme ein Ende gesetzt. Durch das weitere Fehlen eines "Friedensgewinns" ist es unklar, woher die Bourgeoisie ihre Profite bekommen wird. Bezogen auf die Risse, nach denen RevolutionärInnen suchen müssen, ist diese Situation ermutigend, denn es bedeutet die Destabilisierung dieses historischen Blocks.




Fussnoten:

1) Masrachim (wörtlich: "Östliche") sind Juden/Jüdinnen, deren Familienherkunft aus dem Nahen Osten ist. Aschkenazim (wörtliche: "Deutsche") sind Juden/Jüdinnen europäischer Herkunft, aber neue EinwandererInnen aus der ehemaligen Sowjetunion werden in der Regel kollektiv als "Russen" bezeichnet und gehören nicht zu den Aschkenazim.

2) New Left Review 29, September-Oktober 2004

3) Im philosopischen Sinn, also "nicht materialistisch"

4) Die Arbeiterpartei des Landes Israel, hegemonisch in der israelischen Gesellschaft bis 1977; der direkte Vorgänger der heutigen Labor-Partei.

5) d.h. Misrachim, deren Vorfahren in arabischen Ländern sich als "jüdische AraberInnen" verstanden haben, die neben christlichen und muslimischen AraberInnen gewohnt haben - zumindest laut Theorien, die in der israelischen Linken modisch sind.

6) ein palästinensisches Dorf in Israel.

7) Mitglieder einer einheimischen religiös-ethnische Gemeinschaft, die in die israelische Armee einbezogen wird seit den 50er Jahren und eine Zwischenposition zwischen Juden/Jüdinnen und AraberInnen innehat. Entsprechend gelten meine Argumente übr die jüdische Arbeiterklasse zum Teil auch für die Drusen Israels.

8) Menschen, die aus religiösen Gründen nicht einbezogen werden (d.h. Juden/Jüdinnen) können auch viele dieser Leistungen beziehen.

9) Z.B. das populäre und sozialkristische Fernsehdrama in Israel "HaBurganim" ("Der Bürgerliche") erzählt von den Leben einer Familie, die jede/r MarxistIn zweifellos den unteren Mittelschichten zurechnen würde.

10) Ein armes Industriedorf im Süden Israels, Heimat der alleinerziehende Mutter und soziale Aktivistin Viki Knafo.

11) Ha'aretz Wochenendbeilage, 5. Oktober 2005

12) Interessanterweise sind es vielleicht die Mittelschichten, die die Bilanz gekippt haben. Shinui ("Veränderung"), eine rein neoliberale Partei, ist komplett verschwunden, ersetzt durch die nicht-neoliberale, neue Rentnerpartei, die 7 Sitze bekommen hat. Vielleicht ist es die zunehmende Präkarität dieser Klasse, die den Wandel provoziert hat.



Übersetzung aus dem Englischen: Wladek Flakin

Editorische Anmerkungen

Der Artikel erschien am 20.06.2006 bei Indymedia. Matan Kaminer ist ein junger Sozialist, aufgewachsen in den USA und Israel. Er war fast zwei Jahre im Knast, weil er den Kriegsdienst in der israelischen Armee verweigert hat.


Mehr über Matan siehe u.a.
http://www.connection-ev.de/aktion/kaminer.html
http://gruenhelme.de/index.php?s=articles/aktuelles&n=115